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Der weiße Rabe

Grigori Perelman hat die Poincaré-Vermutung bewiesen und damit ein Millenium-Problem gelöst. 2006 sollte er für diese Leistung die Fields-Medaille verliehen bekommen, den Nobelpreis der Mathematiker - aber er lehnte ab. Auch die Prämie von einer Million Dollar, die eine Stiftung für die Lösung des Problems ausgeschrieben hat, will er nicht haben. Seit er seinen Beweis publiziert hat, meidet er die Öffentlichkeit.

Von Jan Lublinski | 11.05.2008
    Im Jahr 1904 formulierte der große französische Denker Henri Poincaré eine mathematische Frage, die später zum Kernproblem einer ganzen Forschungsrichtung wurde: Die so genannte Poincaré-Vermutung. Seither hat es etwa 30 Fachpublikationen von angesehenen Mathematikern gegeben, die meinten, sie hätten eine Antwort auf Poincarés Frage. Doch in all diesen Argumentationen entdeckten andere Denkfehler. Erst knapp 100 Jahre nach Poincaré fand ein junger russischer Mathematiker einen Beweis, der inzwischen als wasserdicht gilt. Er stellte seinen Beweis ins Internet, hielt ein paar Vorträge, kündigte dann seine Stelle und zog sich ganz zurück.


    "Der weiße Rabe
    Auf der Suche nach Grigory Perelman
    Von Jan Lublinski

    "Weißer Rabe - heißt schwarzes Schaf. Der weiße Rabe sagt man auf Russisch, wenn jemand auffällig ist und sich von anderen unterscheidet. Das hängt von der Intonation ab. Das kann positiv und negativ sein.""

    Anfang August 2006 informierte der Weltverband der Mathematiker in einer Pressemitteilung darüber, wer die Fields-Medaille erhalten würde - die wichtigste Auszeichnung in der Welt der Mathematik.

    John Ball, Universität Oxford, Präsident der Internationalen Mathematiker-Vereinigung.

    "Es ist ein wenig wie bei den Oscars. Es ist schön, ein Geheimnis zu haben, das man dann bei einem großen Treffen lüftet. Ein wenig Theater. Die Leute mögen es so."

    Alle vier Preisträger hatten wichtige Beiträge zur Mathematik geleistet, einer aber stach heraus: Grigory Perelman. Er hatte es geschafft, sämtliche denkbaren 3-dimensionalen Räume zu sortieren und neu zu verstehen. Dabei hatte er sich auch mit der Oberfläche einer Kugel im vierdimensionalen Raum befasst, hatte imaginäre Schnüre auf diese Kugel gelegt und schließlich gezeigt, dass sich diese Schnüre auf einen Punkt zusammenziehen lassen. Es war der Beweis der Poincaré-Vermutung, nach dem Mathematiker fast 100 Jahre lang gesucht hatten. Jim Carlson, Direktor des Clay Mathematics Institute in Boston.

    "”Er hat das Problem viel tiefer durchdrungen als alle anderen, und er hat diese sehr technischen Hindernisse überwinden können.""

    John Ball:

    "”Ich sprach mit ihm am Telefon. Als die Entscheidung gefallen war, sprach ich mit allen Fields-Medaillisten am Telefon. Grigory Perelman sagte mir, dass er die Fields-Medaille ablehnen würde. - Nun, ich fragte ihn, ob es wohl möglich wäre, dass ich nach St. Petersburg käme, um mit ihm zu sprechen. Und er sagte: Ja.”"

    Es war der 22. August 2006, und der große Mathematiker-Kongress in Madrid hatte begonnen. Die Nachrichten-Agenturen berichteten, dass Grigory Perelman die Auszeichnung abgelehnt hatte. Meine Kollegen wollten nun mehr über den Russen erfahren, der sich aus Geld nichts machte. Perelman aber war abgetaucht und gab keine Interviews mehr. Er hatte an den Tagen zuvor noch mit zwei oder drei Journalisten gesprochen; und deren Zitate geisterten seither durch jeden Bericht. Zitat:

    "Die Fields-Medaille ist für mich völlig irrelevant. Wenn mein Beweis richtig ist, dann ist keine weitere Anerkennung nötig."

