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Der Widerspruch zwischen Selbstanforderung und Lebensführung

Die Diskrepanz zwischen sich selbst gesetzten Anforderungen und der Lebensführung Lew Tolstojs stellt Ulrich Schmid in seiner Kurz-Biografie vor. Dabei schaft er es, mit der Mär vom radikalen Bruch in Tolstojs Leben und Denken aufzuräumen.

Von Brigitte van Kann | 18.11.2010
    "8 – 10 Faust lesen - erfüllt
    10 – 12 Rousseau mit Kommentaren lesen - nicht ganz erfüllt
    12 – 4 Enzyklopädie des Rechts - ein wenig
    4 – 6 Öffentliches Recht - verschlafen
    6 – 7 Institutionen - erfüllt
    7 – 8 Englische Sprache - ein wenig"


    Ein Dokument der Selbstverpflichtung und des Scheiterns – verfasst von dem 18-jährigen Lew Nikolajewitsch Tolstoj, der gerade dabei ist, sein Studium der Rechte an der Universität von Kazan in den Sand zu setzen.

    Ulrich Schmid zitiert es in seiner Kurz-Biografie "Lew Tolstoi", in der er die schreienden Widersprüche zwischen selbst gesetzten Anforderungen und der tatsächlichen Lebensführung des großen Russen als dessen Schreibantrieb ausmacht.

    Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, ist ein nüchterner Biograf – er hebt Tolstoj nicht enthusiastisch in den Himmel, hat es aber auch nicht auf Demontage abgesehen. In der gebotenen Kürze der C.H. Beck-Reihe "Wissen" offeriert er dem Leser, der einen schnellen Überblick über Tolstojs Lebens sucht, auf 125 Seiten ein Optimum an Information.

    Ulrich Schmid formuliert prägnant und verliert sich nicht in der Fülle des verfügbaren Materials. Wobei diese Fülle immens und kaum zu überschauen ist: Es gibt wohl keinen anderen Schriftsteller, der eine so akribische Selbsterziehung und -Beobachtung in geheimen und weniger geheimen Tagebüchern betrieben, so ausufernd korrespondiert und dermaßen viele Varianten seiner Werke produziert hat wie Lew Tolstoj. Die in Russland entstehende neue Gesamtausgabe ist denn auch auf stolze 100 Bände angelegt. – Nicht zu vergessen, die literarischen und biografischen Arbeiten seiner Frau Sofja Andrejewna, ihre Briefe, ihre Tagebücher – und die umfangreichen, zum Teil protokollartigen Erinnerungen seiner Familienangehörigen und Hausgenossen, die jedes Wort in Jasnaja Poljana mitschrieben, seit Tolstoj zum Guru und seine Ehe zur öffentlichen Causa geworden war. Dem Biografen ist es gelungen, die derart üppig sprudelnden Tolstoj-Quellen in überschaubare Bahnen zu lenken.

    Seine Darstellung erzählt Tolstojs Leben nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in Kapiteln, die sich jeweils einen Themenkomplex vornehmen, etwa "Der pflügende Graf in Jasnaja Poljana – Tolstojs Verherrlichung des einfachen Volks" oder "Tolstojs Kampf gegen den Sexus" – Themen also, über die man in der Regel nur Diffuses weiß und über die man sich nun gezielt informieren kann.

    "Gestern hat mich das Gespräch über das Göttliche und den Glauben auf einen großen, umfassenden Gedanken gebracht. Ich fühle mich fähig, mein Leben seiner Verwirklichung zu widmen. Dieser Gedanke ist die Gründung einer neuen Religion, die der Entwicklung der Menschheit entspricht, eine Religion Christi, aber gesäubert von Glauben und Geheimniskrämerei, eine praktische Religion, die keine zukünftige Seligkeit verspricht, sondern Seligkeit auf Erden gibt."

    Ein Tagebucheintrag Tolstojs vom 4. März 1855. Ulrich Schmid zitiert ihn zu Beginn des Kapitels "Die Erschaffung einer eigenen Religion und der Konflikt mit der orthodoxen Kirche" – und weist damit auf die Konstanten in Tolstojs Leben und Denken hin: Nicht erst seit 1878, das als das Jahr seiner "Wende" bezeichnet wird, dachte der Schriftsteller über richtige Lebensführung, persönliche Vervollkommnung und die Begründung einer neuen Lehre auf der Grundlage der Bergpredigt nach.

