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"Der Weg nach Mekka"

Muhammad Asad war ein Grenzgänger zwischen der islamischen Welt und dem Westen: Weltreisender, Journalist, Linguist, Übersetzer, Sozialkritiker, Reformist, Diplomat, Politologe, Theologe. Was seinen Aktivitäten gemein ist, war sein Streben nach einem gegenseitigen Verständnis zwischen der islamischen Welt und dem Westen und seine intellektuelle Herangehensweise an den Islam.

Von Lewis Gropp | 10.02.2010
    In seiner Autobiografie "Der Weg nach Mekka" schildert Asad seinen ungewöhnlichen Lebensweg – von einer jüdischen Familie in Österreich-Ungarn zu einem der wichtigen islamischen Denker des 20. Jahrhunderts. Der im Original englische Band ist auch in Deutschland seit 1955 immer wieder neu aufgelegt worden – so auch jetzt im Düsseldorfer Patmos Verlag. Das Buch ist nicht nur in Hinblick auf die aktuellen Islam-Debatten interessant, so unser Rezensent Lewis Gropp, sondern auch als literarisches Werk eine kleine Sensation.

    Die Biografie von Muhammad Asad liest sich wie ein Roman von Alexandre Dumas. Es ist eine orientalische Saga voll von schier unglaublichen Abenteuern und Ereignissen. Alles beginnt in dem galizischen Lemberg; die Stadt zählt heute zur Ukraine, war damals aber Teil von Österreich-Ungarn. Hier kommt Muhammad Asad am 2. Juli 1900 als Leopold Weiss zur Welt. Ein Großteil seiner männlichen Vorfahren waren Rabbiner, so auch sein Großvater. Theologie und Philosophie interessieren den Heranwachsenden aber zunächst wenig. "Das, wonach es mich in meinem Innersten verlangte", schreibt Leopold Weiss, "unterschied sich nicht wesentlich von den Begehrnissen und Erwartungen anderer Knaben meines Alters: Tat und Bewegung und Abenteuer." Und so nimmt er im Alter von 14 Jahren Reißaus von der Schule und meldet sich in der Steiermark unter falschem Namen freiwillig zur Armee. Gerade noch rechtzeitig können ihn seine Eltern vor dem Ausflug ins Schlachtfeld zurückpfeifen.

    Nach seinem Schulabschluss geht Leopold Weiss zum Studium der Psychoanalyse nach Wien. "In der Tat berauschten die Freud'schen Ideen meinen jungen Geist wie starker Wein", schreibt Weiss, und so verbringt er zahllose Abende den Caféhäusern der Stadt, wo er mit angehaltenem Atem den Diskussionen von Alfred Adler und anderen Geistesgrößen lauscht. Doch die "geistige Arroganz" dieser jungen Wissenschaft, die sich anmaßt, den menschlichen Geist ergründen zu können, stößt den jungen Mann ab. Wenig später verschlägt es Weiss nach Berlin, wo er unter anderem als Drehbuchautor und als Hilfsregisseur für Friedrich Murnau arbeitet. Hier landet er auch seinen ersten Scoop als Journalist.

    Der junge Leopold Weiss ist ein Draufgänger und sinnenfroher Bohemien, der sich mit Dreistigkeit und Wagemut durchs Leben schlägt. Unter der Oberfläche eines bewegten Lebens begleitet ihn jedoch ein stetes 'Unbehagen in der Kultur'. In seinem 1954 verfassten Buch "Der Weg nach Mekka" beschreibt Weiss ein Europa zwischen zwei Weltkriegen, ein Europa, das – so Weiss – an seiner "seelischen Leere" leidet und "moralisch labil" ist. Trotz seines bewegten Lebens fühlt sich Weiss fehl am Platz. "Hinter der Fassade Ordnung und Organisation des Abendlandes herrscht ethisches Chaos", so sein Verdikt. In "Der Weg nach Mekka" schildert er sein Verlangen nach einer würdevollen, freien Menschlichkeit.

    Ein glückhaftes Unbefriedigtsein, so wie es nur ganz junge Menschen fühlen, und ein Verlangen, die Welt zu verändern und von Grund auf neu aufzubauen... Wie müsste die Gesellschaft beschaffen sein, damit die Menschen würdig und aus dem Vollen lebten? Wie müssten Ihre Beziehungen sich gestalten, damit sie durch die Einsamkeit brächen, die jeden umgab, und endlich, endlich zu wahrer Gemeinschaft gelangten?