    John Ball:

    "Es gab eine Zeit, da hatte er alle Fragen, die man ihm gestellt hatte, beantwortet. Und dann entschied er wohl, dass er alles gesagt hatte, was er sagen musste, und das war es dann."

    Perelman, Zitat:

    "Ich weiß, dass die Leute sich selbst gerne produzieren und darstellen. Und denen, die das tun wollen, wünsche ich viel Glück. Ich denke nicht, dass so ein Verhalten etwas Positives hat."

    Es war das erste Mal in der Geschichte der Mathematik, dass jemand die höchste Auszeichnung des Fachs ablehnte und damit auch das Preisgeld von etwa 10.000 Euro. Hinzu kam, dass Perelman in wenigen Jahren eine noch größere Prämie zustehen würde: Die amerikanische Clay-Stiftung hatte die Poincaré-Vermutung im Jahr 2000 zu einem der sieben so genannten Milleniums-Probleme erklärt. Für die Lösung hatte sie eine Prämie von einer Million Dollar ausgeschrieben.

    Die Nachrichtenagenturen und Zeitungen berichteten, Perelman habe seine Stelle am Steklov-Institut in St. Petersburg gekündigt und lebe am Stadtrand bei seiner Mutter. Schon als Kind sei seine besondere mathematische Begabung aufgefallen, auch habe er sich schon früh für die Oper interessiert.

    Ich besuchte den Präsidenten der Internationalen Mathematiker Vereinigung, John Ball. Oder genauer: Sir John. Wenn man in Großbritannien geadelt wird, dann lässt man den Nachnamen weg. Auch er findet das ein wenig seltsam. John Ball:

    "Well that’s a kind of British excentricity. Knighthoods and so on. If you are knighted you are not called Sir Ball but you are called Sir John – which is kind of strange.”"

    Das Queen’s College in Oxford, gegründet im Jahr 1341. Sir John zeigte mir die imposante Bibliothek und die Kaminzimmer mit dem gepflegten, alten Mobiliar, wo er mit seinen College-Kollegen die Mahlzeiten einnahm und sich zum Tee traf. Er erinnere sich noch sehr genau an einen Tag im Jahr 2003. Er habe sich zu einem Forschungssemester in Princeton aufgehalten und das Gerücht gehört, dass es dem russischen Mathematiker Grigory Perelman gelungen sei, die Poincaré Vermutung zu beweisen. Dann sei Perelman nach Princeton gekommen, um einen zu Vortrag halten. John Ball:

    "”I was spending that year on sabbatical at the Institute for Advanced Study in Princeton. I just heard that that there was this rumour that Perelman had proved the Poincare Conjecture and that he would be giving a lecture in the maths department. So I went along there.”"

    John Ball:

    "”Der Vortragstitel – nun, ich habe ihn vergessen – aber die Poincaré Vermutung kam nicht darin vor. Der Vortrag war sehr klar und ich konnte einige Teile verstehen, obwohl das nicht mein Fachgebiet ist. Aber das Wort "Poincaré" kam darin nicht vor. Als dann am Ende Fragen gestellt werden durften, dachte ich, OK, jetzt geht’s los und jemand wird fragen "Ist das jetzt der Beweis der Poincaré Vermutung?" – Aber niemand stellte eine solche Frage."

    Die Fragen, die gestellt wurden, drehten sich um technische Einzelheiten. Perelman nutzte eine neue aus der Physik entlehnte Methode, den so genannten Ricci-Fluss, mit der es möglich war, abstrakte geometrische Körper zu verformen und Unebenheiten wie mit einem Bügeleisen zu glätten. Perelman ging es dabei darum, alle Körper, die er betrachtete, acht verschiedenen Grundformen zuordnen. John Ball:

    "”Ich war sehr überrascht. Vielleicht trauten sich die jüngeren Leute nicht, nach der Poincaré Vermutung zu fragen, und die älteren hatten vorher mit ihm gesprochen und wussten es bereits. Das alles war etwas surreal, und ich war ein wenig enttäuscht.""

