Zwei Gefahren bedrohen unaufhörlich die Welt: die Ordnung und die Unordnung.
Jetzt, am Ende, diese Vermutung drängt der Wortlaut auf, sei die eine der beiden Gefahren gebannt:
alles von neuem in der wiederhergestellten, unzerstörbaren Ordnung, sogar der Wind, der von neuem bläst, die ersten Böen des Herbstwinds, die sporadisch an der Markise des Cafés zerren, sie verdrehen, blähen und mit trockenem Knattern, wie von Schüssen, wieder in sich zusammenfallen lassen.
In Kürze würde er sich von neuem eingenistet haben und uns bis zum nächsten Sommer begleiten. Bald würde er von neuem als Sturm über die Ebene brausen, die letzten roten Blätter von den Weinstöcken reißen, die unter ihm sich krümmenden Bäume vollends entlauben, eine entfesselte Kraft ohne Ziel, dazu verurteilt, sich ohne Ende, ohne Hoffnung auf ein Ende zu erschöpfen, des Nachts in einer langen Klage stöhnend, als jammere sie, als beneide sie die schlafenden Menschen, die hinfälligen, vergänglichen Geschöpfe um ihre Möglichkeit des Vergessens, des Friedens: das Privileg zu sterben.
Warum Claude Simon diesen Roman "Der Wind" genannt hat, das wird spätestens hier, am Ende des Buches, deutlich. Und auch, weshalb er das Motto von Paul Valéry vorangestellt hat. Wenn tatsächlich Ordnung und Unordnung die beiden Gefahren sind, die unsere Welt bedrohen, dann gibt es kein Entrinnen aus dieser unaufhaltsamen Bewegung zwischen diesen beiden Extremen. Es sei denn: durch das "Privileg zu sterben".
Der Wind von Claude Simon, 1958 erstmals im französischen Original erschienen, zählt zu den wichtigsten Büchern des vergangenen Jahrhunderts. Das Buch hat Literaturgeschichte geschrieben. Es war allerdings zu keiner Zeit ein Publikumserfolg. Es war wichtig für die Literatur. Denn es ist ein radikales Buch, aber auch überaus poetisch. Es ist spannend. Und die Schwierigkeiten, die seiner Lektüre einst im Wege gestanden haben mögen, die haben sich, so paradox das vorweg klingen mag, im Laufe der Zeit nahezu in nichts aufgelöst. Es fängt ganz einfach an, mit der Ankunft des Helden. Und es geht auch, im Grunde, ganz einfach weiter.
Antoine Montès hatte seinen Vater nie gesehen. Nicht einmal bei dessen Beerdigung. Niemand hielt es für nötig, den einzigen Sohn und alleinigen Erbe vom Tod seines Vaters zu benachrichtigen. Erst Wochen später - von der Testamentseröffnung war er durch ein Schreiben des Notars unterrichtet worden - kehrt Montès, als Erbe, in die kleine südfranzösische Provinzstadt zurück, die seine Mutter, fünfunddreißig Jahre zuvor, das heißt noch vor seiner Geburt, für immer verlassen hatte. Er gilt sogleich als Sonderling, weil er wenig auf sein Äußeres gibt, und, obwohl er jetzt reich geworden ist, in einem schäbigen Hotel absteigt, des öfteren, statt anständig zu essen, auf einer Parkband an Keksen knabbert und sich überhaupt kaum um die Konventionen schert, die das Leben in diesem Kaff bestimmen. Wider Erwarten zeigt er nicht das geringste Interesse an dem Vermögen, das ihn der Notar, im Auftrag eines Interessenten für die geerbten Ländereien anbietet. Er fotografiert viel, kommt mit dem Zimmermädchen des Hotels ins Gespräch, kümmert sich um deren Kinder und versucht, ohne jeden Nachdruck, seine Sache zu betreiben: also sein Erbe anzutreten.