    Es ist ein Verdienst der Tolstoj-Biografie von Ulrich Schmid, mit der Mär vom radikalen Bruch in Tolstojs Leben und Denken aufzuräumen. Der Biograf behält stets die Kontinuitäten im Blick – was sich in einer chronologischen Darstellung weit weniger bündig erzählen ließe.

    Apropos Chronologie: Die Zeittafel, die zu jedem biografischen C.H.Beck-Wissen-Bändchen gehört, ist hier einerseits etwas spartanisch ausgefallen und wartet andererseits unter dem Jahr 1858 mit einem einzigen detaillierten Eintrag zur körperlichen Verfassung auf: "Wird während der Jagd von einem Bären angefallen", heißt es da, "und trägt seither eine Narbe im Gesicht. Verliert wegen schlechter Hygiene alle Zähne." Da tauchen tausend Fragen auf, die leider ohne Antwort bleiben.

    Aufschlussreich sind die beiden letzten Kapitel über Tolstoj und sein Echo in der russischen und nichtrussischen Literatur. Hier versammelt der Biograf einen ganzen Strauß von Anekdoten, persönlichen Erinnerungen und Urteilen. Wer wissen möchte, wie Stefan Zweig Tolstojs Leben und Sterben sah, was Rilke über den großen Russen, den er persönlich kennenlernte, schrieb und zu welch polemischem Urteil Thomas Mann in den "Aufzeichnungen eines Unpolitischen" kam – hier kann er sich einen Überblick verschaffen.

    Turbulent ging es zu in Tolstojs Beziehung zu seinem Gutsnachbarn Turgenjew, "eine Berg- und Talfahrt", wie Schmid schreibt, die sich offenbar aus literarischer Konkurrenz zur Duell-Forderung steigerte und erst nach sechzehnjähriger Funkstille in versöhnliches Fahrwasser geriet. Ivan Bunin, der 1933 als erster Russe den Literaturnobelpreis erhielt, verehrte Tolstoj in seiner Jugend als seinen Gott und Meister, dem er eine Zeit lang sogar als Jünger Gefolgschaft leistete. Im französischen Exil verfasste Bunin eine Hommage mit dem vieldeutigen Titel "Tolstojs Befreiung". Da ist Tschechow – für Tolstoj ein "unvergleichlicher Künstler", aber nur, was die Erzählungen betrifft: "Ihre Dramen kann ich nicht ausstehen. Shakespeare schrieb miserabel – aber Sie noch schlechter." flüsterte der alte Tolstoj seinem jungen Kollegen ins Ohr. Kompliziert gestaltete sich das Verhältnis zu Gorki. Tolstoj gefiel, dass er wirklich aus dem von ihm verehrten Volk stammte, aber seine Prosa mochte er nicht. "Zuviel Pathos und ein falsches Heilsprogramm", wie Ulrich Schmid Tolstojs Urteil lapidar wiedergibt. Gorki empfand deutlich das "ethnologische Interesse" des großen Schriftstellers: "Ich bin in seinen Augen ein Angehöriger eines Stammes, den er wenig kennt."

    Die Respektlosigkeit, mit der Gorki später über Tolstoj sprach, resultiert wohl aus der erfahrenen Zurückweisung. Der Biograf zitiert aus Gorkis Äußerungen – wir tun es auch: Denn sie enthalten zumindest ein Gran Wahrheit.

    "Wissen Sie, wer Tolstoj in Wirklichkeit war? Der heidnische Gott Pan. Er müsste sich die Hüften mit einem Fell umgürten, mit einem etwa hundert Pfund schweren Stock in Urwäldern leben, mit Bären kämpfen, mit dem Stock den Kopf eines Wolfes zerschmettern. Niemand konnte besser als er beschreiben, wie das Gras, die Bäume, die Haine, die Waldbeeren riechen. Erinnern Sie sich an seine Nase: Gigantische offene Nüstern, die alle uns unzugänglichen Gerüche einsogen. Ich sehe deutlich, wie Tolstoj, ein gigantischer, nackter, mit Haar bewachsener Gott Pan, zum Fluss geht, in dem die Mädchen baden, und von seinem Ufer aus lacht, kichert und lockt: He, ihr Mädchen, schwimmt zu mir, wie viele ihr auch sein mögt, zwanzig, dreißig, ich kann euch alle befriedigen, ich habe genug Kraft für euch alle."

    Das ist deutlich und mit Herzblut geschrieben. Ein wenig mehr Herzblut hätte auch Ulrich Schmids sehr sachliche und tadellose Biografie vertragen. Es würde dem praktikablen Wert des Büchleins keinen Abbruch tun, im Gegenteil.