    Wie es der Zufall will, erhält der junge Mann eine Einladung seines Onkels, "eines Schülers von Dr. Freud", der, wie es heißt, "in Jerusalem eine Irrenanstalt leitete". Hier lernt Leopold Weiss die arabische Beduinenkultur kennen und lieben. Weiss beschreibt ihre "freie Menschlichkeit" und ihre "stille stolze Bejahung der Wirklichkeit und des eigenen Lebens". Die Araber, so schwärmt er, seien "Menschen, die sich selber – und einander – und den einfachen Dingen des Lebens Verehrung entgegenbrachten".

    Ich stand im Mittelpunkt der Welt, weil ich im arabischen Leben so stark wie nirgends sonst und nie zuvor die Wirklichkeit rauschen hörte. (...) Ich stand Angesicht zu Angesicht einem mir gänzlich neuen Lebensgefühl gegenüber. Ein warmer menschlicher Hauch schien aus dem Blute des arabischen Menschen in ihre Gedanken und Gebärden zu strömen; da war nichts von jenen schmerzhaften Seelenspaltungen zu sehen, jenen Gespenstern der Angst, Gier und innerer Verdrängung, die das europäische Leben so hässlich und hoffnungsarm machten. In den Arabern begann sich mir etwas zu offenbaren, wonach ich immer unbewusst gesucht hatte: eine gefühlsmäßige Unmittelbarkeit in allem Erleben, eine instinktive Offenheit für alle Fragen des Daseins – eine Vernunft des Herzens, möchte man beinah sagen.

    Die Leidenschaft ist entfacht, Leopold Weiss konvertiert zum Islam, nennt sich von nun Muhammad Asad, und so reist er durch die ganze arabische Welt, nahezu den gesamten Orient erkundet er. Nebenbei avanciert er innerhalb kürzester Zeit zu einem der renommiertesten Nahostkorrespondenten im deutschsprachigen Raum. Für mehrere Jahre lässt sich Asad dann in Saudi Arabien nieder; hier wird er zum engen Vertrauten und persönlichen Freund von König Ibn Saud. Dann geht er auf Einladung des Poeten und Philosophen Muhammad Iqbal nach Indien, wo er allerdings – als österreichischer Staatsbürger – von den Briten für die Dauer des Zweiten Weltkriegs in ein Internierungslager gesteckt wird. Schließlich bittet ihn Iqbal, an der Gründung Pakistans mitzuarbeiten, und so geschieht es: Asad beteiligt sich an den Entwürfen für die Verfassung der islamischen Republik. 1949 tritt er in den diplomatischen Dienst des Landes ein, dann geht er als erster UN-Botschafter Pakistans nach New York.

    In seiner zweiten Lebenshälfte widmet Asad sich verstärkt dem Schreiben und Publizieren. Er wird zu einem der bedeutendsten islamischen Autoren seiner Zeit; er verfasst Bücher und zahlreiche Essays über Weltbild, Recht und Philosophie des Islam. Sein Opus Magnum ist eine kommentierte englische Koranübersetzung. Obwohl der Koran Muslimen als das 'Wort Gottes' gilt und eine Übersetzung des Heiligen Buches in konservativen Kreisen sogar als ketzerisch gilt, hat dieses Werk für viele Muslime einen überragenden Stellenwert. Asads englischsprachiger Koran ist gleichzeitig eine Interpretation der heiligen islamischen Schrift; mehrdeutige Passagen legte Asad im Sinne der einer toleranteren Version des Islams aus – nach Asad war diese Arbeit nicht im Mindesten ein Reformprojekt. Im Gegenteil: Aus seiner Sicht erfüllte er damit die eigentliche Botschaft seiner Religion, die er aus den Quellen herleitete. Asads Koran ist bis heute der einzige, der seinerseits in andere Sprachen übersetzt wurde. Die erste deutsche Version wurde jetzt zeitgleich mit "Der Weg nach Mekka" beim Patmos Verlag veröffentlicht.

    Gegen Ende seines Lebens ist Asad indessen enttäuscht vom Zustand der islamischen Welt, von ihrer intellektuellen Abschottung und der Intoleranz der Extremisten. Er urteilt, dass "diese wunderbare Religion" – der Islam – seine Anhänger nicht verdient habe. Mit dem Erstarken des politischen Islamismus wurde seine tolerante Auslegung der Religion zunehmend unter ideologischen Beschuss genommen – so wurden einige seiner Schriften noch während seiner Zeit in Marokko öffentlich verbrannt; ein Grund für seinen Rückzug nach Europa. 1992 stirbt Muhammad Asad im spanischen Andalusien, der Region, die noch heute symbolisch für ein kulturell produktives Nebeneinander von Islam, Judentum und Christentum steht.