Antoine Montès erweist sich als wahrer Sohn seiner Mutter, die es nicht lange in diesem Ort gehalten hatte. Sie ist gegangen, zwar mit ihm, aber als er noch, wie unmissverständlich heißt:
im Innern eines Bauches war, so dass er an dem teilgenommen hatte, was die einzige und unwiderrufliche Vergeltung einer Frau gewesen war, die, noch dazu unter ihrem eigenen Dach und genau in dem Augenblick, als sie dem Mann, dessen Frau sie einige Monate zuvor geworden war, verkündet hatte, dass sie ein Kind von ihm erwarte, beleidigt und verhöhnt worden war: ihn überraschend (den Mann, ihren frischgebackenen Ehemann) zwischen zwei Türen (wie zwei Hunde, sagte sie einmal, viele Jahre später, bei einer der seltenen Gelegenheiten, wo sie darüber sprach) wie zwei Tiere, in einem Flur, derart begierig, es zu treiben, dass weder er noch dieses Mädchen hatten warten können, sich nicht einmal die Zeit nahmen, zu den Dienstbotenzimmern hinaufzugehen (...), ihn also mit der Dienstmagd überraschend, die kaum Zeit gefunden hatte, ihren Rock herunterzulassen, mit puterrotem Gesicht beschämt den Kopf senkte, übrigens unnützerweise, denn sie ging weiter, setzte ihren Weg fort, als hätte sie die beiden nicht bemerkt, trat in ihr Zimmer, das sie wenig später wieder verließ, nicht einmal mit einem Koffer oder einem schlichten Reisenecessaire, sondern nur mit ihrer Handtasche, und gekleidet, als wollte sie Einkäufe in der Stadt machen, und begab sich, ohne einen Augenblick zu zögern zum Bahnhof, wo sie in den nächsten Zug stieg, der sie nach Hause bringen konnte.
Sie war nicht reich. Sie verlangte nicht die Scheidung, aber ebenso wie sie es abgelehnt hatte, ihre Tür zu öffnen, um Entschuldigungen entgegenzunehmen und vielleicht zu verzeihen, lehnte sie nicht nur die Rente ab, die ihr Mann ihr aussetzen wollte, sondern weigerte sich auch, ihn nur ein einziges Mal den Sohn sehen zu lassen, den sie zur Welt brachte.
Wie ein Spuk sind sie damals verschwunden. Die Legende war geblieben. Jetzt war er, der Sohn und Erbe, leibhaftig zurückgekehrt. Und wider Erwarten keineswegs gewillt, irgendjemanden irgendwelche Konzessionen zu machen.
Der Notar hat sich darum sehr schnell eine kernige Meinung über diesen unberechenbaren Erben gebildet:
Ein Idiot. Das ist alles. Und sonst nichts. Und alles, was man hat erzählen oder erfinden oder folgern oder erklären mögen, bestätigt nur, was jeder auf den ersten Blick sehen konnte. Einfach ein Idiot. Freilich mit dem Recht, frei herumzulaufen, mit den Leuten zu reden, Urkunden zu unterzeichnen und Katastrophen heraufzubeschwören.
Mit der Rückkehr von Antoine Montès in seine Vaterstadt beginnt Claude Simons Roman "Der Wind", der im Untertitel "Versuch der Wiederherstellung eines Barockaltars" heißt. Wie schon an den ersten Worten erkennbar wird, an eben dieser Beurteilung des Notars, bedient sich Simon einer indirekten Erzählweise.
Der Erzähler, ein Gymnasiallehrer, der Montès zufällig beim Fotografen kennen gelernt hatte, berichtet nämlich, was ihm Beteiligte, Zeugen, Nachbarn erzählt haben und vor allem natürlich, was er von Montès selbst erfahren hat. Er prüft die Berichte, spekuliert über die Gerüchte, stellt selbst seine Überlegungen an und präsentiert, was er alles zusammengetragen konnte. Das hört sich ganz selbstverständlich an und ist es wohl auch.
Doch damals, 1958, als das Buch in Frankreich erschien, machte dieses Verfahren erstaunlich viel Furore. Gerda Zeltner schrieb in einer berühmten Studie über die "Modernen Formen des französischen Romans": "Der Wind" sei "Simons erster nichtkonventioneller Roman", seine erste Variante des "Antiromans". Simon betreibe die Zerstörung des herkömmlichen Romans durch "die Auflösung der individuellen Romangestalt im Fluidum der Geschichte, die ‚niemand macht', aber auch durch die Inkohärenz des Anekdotischen."
In der Tat war mit diesem Buch Simons Frühwerk abgeschlossen. Ein neuer Abschnitt seiner Entwicklung hatte begonnen. Nur erscheint dieser Prozeß, von heute aus gesehen, weit weniger dramatisch. Sichtbar bleibt Simon noch immer seinen Vorbildern, Joyce, Proust, und - wie damals immer hervorgehoben wurde - Faulkner verpflichtet. Bei Gaeton Picon, in dem "Panorama der modernen Literatur" aus dem Jahre 1960, damals ein Standardwerk, heißt es zum Beispiel:
Claude Simons Bücher 'Le Vent' (Der Wind) und ‚L'Herbe' (Das Gras) sind vielleicht etwas zu stark von Faulkner beeinflusst, aber voller Kraft.