    Tatsächlich hatte Perelman die so genannte Geometrisierungs-Vermutung bewiesen, sie ermöglicht es den Mathematikern, sämtliche denkbaren dreidimensionalen Gebilde zu sortieren und neu zu verstehen. Die Poincaré-Vermutung war hier als Spezialfall enthalten. Der Beweis, den Perelman ins Internet gestellt hatte, war insgesamt etwa 66 Seiten lang und das Gegenteil von ausführlich. Er hatte eine Art mathematisches Stenogramm abgeliefert, viele Schritte auf einmal übersprungen und weniger wichtige Überlegungen nur angedeutet. Auf eine Publikation in einem Fachjournal verzichtete er. John Ball:

    "It could be a kind of arrogance. But it needn’t be and I don’t think it was in this case.”"

    Einige Mathematiker hielten das für ungenügend oder für arrogant, andere machten sich daran, den Beweis zu vervollständigen. Als erste rechneten Bruce Kleiner und John Lott viele Details nach, dann ergänzten John Morgan und Gang Tian weitere Abschnitte. Ihre Publikationen umfassten viele hundert Seiten. Im Frühjahr 2006 kamen sie zu dem Schluss, dass Perelmans Beweis wasserdicht war. Für Sir John war es Ehrensache, Grigory Perleman persönlich aufzusuchen und mit ihm über seine Ablehnung der Medaille zu sprechen. Umstimmen konnte er ihn nicht. John Ball:

    "”Natürlich habe ich ihn am Ende der beiden Tage, die wir miteinander verbrachten, besser verstanden. Aber es gibt da auch eine versteckte Seite seines Charakters, die es schwer macht, die wirklichen Motive seiner Handlungen zu erahnen. Aber es war auf jeden Fall ein Charakterzug von ihm, dass er bei einer Entscheidung blieb, wenn er sie einmal gefällt hatte."

    Im August 2007 hatten Perelmans Kollegen all ihre ausführlichen Rechnungen zu Perelmans Beweis publiziert. Nach den Regeln des Clay Instituts mussten danach noch zwei Jahre vergehen, bevor Perelman Anspruch auf die Prämie von einer Million Dollar hätte. John Ball:

    "”Er sagte, wenn sie mir auch den Clay-Preis anbieten werden, werde ich mit ihnen sprechen, so wie ich mit Ihnen über die Fields-Medaille gesprochen habe. – Was eine ziemlich perfekte Antwort war, finde ich.""

    Eine Woche nachdem bekannt war, dass Grigory Perelman die Fields-Medaille abgelehnt hatte, erschien im amerikanischen Magazin "New Yorker" ein Artikel der für Aufsehen sorgte. Sylvia Nasar und David Gruber portraitierten neben Perelman auch den berühmten chinesischen Mathematiker, Shing-Tung Yau, der am Institute for Advanced Study in Princeton arbeitete. Im Frühsommer 2006 behauptete Yau auf Kongressen, seine Schüler Zhu und Cao hätten Lücken in Perelmans Beweis gefunden, und es sei nun ihnen zu verdanken, dass die Poincaré-Vermutung endgültig bewiesen sei. In der Tat publizierten diese beiden eine 300-seitige mathematische Abhandlung, welche die gesamte Juni-Ausgabe des "Asian Journal of Mathematics" füllte. Die Reporterin des New Yorker, Sylvia Nasar, befragte daraufhin auch russische Wissenschaftler nach ihrer Meinung dazu.

    "”She met me and showed me the booklet which was published in China. And asked me without any claim. And she wanted to check my opinion and I told her quite frankly that this is banditism.”"

    Anatoly Vershik, Präsident der St. Petersburger Mathematischen Gesellschaft.

    "”Sie zeigte mir eine Publikation, die in China erschienen war und fragte mich ganz neutral, was ich davon hielte, und ich sagte ihr ganz offen, dass ich das für Banditentum halte. Denn darin war zu lesen: Ja, es gibt da eine gute Publikation von Perelman, aber wir hatten da andere, zusätzliche Ideen und schließlich ist es meinen Studenten gelungen einen vollständigen Beweis abzuliefern. Das ist ein großartiger Erfolg für die chinesische Mathematik und so weiter. Es ist eine Schande.""