    "Der Weg nach Mekka" ist in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswertes Buch. Angesichts der aktuellen Islam-Debatten erscheint ein Aspekt besonders interessant. Der im Alter von 26 Jahren konvertierte junge Mann führt vor allem rational nachvollziehbare Argumente an, die ihn für den Islam begeisterten. Um mit Max Weber zu sprechen: Selbst "religiös unmusikalische" Leser werden eingestehen müssen, dass hier eine ganz ungewöhnliche Verbindung von kritischem, freien Denken und tief empfundener Religiosität vorliegt. So schreibt Asad über den Koran:

    Das menschliche Leben war positiv aufgefasst und bejaht. Nirgends im Koran konnte ich einen Hinweis auf die Notwendigkeit einer 'mystischen' Erlösung finden. (...) Seele und Körper erschienen in dieser Lehre als zwei Aspekte einer unverbrüchlichen Einheit (...) Bei all dieser Betonung des Weltlichen ließ aber der Koran den Gläubigen nie vergessen, dass das endgültige Ziel im Geistigen und Seelischen läge. Äußerliches Wohlergehen, so lehrte der Islam, sei wünschenswert, dürfe aber nie zum Endzweck werden; und deshalb müsse der Mensch seine – an sich berechtigten – Begierden zu beherrschen lernen und sie jeweils dem Richtspruch seines sittlichen Bewusstseins unterwerfen.

    Auch im direkten Vergleich mit den beiden anderen monotheistischen Religionen führt Asad rationale Argumente ins Feld: Am Christentum kritisiert er die Ablehnung des Körperlich-Sinnlichen; am Judentum stört ihn die Exklusivität, die Vorstellung vom auserwählten Volk, welche die Religion für andere Gruppen unzugänglich macht. Im Islam sieht Asad dagegen das Ideal einer freien, brüderlichen Menschlichkeit verwirklicht, die nicht dem Jenseits, sondern dem Weltlichen zugewandt ist.

    Dass und vor allem auf welche Weise Asad beschreibt, wie er über kritisches, freies Denken zum Glauben gefunden hat, macht seine Autobiografie zu einer anregenden Lektüre. Mit dem Plädoyer, dass eine jede Religion nur dann lebendig bleiben kann, wenn sie frei und eigenständig ihren Platz in ihrer jeweiligen Zeit findet, wird er zu einem Hermeneutiker des Islam. Dabei stellt sich Asad zum Beispiel gegen jahrhundertealte Überlieferungen der islamischen Rechtsschulen; stattdessen bemüht er die rationalistisch ausgerichtete Tradition der Mu'taziliten, die vom 8.-10. Jahrhundert vor allem in Basra und Bagdad ihre Blütezeit erlebte. So zeigt Muhammad Asad beispielhaft, wie man einen frei gelebten Glauben aus seinen Quellen heraus in der Gegenwart zum Leben erwecken kann. Eine Lektion nicht nur für Muslime, sondern für Anhänger aller Glaubensrichtungen.

    Neben diesen theologischen und kulturellen Fragen hat "Der Weg nach Mekka" allerdings noch sehr viel mehr zu bieten. Denn obwohl sich der geschilderte Zeitraum nur bis unmittelbar vor Asads Aufbruch nach Indien beschränkt, könnte man allein aus den Ereignissen eine Handvoll Abenteuerromane stricken. Das Buch liefert außerdem unendlich facettenreiche Einblicke in die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts: das Berlin der 20er-Jahre, der Zionismus in Palästina, die Briten in Saudi-Arabien, die Italiener in Libyen, das Ringen der persischen Nation um nationale Unabhängigkeit. Und immer mittendrin: der "Jüdische Lawrence von Arabien", als Boheme und bettelarmer, Sinn suchender Lebemann, als rasender Reporter, im Gespräch mit den Machthabern im Nahen Osten, als Agent im Feldeinsatz während die Kugeln über seinen Kopf hinwegzischen. Muslime, Historiker, Orientbegeisterte, Literaten, Freunde von Reiseliteratur, Abenteuerromanen und hochdramatischen Biografien werden ihre Freude an diesem wunderbaren Buch haben. Aufgrund des immensen intellektuellen Horizonts seines Autors und seiner – bisher kaum gewürdigten – meisterlichen Schreibkunst ist "Der Weg nach Mekka" überdies ein Werk von hohem literarischem Wert, das es zu entdecken gilt.

    Muhammad Asad: "Der Weg nach Mekka", Patmos Düsseldorf 2009, 448 Seiten, 24,90 Euro
    Muhammad Asad: "Die Botschaft des Koran", Übersetzung und Kommentar, Patmos Düsseldorf 2009, 1264 Seiten. Aus dem Englischen übertragen von Ahmad von Denffer und Yusuf Kuhn, 44,00 Euro