Auch Picon betont den Bruch mit der Tradition. Das Buch "Der Wind" bezeugt tatsächlich einen entscheidenden Schritt über den konventionellen Roman hinaus, ohne aber die überlieferten Formen bereits zu zerstören. Deshalb ist im Nachhinein die Zäsur kaum noch erkennbar. Mit Antoine Montès gibt es im "Wind" noch einen erkennbaren Helden, dessen Tun und Lassen durchaus eine als Handlung zu bezeichnende Geschehensfolge vorantreibt. Es beginnt mit der Ankunft und es endet mit seiner Abreise aus dem kleinen südfranzösischen Provinznest. Ein scheinbar chronologischer Fortgang, der sich jedoch erst bei genauerem Hinsehen auflöst. Nicht nur der Rückblenden wegen, wie etwa bei der Beschreibung der überstürzten Abreise von Antoine Montès' Mutter nach dem Seitensprung ihres frisch angetrauten Gatten. Auch nicht nur aufgrund der Verschlingung der verschiedenen zeitlichen Ebenen, was in den fünfziger Jahren noch als ein kühnes Experiment galt. Der Chronist verfügt über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er kann, scheinbar nach Belieben, dem Gang des Geschehens vorgreifen, er kann zurückblicken, resümieren, kommentieren und bewerten. Und er tut es auch.
Vor allem aber zeichnen sich in diesem Roman bereits die Verfahrensweisen ab, die später für Simon bestimmend werden sollten: die Evokation von Erinnerungen, die Fixierung auf Details, eine Übergenauigkeit in der Beschreibung, schließlich die Emanzipation der Darstellung von realen zeitlichen Abläufen.
Seit "Der Wind" wird Simon zum sogenannten Nouveau Roman gezählt, jener Gruppe von Schriftstellern um Michel Butor, Robert Pinget, Nathalie Sarraute und, den anderen voran, Alain Robbe-Grillet. Sie haben auf unterschiedliche Weise allesamt versucht, die konventionelle Erzählform mit ihrer überschaubaren Handlung, den individuellen Charakteren und ihrer psychologischen Motivierung zu überwinden. Der Nouveau Roman hat darüber hinaus jede Art der politischen Missionierung strikt abgelehnt, natürlich auch Sartres Vorstellung von einer "engagierten Literatur".
Nicht mehr die Erzählung des Abenteuers, sondern das Abenteuer der Erzählung war zu ihrer Devise geworden.
Ein solcher Ausweis von Modernität galt damals als eine Art von Auszeichnung. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Die Bezeichnung "Nouveau Roman" dient heute eher als Schimpfwort. Als Inbegriff kopflastig schwieriger, in jedem Fall langweiliger und damit eigentlich unlesbarer Literatur. Im Literarischen Quartett wurde Simons spätes Hauptwerk, die "Georgica", noch mit diesem Hinweis leichtfertig, um nicht zu sagen: unverantwortlich abgebügelt. Im Grunde ist es in Deutschland nie gelungen, Simon wirklich durchzusetzen. Obwohl sich gerade bei uns die Kritik teilweise mächtig in Zeug gelegt hat. Und auch die Verlage immer neue Versuche unternommen haben. Fünf der großen deutschen Verlagshäuser Piper, Luchterhand, Suhrkamp, Rowohlt, DuMont bemühten sich nacheinander um sein Werk. Alle gleichermaßen erfolglos. In den Ramschkästen der größeren Buchhandlungen war Simon über lange Jahre garantiert vertreten, vor allem die soliden weißen Luchterhand-Bände, darunter auch so wunderliche Ausgaben wie "Der Palast": ein Piper-Buch, das bereits mit einem Luchterhand-Schutzumschlag verkleidet ist.
Selbst der Literaturnobelpreis, den Simon 1985 bekam, hat an dieser Situation nicht ändern können. Die französische Literaturkritik soll insgeheim sogar, wie kundige Bebachter meinen, entsetzt auf die Entscheidung der Stockholmer Jury reagiert haben.