    Im Interview mit den Reportern des New Yorker hatte sich Perelman dazu auch geäußert. Zitat:

    "Ich kann nicht sagen, dass ich begeistert bin. Andere Leute tun noch Schlimmeres."

    Erst in den Wochen nach dem Mathematiker-Kongress und dem Erscheinen des Artikels im "New Yorker" wurde bekannt, dass Cao und Zhu in ihrer Publikation weitgehend darauf verzichtet hatten, Kleiner und Lott zu zitieren, also jene beiden Mathematiker, die sich als erste mit Perelmans Beweis befasst hatten. Die chinesischen Mathematiker hatten also in dreister Weise abgeschrieben.

    In seinem Gespräch mit den Reportern des "New Yorker" hatte Perelman sich über die laxe Moral seiner Kollegen beschwert. Aber warum hatte er seine Stelle am Steklov Institut gekündigt und sich zurück gezogen? Ich versuchte, die Wissenschaftler zu kontaktieren, die früher eng mit ihm zusammengearbeitet hatten. Sie beantworteten meine Emails nicht oder sie ließen mich kurz wissen, dass sie für Interviews nicht zur Verfügung stünden. Immerhin war Anatoly Vershik, der Präsident der St. Petersburger Mathematikervereinigung, bereit, mich zu empfangen.

    Das Steklov Institut der Mathematik, die ehemalige Wirkungstätte von Grigory Perelman, residiert im Zentrum von St. Petersburg, nur wenige Schritte vom Newskij Prospekt entfernt. Im dunklen Foyer des Kaufmannshauses aus dem 18. Jahrhundert saß eine Gruppen von jungen Studenten auf einem alten, mächtigen Ledersofa. Anatoly Vershik: ein Professor mit einem eindrucksvollen, grauen Vollbart und sehr wachen Augen. Vom Fenster seines Büros im 5.Stock konnte er den Blick schweifen lassen über eine weitläufige Häuserzeile am anderen Ufer des Fontanka-Kanal, hin zur nah gelegenen Anitschkov-Brücke am Newskij Prospekt.

    Der Milleniums Preis des Clay Instituts hatte hier im Jahr 2006 hier für großen Wirbel, aber auch für einen gewissen Unmut unter den russischen Mathematikern geführt. Vershik:

    "”In gewisser Weise ist der Clay Preis eine sehr amerikanische Idee. Das erinnert mich so ein bisschen an Show-Business. Hier in Russland war das das falsche Signal. Die Leute wissen nicht, was Mathematiker tun, und jetzt will so einer das viele Geld nicht haben. Hier werden zwei Dinge zusammengebracht, die nichts miteinander zu tun haben: eine herausragende wissenschaftliche Leistung und "die Million". Dabei geht es in der Mathematik nicht nur darum, schwierige Rätsel zu lösen, sondern auch darum, tiefere Einsichten zu gewinnen und neue Gebiete zu erschließen.""

    Vershik:

    "Was Perelman betrifft, kursieren hier viele Legenden und falsche Gerüchte. Dass jemand ihn beleidigt hat, oder dass wir ihn am Institut nicht mehr haben wollen. – Das alles ist nicht wahr. Ich habe folgende Vermutung: Perelman war einfach erschöpft. Er hat viele Jahre extrem hart gearbeitet und das Optimale erreicht, auf mehr konnte er nicht hoffen. Das ist zumindest eine mögliche Erklärung für das, was passiert ist."

    Ich erhielt auch einen Termin beim Direktor des Instituts und erwartete ein schwieriges Gespräch in einem repräsentativen Büro mit schweren Möbeln. Doch Serguei Kisliakov war ein freundlicher und bescheidener Mann, sein Zimmer war noch kleiner als das von Vershik. Die 105 Mitarbeiter des Instituts fänden kaum Platz in diesem Haus erklärte er mir, und als man ihn zum Direktor gewählt habe, sei er einfach in seinem Raum geblieben. Kisliakov:

    "”Selbstverständlich wäre es uns lieber, wenn Grigory noch bei uns wäre. Aber das ist eine persönliche Entscheidung und wir sollten sie respektieren. Mein Vorgänger sagte im Jahr 2006, dass Grigory jederzeit zurück kommen kann, und ich habe diese Einladung wiederholt.""

