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Der Wert des Menschen

Der belgische Schriftsteller und Psychoanalytiker Francois Emmanuel hat diese Frage mit dem konzentrierten literarischen Text "Der Wert des Menschen" beantwortet: ein über neunzig Seiten erzähltes Schachspiel mit überraschenden Zügen, an dessen Ende ein vertracktes Remis steht: denn der Verlierer gewinnt, indem er verliert, eine neue Freiheit.

Heinz-Ludwig Arnold | 03.01.2000
    Simon, der Held dieses spannenden Spiels, arbeitet in dem multinationalen Konzern SC Farb als "Psychologe" in der sogenannten Abteilung für menschliche Ressourcen und wird von seinem Personalchef, Karl Rose, beauftragt, einen Bericht über den Generaldirektor der Tochterfirma, Mathias Just, zu liefern, dessen geistigen Zustand Rose nur vage als beunruhigend, verwirrt, ja vermutlich depressiv bezeichnet. Simon beginnt seine Erkundigungen bei dem Betriebschemiker Jacques Paolini, dem Mitglied eines Streichquartetts, in dem Just einst Geige spielte; das sogenannten Farb-Quartett, dem auch Justs Sekretärin und Geliebte und ein im Zusammenhang von Sanierungsmaßnahmen entlassener Handelsvertreter angehörten, hat sein Musizieren schon lange beendet. --Über die Musik nähert sich Simon Just, und der wehrt sich heftig: Rose wolle ihn vernichten, und er bezichtigt nun seinerseits Rose: Der sei ein "Lebensborn"-Produkt, "in einer Familie von Ewiggestrigen aufgewachsen", und unterstütze eine "rechtsextreme Splittergruppe", heiße in Wirklichkeit Karl Kraus. Das sind reaktive Projektionen; denn tatsächlich stellt sich heraus, daß Justs Vater ein hoher Nazi war, dessen Unterschrift auf Mordbefehlen steht. Und dieser Vater, so erfährt Simon von Justs Frau Lucy, war ein "brutaler unbeugsamer Mensch, der nur ein Wort, Arbeit, kannte und seinen einzigen Sohn maßlos bestrafte, wenn er irgendeine Aufgabe nicht vollkommen zufrieden ausgeführt hatte.

    Nach diesem Gespräch ahnt Simon erstmals, daß er sich in einem bitterbösen Spiel verfangen hat, das ihn an Just bindet. "(Ich) hatte '\ das deutliche Gefühl, in die Nacht eines Menschen eingetreten zu sein, / oder schlimmer: ich spürte, daß seine Nacht an die meine grenzte und daß seine mich umschließende Hand eine Komplizenschaft besiegelte, eine geteilte Schuld und die Wollust dieses Teilens, etwas Dunkles, Undeutliches, das ich seltsamerweise mit dem verband, was er als menschlichen Faktor bezeichnet hatte". Just nämlich hatte ihn, den Psychologen, einst gebeten, während der Sanierungsmaßnahmen "die Evaluierungskriterien für das Personal immer und immer wieder zu verfeinern", um "den menschlichen Faktor mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten in Übereinstimmung zu bringen".

    Spürbar beginnt die Erzählung auf Simon selbst zuzulaufen - der Betriebspsychologe gerät ins Visier, dessen wesentliche Aufgabe es ja ist, den "menschlichen Faktor" so zu bearbeiten und zu mobilisieren, daß dem Betrieb noch seine letzten Kräfte zu Gute kommen. Doch der entscheidende Zug, der dem Spiel die entscheidende Wende gibt, steht noch bevor.

    Simon kommt in den Besitz von fünf Briefen, die Just anonym zugeschickt wurden - der erste ist ein von Justs Vater unterzeichnetes Dokument: genaue Anweisungen zur technischen Verbesserung von Speziallastwagen, in denen die Nazis ihre Opfer vergasten - Opfer, die da "Ladung" heißen oder "Ladegut", das sich nach dem Licht in den Wagen dränge und dessen "Stückzahl bei der Beschickung vermindert" werden müsse. Das sind sprachliche Dokumente einer unsäglichen technologisch motivierten menschlichen Verrohung, unter die der anonyme Absender einen Aphorismus von Karl Kraus notiert hat: "Ein Original, dessen Nachahmer besser sind, ist keines." Der Satz erweist seine Evidenz an den folgenden Briefe, Collagen, die das ursprüngliche Dokument als eine Art Palimpsest nutzen: Über den alten Text sind wie Folien neuere Texte gelegt, die aus aktuellen technischen Schriften der SC Farb stammen und vor allem aus arbeitspsychologischer Literatur. Sie gehörten einer technologischen Sprache an, ...einer gewissen Soziologie des Befehlens, einer Sprache, die eher in den Personalabteilungen und Direktionen als in den Werkstätten und Fertigungshallen verwendet wird."

    In dieser collagierten Konfrontation führt Emmanuel überzeugend vor, wie einerseits normale Wörter und Begriffe grauenhaft denaturierten und wie andererseits in Folge dieser Denaturierung das Entsetzliche Normalität werden konnte. Und wie sehr dieser zur Normalität gewordenen Dehumanisierung der Sprachgestus der modernen Arbeitspsychologie gleicht, verfasst freilich in einer noch perfekteren und ausgeklügelteren Sprache, in der nun nicht mehr von Stücken, sondern verhüllend vom "menschlichen Faktor" die Rede ist,

    Indem er diese Zusammenhänge erkennt, verliert Simon die Fähigkeit, seinen Beruf als Betriebspsychologie weiter auszuüben; er vermag die Seminare, in denen er aus den Angestellten "Soldaten und Kämpfer für die Firma" machen soll, nicht mehr zu leiten: "Denn welchen Sinn hatte es, die Leute für etwas zu motivieren, das sie eigentlich kaum etwas anging?" Endgültig macht er sich nun selbst zum Ziel des anonymen Angriffs auf Just, der - so die Auflösung des detektivischen Subtexts dieses kleinen Romans - vom vierten Spieler des Streichquartetts inszeniert worden ist, jenem Handlungsreisenden, der den Sanierungsmaßnahmen des Betriebs, die Simon hatte abfedern müssen, zum Opfer gefallen ist. Auch er ist, wie Just, traumatisch verstrickt in die verbrecherische Geschichte der Väter: Sein Vater, einst Arztoffizier in einem Lager, "sortierte" die Ankommenden in Arbeits- und Todeskandidaten.

    Emmanuels episches Schachspiel "Der Wert des Menschen" endet mit einem Remis: Alle Figuren haben die notwendigen Züge getan, und alle gehen mehr oder weniger beschädigt aus diesem Spiel hervor, auch Simon wird schließlich entlassen. Aber als einziger begreift er dieses Ende als einen Anfang, als Chance, und gerade diese Wendung überfrachtet die ansonsten makellose Erzählung mit einem allzu symbolisch gewollten Schluß. Denn Simon übernimmt eine Stelle in einem Heim für autistische Kinder. Und für ihn ist die zwar "schlecht bezahlte Arbeit...mit diesen Kindern, die die Sprache mit den Menschen verloren haben" und deren Blick "keiner unserer Tricks, keine Schlauheit und keine Schwäche" entgeht, "mein persönlicher Akt des Widerstands" gegen die Ausbeutung des "menschlichen Faktors" - ein, freilich ungewisser, Kampf "an den Rändern der Welt."