Simon, so könnte man darum vermuten, ist halt kein Autor für das große Publikum. Ein Irrtum.
Claude Simon war allerdings, das zeigt sich heute, seiner Zeit voraus. Und besonders deutlich zeigt es sich an dem Roman "Der Wind". Seine Modernität, die bei seinem Erscheinen alle Aufmerksamkeit absorbierte, steht zwar noch immer, bald ein halbes Jahrhundert später, außer Frage, aber keineswegs mehr im Zentrum. Mag das Buch die Fesseln der Zeit sprengen, die starr logischen Folge aufbrechen, und alle Kausalität hinter sich lassen, was damals als kühn galt, zählt heute längst zum Arsenal der Unterhaltungsliteratur. Die Literatur der Moderne ist selber zur Konvention geworden. Die Zeitsprünge in der Handlung stören uns nicht mehr. Sogar die Auflösung sinnhaltiger Episoden in eine lose Folge von Bildern gehört zu den üblichen Praktiken gegenwärtiger Werbung.
Die Modernität dieses Romans ist damit unauffällig geworden. Sie lässt sich noch immer problemlos heraus präparieren, aber genau so gut - dank einer durchaus ereignisvoll spannenden Handlung regelrecht - überlesen. Liebesszenen, Intrigen, Prügeleien, Mord und Totschlag und auch ein trickreiches Vorgehen einer jungen Frau, die einen Erpressungsversuch des Zimmernachbarn von Montès vereitelt:
Dann so etwas wie ein Flügelschlag, flüchtig, immateriell, ein hellbrauner Blitz vor seinem Gesicht, schneller als eine Taube, rascher als eine Ohrfeige. Da stand er da, auf dem Gehsteig, blödsinnig, einfältig, seine leere Hand betrachtend, während sie bereits den Kragen ihres Kleides wieder in Ordnung brachte, mit ihren behandschuhten Fingern leicht die Falten des Stoffs glattklopfte, unter dem, unter dem ... Und erst nach einer Weile (sich zur Ruhe zwingend, die Stimme nicht zu erheben, mit zusammengebissenen Zähnen, kaum geöffneten Lippen und mit dem Gefühl im Kopf, es müsse gleich etwas explodieren, zerfallen) gelang es ihm zu sagen: ‚Geben Sie mir das zurück!' Und dann sie, ohne jedes Lachen, ohne eine Spur von Triumph, von Ironie, mit neutraler, unpersönlicher, distanzierter Stimme: ‚Was soll ich zurückgeben?' Und er: ‚Diesen Zettel. Diese Zeilen, die Ihre Hure von Schwester ... Los. Schnell. Verstehen Sie? Geben Sie her ....' Worauf sie ihm scharf ins Gesicht schaut. Einen Augenblick. Eine Fünftelsekunde vielleicht. Ihren kalten, ausdruckslosen, nicht einmal verächtlichen, nicht einmal angewiderten Blick auf ihn richtend, und noch bevor dieser sich abgewandt hat, hört er schon auf, ihn zu sehen, ihn auslöschend, aus einem Universum stoßend, in das er offenbar nicht einmal eingedrungen ist, sich schließlich endgültig abwendend, während er mit einem raschen, verstörten Blick rings um sich die Straße umfasst, die Passanten, die Terrasse des Cafés mit den vor ihren Aperitifs sitzenden Leuten und dann mit immer noch zusammengebissenen Zähnen sagt: ‚Drecksau!', sagt: ‚Dreckige Hurensau!
Es geht, wie man sieht, auch handfest zur Sache. Simon war nie ein, anders als Butor oder Robbe-Grillet etwa, ein Theoretiker. Auch sein Erzählen ist von poetologischen Reflexionen weitgehend freigehalten. Was er sagen will, sagt er erzählend. Trotzdem lässt "Der Wind" zwei unterschiedliche Lesarten zu, je nachdem, wie man den Untertitel des Romans deutet. Der "Versuch der Wiederherstellung eines Barockaltars" kann nämlich entweder auf den Inhalt bezogen werden, die Bilder des Altars, oder auf dessen Form.
Antoine Montès wird mehrfach, und auch von verschiedenen Leuten, als Heiliger bezeichnet. Seine Lebensweise könnte durchaus ein solches Prädikat rechtfertigen. Barockaltar, so verstanden, meint damit die Heiligenlegende. Eine Lesart, die uns heute weit entgegenkommt. Der Sonderling und Aussteiger, der sich nicht nur den bürgerlichen Konventionen, sondern dem Erwerbsstreben überhaupt entzogen hat, in einem schäbigen Hotel wohnt, nachlässig gekleidet ist, absolut selbstlos agiert und darum - "Idiot" nannte ihn bekanntlich der Notar - mächtiges Befremden auslöst.