    "Es ist meistens die Boulevardpresse, die überhaupt über Perelman etwas schreibt. Man ist auf der Jagd nach ihm. Das wird auch wortwörtlich so ausgedrückt. Man liest einfach über sein verrücktes Dasein etwas."

    Meine Kollegin Olga Sosnytzka wollte mich bei meinen Recherchen in St. Petersburg unterstützen und fuhr mit mir nach Kupchino, in jenen Stadtteil, in dem Perelman wohnte.

    "”Isst kein Fleisch, nur dunkles Brot, Milch und Quark. Riecht nicht angenehm, sieht wie ein Obdachloser aus. Schert seine Fingernägel nicht. Weist höflich die Journalisten ab.""

    Weißer Rabe nennen die Russen Außenseiter wie ihn. In deutschen Zeitungen hatte ich gelesen, dass Perelman in ärmlichen Verhältnissen lebte. Als wir in seinem Viertel aus der U-Bahn stiegen, sah ich endlose Plattenbaureihen, renovierungsbedürftige Fassaden und billige Supermärkte. Doch die Menschen trugen gute Kleidung, und sie hatten es eilig, mit der U-Bahn in die Stadtmitte zu kommen. Sosnytzka:

    "Kupchino ist ein normaler, ‚Spalnei Meshok’ würde man auf Russisch sagen: ‚Schlafsack’ auf Deutsch bedeutet. Also am Stadtrand wo so Wohnblöcke stehen. Das ist nicht ärmlich, das ist normal. Denn in Petersburg ist im Zentrum alles rausgeputzt. Am Stadtrand ist das eher Russland. Wenn man in eine andere Stadt fährt, die nicht so historisch prächtig ist, dann sieht jede Stadt so aus."

    Grigory Perelman, geboren 1966, wurde früh von seinen Eltern gefördert: Sein Vater, ein Ingenieur, stellte ihm mathematisch-naturwissenschaftliche Aufgaben und brachte ihm das Schachspielen bei. Er erhielt Zugang zu einem so genannten Mathematik-Kreis, einer Art privatem Förderverein, wo er mehrfach in der Woche von erfahrenen Mathematikern betreut wurde. Im Jahr 1982, mit 16 Jahren, gewann Perelman bei der Internationalen Mathematikolympiade in Budapest die Goldmedaille. Diese Leistung ermöglichte ihm den Zugang zur Universität, was keine Selbstverständlichkeit war: Er stammte aus einer jüdischen Familie und die Aufnahmeprüfungen zu der renommierten Universität von Leningrad waren für Juden in den meisten Fällen unfair, erinnert sich Anatoli Vershik.

    "”Es war am Ende der Breshnew und Andropov-Ära, es gab damals viel Diskriminierung. Aber die Gewinner der Olympiaden durften ohne Prüfung an die Universität, für ihn war das also kein Problem.""

    Grigory Perelmans Mutter, eine Mathematik-Lehrerin nahm ihn früh mit in die Oper. Er beigeisterte sich für diese Musik, gab als Teenager sein Taschengeld für Schallplatten aus. Besonders stolz war er auf eine Aufnahme von La Traviata aus dem Jahr 1946, mit Licia Albanese als Violetta. Als sein Vater und seine Schwester in den 90er Jahren nach Israel emigrierten, zog er wieder bei seiner Mutter ein.

    Sosnytzka:

    "”In der Sowjetunion war auch die Bescheidenheit eine wichtige Tugend. Auch unter den bekannten Menschen. Man hat sie immer geschätzt, wenn sie bescheiden waren und damit nicht geprotzt haben.""

