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Der Weltuntergang als persönliche Erlösung

Mit "Melancholia" wollte der dänische Regisseur Lars von Trier "einen wunderschönen Film über das Ende der Welt" machen. Der Geschichte der persönlichen Tragödie einer jungen Frau steht die Apokalypse gegenüber.

Von Jörg Albrecht | 05.10.2011
    Ein Blick in das Gesicht von Kirsten Dunst. Es ist müde, ihr Blick apathisch. Im Hintergrund fallen tote Vögel vom Himmel. Zeitlupe. Dazu Klänge von Wagner. Tristan und Isolde. Das Vorspiel und der Beginn von "Melancholia". In einer achtminütigen Sequenz hat Lars von Trier Bilder morbider Schönheit geschaffen. Bilder, die aussehen, als hätten sich Surrealismus und deutsche Hochromantik miteinander vereint. Am Ende der acht Minuten wird der Aufprall des fiktiven Planeten Melancholia auf die Erde stehen. Was für eine Eröffnung! Große Oper. Großes Kino. Und ein Versprechen für zwei nicht minder großartige Stunden, die danach folgen.

    Die Ouvertüre mit ihrer durchkomponierten Bildfolge wird abgelöst von dokumentarischen, mit Handkamera gedrehten Szenen. Parallelen zum ersten Dogma-Film "Das Fest" – gedreht 1998 von Lars von Triers Landsmann Thomas Vinterberg – sind überdeutlich. Wie bei Vinterberg spielt auch die erste Hälfte von "Melancholia" während einer Familienfeier auf einem ländlichen Anwesen. Dort warten die Hochzeitsgäste auf das Brautpaar, das sich verspätet hat. Justine und Michael sind mit der Stretchlimousine auf dem engen Zufahrtsweg stecken geblieben.

    "Entschuldigt bitte! – Ich sag´s gar nicht erst, wie spät ihr dran seid. ... Nach Plan sind wir erst hier. Und das war vor zwei Stunden. – Okay. – Ja, dann los."

    Im Gegensatz aber zu Claire, der Schwester der Braut und Organisatorin der Feierlichkeiten, sind die frisch Vermählten immer noch entspannt. Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass sich Justine in den nächsten Stunden von der strahlenden Braut in ein Häufchen Elend verwandeln wird. Je weiter der Abend fortschreitet und die einzelnen Programmpunkte der Reihe nach abgearbeitet werden, desto mehr verdüstert sich ihr Gesicht. Einen konkreten Auslöser für Justines plötzlich auftretende Schwermut scheint es nicht zu geben – nicht einmal die peinlichen Redebeiträge ihrer schon seit Langem voneinander getrennten Eltern.

    "Noch nie habe ich dich so glücklich gesehen. Was kann ich also sagen, ohne über deine Mutter zu sprechen ... Ich glaube allerdings nicht, dass ich ein Geheimnis enthülle, wenn ich behaupte, dass sie manchmal ganz schön dominant sein kann. – Dominant? ... Ich war nicht in der Kirche. Ich glaube ebenso wenig an die Ehe. Bis das der Tod uns scheidet ... Justine und Michael – lasst euch von mir eins sagen: Genießt es, so lange es dauert! Ich persönlich hasse Hochzeiten. – Gaby, bitte! – Vor allem wenn es dabei um einige meiner engsten Familienmitglieder geht."

    Dass das vermeintliche Glück nicht einmal den Hochzeitstag überdauern wird – damit aber hätte selbst Justines Mutter wohl nicht gerechnet. Ihre Tochter kehrt der Feier und auch Michael den Rücken, denn sie hat erkannt, dass sie niemals glücklich werden kann. Auch nicht in einer Ehe. Und so werden Justine und Michael – anders als nach Hochzeitsfeiern üblich – keine gemeinsame Nacht miteinander verbringen, sondern stattdessen getrennte Wege gehen. Claire weiß seit Langem, dass ihre Schwester unter Depressionen leidet. Um Justine auf andere Gedanken zu bringen, lädt Claire sie ein, die nächste Zeit bei ihr und ihrer Familie auf dem Land zu wohnen.
    In zwei Akte hat Lars von Trier seinen Film unterteilt. Sie tragen die Namen der beiden Schwestern. Nach dem ersten Teil, der sich vor allem um Justine dreht, legt von Trier jetzt den Fokus auf Claire. Die Ehefrau und Mutter eines kleinen Jungen sorgt sich nicht nur um ihre Schwester. Angst macht ihr vor allem der Planet Melancholia, der in den nächsten Tagen der Erde gefährlich nahe kommen wird.

    "Bist du schon wieder online gewesen? ... Ich fürchte mich vor diesem dummen Planeten. ... Diesen wundervollen Planeten meinst du. Erst war er schwarz, jetzt ist er blau. ... Liebling, das wird das erstaunlichste Ereignis, das wir in unserem Leben erfahren werden. In fünf Tagen wird er uns erreichen, aber er wird uns nicht treffen. ... Also wird er auch die Erde nicht treffen. Das wissen wir bereits."

    Doch auch ihr Mann schafft es nicht, Claire die Sorge vor dem Weltuntergang zu nehmen. Während ihre Verzweiflung von Minute zu Minute wächst und Panikreaktionen auslöst, erwartet Justine vollkommen ruhig und gefasst die kommenden Ereignisse. Sie ist sich gewiss, dass das Ende der Erde kurz bevorsteht.

    "Die Erde ist schlecht. Wir brauchen nicht um sie zu trauern. – Was?! – Niemand wird sie vermissen. – Aber wo soll Leo dann aufwachsen? – Also, ich weiß nur eins: dass das Leben auf der Erde alles andere als gut ist. – Vielleicht gibt es Leben auch woanders. – Gibt es nicht. – Woher weißt du das? – Weil ich es einfach weiß."

    Mutig stellt Lars von Trier der persönlichen Tragödie einer jungen Frau die globale Katastrophe gegenüber. Mikro- und Makrokosmos verschmelzen in "Melancholia" zu einer Einheit. Es ist eine kühne Konstruktion, die der dänische Filmemacher gewählt hat. Doch die Mischung aus Charakterstudie und Endzeitfilm funktioniert bis zum fantastischen Schlussbild, das sich ins Gedächtnis einbrennen wird.

    "Melancholia" ist ein Film, der noch lange, nachdem man das Kino verlassen hat, nachwirkt. Ein Verdienst nicht zuletzt der beiden glänzenden Hauptdarstellerinnen Kirsten Dunst und Charlotte Gainsbourg. Konsequenter als hier hat bislang kein Film die Apokalypse geschildert Lars von Triers Radikalität ist ohne Beispiel. Der Weltuntergang wird zu Justines persönlicher Erlösung. Das macht aus "Melancholia" einen Film mit einem Happy End.