Die andere Lesart, als das Buch erstmals herauskam, sicher die vorherrschende, orientiert sich an der Form. Wie der Betrachter eines Barockaltars die dargestellten Stationen des Lebens eines Heiligen selbst erst in einen sinnvollen Zusammenhang bringen muß, so muß auch der Leser verfahren.
Denn so, sagte er mir, trug es sich zu, jedenfalls hat er es so erlebt: in dieser Zusammenhanglosigkeit, diesem brutalen, scheinbar absurden Nebeneinander von Empfindungen, Gesichtern, Worten, Handlungen. Wie einen Bericht, Sätze, denen die Syntax, die geordnete Abfolge - Subjekt, Prädikat, Objekt - fehlen würde. Wie das, wozu jeder beliebige Zeitungsartikel wird (die trübe, monotone, graue Aneinanderreihung winziger Schriftzeichen, das, worauf alles hinausläuft, was die Welt bewegt), wenn der Blick zufällig auf das zerrissene Blatt fällt, das zum Einwickeln der Lauchstangen gedient hat, und dann, durch die Magie einiger verstümmelter, unvollständiger Sätze, das Leben seine herrliche, stolze Unabhängigkeit zurückgewinnt, wieder zu jenem ungeordneten Gewimmel ohne Anfang und Ende und Ordnung wird, in dem die Wörter aufblühen, da von neuem losgelöst, befreit von der Syntax, dieser faden Gliederung, diesem als Lückenbüßer dienenden Zement, der sich für jeden Gebrauch eignet und den der Redakteur vom Dienst wie eine klebrige Bechamelssoße über alles gießt, um schlecht und recht, damit sie genießbar werden, die flüchtigen und verstreuten Fragmente von etwas zu verbinden, zusammenzukitten, was so unverdaulich ist wie eine Dynamitpatrone oder eine Handvoll zerstoßenen Glases: so dass (...) jeder von uns allmorgendlich zusammen mit den Frühstücksbrötchen seine lindernde Dosis an Morden, Gewalttaten und Wahnsinn, nach Ursachen und Wirkungen geordnet, zu sich nehmen kann (....)
In seinem Bericht also, oder vielmehr jedes Mal, wenn er mir später von jenen Tagen sprach (denn er erzählte mir das alles nur bruchstückhaft, nach und nach, und streng genommen nicht in Form eines Berichts, sondern wenn ihm dieses oder jenes Detail wieder einfiel, ohne dass man je genau wusste, warum.
Immer wieder finden sich solche Passagen. Immer wieder wird aber auch die Handlung durch spektakuläre Ereignisse vorangetrieben.
Hier zahlt sich nun die Neuübersetzung dieses Romans, der bald ein halbes Jahrhundert alt ist, vielleicht doch noch aus. Das Buch lässt sich nämlich ohne jede Schwierigkeit lesen. Es ist wirklich spannend, sogar in dem landläufigen Sinn, dass der Leser wissen will, wie wird es weitergehen und zu welchem Ende.
Deshalb ist "Der Wind" auch die beste Einführung in das Werk dieses großen französischen Schriftstellers. Man kann sich hier, von der Handlung mitgetragen, an Simons Verfahrensweisen schon einmal gewöhnen, um sich, so gewappnet, an seine Hauptwerke zu machen: "Die Straße in Flandern", die "Georgica", und hoffentlich bald auch an die deutsche Übersetzung von "Le Tramway", den letzten Roman, den der jetzt immerhin achtundachtigjährige Simon in diesem Frühjahr in Frankreich noch herausgebracht hat.
Simon lesen, das heißt: erfahren, was Literatur ist, was sie leisten kann. Das heißt: Bilder aufnehmen. Bilder, die bleiben und in uns weiterarbeiten. .
Wobei, der Tipp sei am Ende noch gestattet, es sich immer noch lohnt, in den Ramschkästen der Buchhandlungen nachzusehen. Preiswerter kommt man nie an solche große Literatur.