    Wir liefen eine Weile ziellos an den grauen Hochhauswänden entlang. Es war ein trüber Januarnachmittag, der Schnee war am Tag zuvor geschmolzen, und die Dunkelheit kam schnell. Die Fenster bildeten ein Tapetenmuster aus Quadraten, die meisten glänzten grau, aber einige leuchteten in hellem Orange. Irgendwo hier saß Grigory Perelman an seinem Schreibtisch. Oder er kochte sich etwas, schlief, schaute aus dem Fenster, hörte vielleicht Musik. Sosnytzka:

    "Weißer Rabe - heißt schwarzes Schaf. Der weiße Rabe sagt man auf Russisch, wenn jemand auffällig ist und sich von anderen unterscheidet. Das hängt von der Intonation ab. Das kann positiv und negativ sein. Aber ich würde sagen, das ist eher negativ konnotiert. Negativ in dem Sinne, dass das Leben des weißen Raben nicht einfach ist. Unter den Wissenschaftler wäre jetzt angesehen, wenn man nach Amerika, Europa eingeladen wird. Dass man es soweit gebracht hat, dass man die Fremdsprache beherrscht. Und auch in dem eigenen Fachgebiet so gut ist, dass das Ausland Interesse hat. Aber früher war es so: Da wurde ein ganz anderes Bild transportiert: Der Wissenschaftler, der Wissenschaft für die Wissenschaft und den Staat macht. Der an der materiellen Seite, an der Belohnung nicht interessiert ist. Er würde die Wissenschaft auch machen, wenn er unter den schwersten Bedingungen am Ende der Welt im Ewigkeits-Eis lebt."

    Vershik:

    "”Wenn Sie über ein Schneefeld gehen, und Sie sind der erste, dann merken sie, dass da niemand anderes ist. Das ist alles. Natürlich fühlt man sich einsam, aber so ist die Wissenschaft.""


    Ich verbrachte einige Zeit am Steklov Institut und hatte schließlich doch die Gelegenheit mit Mathematikern zu sprechen, die über viele Jahre mit Perelman zusammen gearbeitet hatten. Mein Mikrofon musste ich dabei aber in der Tasche lassen.

    Die Mathematiker in St. Petersburg sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Selbstbewusst, elitär und gleichzeitig sehr tolerant gegenüber exzentrischen Kollegen. Sie hatten Perelman schon früh in ihre Kreise aufgenommen und gefördert. Aber die speziellen Verhaltensweisen und -regeln der Mathematikerwelt machten ihm zu schaffen: die subtile Konkurrenz der Wissenschaftler untereinander, das Gezerre um kleine Privilegien, die Machtspiele. Er verstand vieles nicht, war naiv und in gewisser Weise unschuldig. Ein Mathematiker, der ihn gut kannte, berichtete, jemand habe Perelman sehr früh in seiner Karriere fälschlicherweise vorgeworfen, er hätte von einem Kollegen abgeschrieben. Möglicherweise hatte ihn dies sehr tief verletzt.

    Perelman, Zitat:

    "Es sind nicht die Leute, die ethische Standards verletzten, die als Außerirdische behandelt werden. Es sind Leute wie ich, die isoliert werden."

    Mitte der 90er Jahre gab es wieder so einen Fall, nur diesmal nahm Perelman die andere Rolle ein. Er selbst machte einem seiner Co-Autoren den Vorwurf, er hätte nicht richtig zitiert. Andere Kollegen konnten die Anschuldigungen nicht nachvollziehen, aber er wiederholte sie immer wieder. Nach und nach verlor Perelman das Vertrauen in sein Umfeld. Zur gleichen Zeit drang er immer weiter in die Mathematik vor. Seine Kollegen waren nicht mehr in der Lage, seine Fachfragen zu beantworten, weil er die Dinge so viel tiefer verstand als sie. Jim Carlson, Direktor des Clay Mathematics Institute in Boston:

    "”Everybody who was working in the field got stuck at a certain point. And Perelman saw how to get unstuck and how to get through those technical obstacles.”"

    Während Perelman Höchstleistungen als Mathematiker erbrachte, verlor er das Maß bei der Einschätzung zwischenmenschlicher Beziehungen. Hatte er einmal ein Urteil über eine Person gefällt, war er nicht mehr bereit, dieses zu korrigieren. Noch bevor er seinen berühmten Beweis fertig stellte, überwarf er sich mit Kollegen, die ihn über Jahre gefördert und begleitet hatten. Vershik:

    "”If you go through snow field. And you step by snow firstly. You understand that there is nobody here and you are the first, that’s all. Of course you feel alone but this is science.""

    Trotz all der Schwierigkeiten, die sie mit ihm hatten, sprachen Perelmans ehemalige Kollegen insgesamt positiv und herzlich über ihn. Sie machten sich Sorgen und vermissten ihn. Dass Grigory aus ihrem Leben verschwunden war, empfanden sie als tragischen Verlust. Serguei Kisliakov:

    "”Aber so etwas ist in der Geschichte bereits passiert. Der finnische Komponist Sibelius schrieb in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens keine einzige Note mehr, auch der französische Poet Rimbaud beendete sein künstlerisches Schaffen sehr früh. Und Alexander Grothendiek, der vielleicht letzte universelle Mathematiker, bedauerte irgendwann so viel Zeit mit Mathematik vertan zu haben. Er lebt heute irgendwo versteckt in einem Dorf. Als Mathematiker hätte er noch sehr viel erreichen können – aber dann hörte er einfach auf. In der Geschichte passiert so etwas gelegentlich.""

    Doch ganz so erschöpft und deprimiert konnte Perelman nun auch wieder nicht gewesen sein: Auf John Ball wirkte er noch 2006 sehr klar und selbstbewusst:

    "”Ja, ich fragte ihn, ob er stolz auf seine Leistung war und er sagte ja: Ich hoffe also dass er noch arbeitet. Es wäre großartig, wenn er das noch täte.""

    Eines Morgens erhielt ich eine Email von einem meiner Interviewpartner. Er vertraute mir Perelmans Adresse und Telefon-Nummer an. Ich rief Olga an und auf dem Weg legte ich mir meine Fragen zurecht. Ich würde mit ihm über die Hintergründe seiner Kündigung sprechen, über Erschöpfung und Einsamkeit, über Musik und Schönheit.

    Wir fanden das langgezogene Hochhaus schnell, gaben am Sicherheitssystem der Tür die Nummer eines Apartments im dritten Stock ein. Es klingelte, aber niemand öffnete die Tür. Später wählte ich seine Telefon-Nummer. "Da?" sagte eine russische Männerstimme – Ich erklärte, was ich wollte, und erhielt – auf Englisch die Antwort "No, no". Dann legte er auf.

    Am Abend besorgten Olga und ich uns Karten für das Mariinskij Theater; es wurde Verdis "Nabucco" gegeben. Wir suchten den Weg nach oben auf den fünften Rang, schoben uns durch die Besuchermengen, wandelten durch die verschlungenen Gänge und prachtvollen Säle, bis wir schließlich ankamen, sehr nah am Himmel, der an die Decke des Hauses gemalt war. Die Bühne weit unter uns, die Sänger kaum auszumachen. Hier hatte Perelman früher gerne Platz genommen. Er hatte neue mathematische Räume geschaffen und erkundet, um sich dann aus ihnen zurückzuziehen. Oder hatte er sich in ihnen verkrochen? Auf jeden Fall war er dem perfekten Klang der Mathematik näher gekommen als alle anderen. Einsam, ganz oben, im ewigen Eis.

    Vershik:

    "Ich denke, dass die Schönheit das entscheidende Kriterium für Mathematik ist, so wie in der Musik oder in der Kunst. Aber das Verständnis von Schönheit ändert sich. In der Platonischen Philosophie ist es so, dass die Welt der Mathematik an sich existiert und wir sie erkunden. Aber es ist besser zu sagen, dass die Mathematik nicht wirklich existiert. Es ist nicht so, dass man da eine Tür öffnet und dann einen neuen Raum anschaut und so weiter. Es gibt keine Tür und es gibt keinen Raum. Wir schaffen diese Tür und wir öffnen sie. Wir schaffen den Raum und wir schauen ihn uns an."
    Der französische Mathematiker Henri Poincaré setzte 1904 eine mathematische Vermutung in die Welt, die 2002 erst bewiesen wurde.
    Der französische Mathematiker Henri Poincaré setzte 1904 eine mathematische Vermutung in die Welt, die 2002 erst bewiesen wurde. (wikipedia.org)