Jetzt, am Ende, diese Vermutung drängt der Wortlaut auf, sei die eine der beiden Gefahren gebannt:
alles von neuem in der wiederhergestellten, unzerstörbaren Ordnung, sogar der Wind, der von neuem bläst, die ersten Böen des Herbstwinds, die sporadisch an der Markise des Cafés zerren, sie verdrehen, blähen und mit trockenem Knattern, wie von Schüssen, wieder in sich zusammenfallen lassen.
In Kürze würde er sich von neuem eingenistet haben und uns bis zum nächsten Sommer begleiten. Bald würde er von neuem als Sturm über die Ebene brausen, die letzten roten Blätter von den Weinstöcken reißen, die unter ihm sich krümmenden Bäume vollends entlauben, eine entfesselte Kraft ohne Ziel, dazu verurteilt, sich ohne Ende, ohne Hoffnung auf ein Ende zu erschöpfen, des Nachts in einer langen Klage stöhnend, als jammere sie, als beneide sie die schlafenden Menschen, die hinfälligen, vergänglichen Geschöpfe um ihre Möglichkeit des Vergessens, des Friedens: das Privileg zu sterben.
Warum Claude Simon diesen Roman "Der Wind" genannt hat, das wird spätestens hier, am Ende des Buches, deutlich. Und auch, weshalb er das Motto von Paul Valéry vorangestellt hat. Wenn tatsächlich Ordnung und Unordnung die beiden Gefahren sind, die unsere Welt bedrohen, dann gibt es kein Entrinnen aus dieser unaufhaltsamen Bewegung zwischen diesen beiden Extremen. Es sei denn: durch das "Privileg zu sterben".
Der Wind von Claude Simon, 1958 erstmals im französischen Original erschienen, zählt zu den wichtigsten Büchern des vergangenen Jahrhunderts. Das Buch hat Literaturgeschichte geschrieben. Es war allerdings zu keiner Zeit ein Publikumserfolg. Es war wichtig für die Literatur. Denn es ist ein radikales Buch, aber auch überaus poetisch. Es ist spannend. Und die Schwierigkeiten, die seiner Lektüre einst im Wege gestanden haben mögen, die haben sich, so paradox das vorweg klingen mag, im Laufe der Zeit nahezu in nichts aufgelöst. Es fängt ganz einfach an, mit der Ankunft des Helden. Und es geht auch, im Grunde, ganz einfach weiter.
Antoine Montès hatte seinen Vater nie gesehen. Nicht einmal bei dessen Beerdigung. Niemand hielt es für nötig, den einzigen Sohn und alleinigen Erbe vom Tod seines Vaters zu benachrichtigen. Erst Wochen später - von der Testamentseröffnung war er durch ein Schreiben des Notars unterrichtet worden - kehrt Montès, als Erbe, in die kleine südfranzösische Provinzstadt zurück, die seine Mutter, fünfunddreißig Jahre zuvor, das heißt noch vor seiner Geburt, für immer verlassen hatte. Er gilt sogleich als Sonderling, weil er wenig auf sein Äußeres gibt, und, obwohl er jetzt reich geworden ist, in einem schäbigen Hotel absteigt, des öfteren, statt anständig zu essen, auf einer Parkband an Keksen knabbert und sich überhaupt kaum um die Konventionen schert, die das Leben in diesem Kaff bestimmen. Wider Erwarten zeigt er nicht das geringste Interesse an dem Vermögen, das ihn der Notar, im Auftrag eines Interessenten für die geerbten Ländereien anbietet. Er fotografiert viel, kommt mit dem Zimmermädchen des Hotels ins Gespräch, kümmert sich um deren Kinder und versucht, ohne jeden Nachdruck, seine Sache zu betreiben: also sein Erbe anzutreten.
Antoine Montès erweist sich als wahrer Sohn seiner Mutter, die es nicht lange in diesem Ort gehalten hatte. Sie ist gegangen, zwar mit ihm, aber als er noch, wie unmissverständlich heißt:
im Innern eines Bauches war, so dass er an dem teilgenommen hatte, was die einzige und unwiderrufliche Vergeltung einer Frau gewesen war, die, noch dazu unter ihrem eigenen Dach und genau in dem Augenblick, als sie dem Mann, dessen Frau sie einige Monate zuvor geworden war, verkündet hatte, dass sie ein Kind von ihm erwarte, beleidigt und verhöhnt worden war: ihn überraschend (den Mann, ihren frischgebackenen Ehemann) zwischen zwei Türen (wie zwei Hunde, sagte sie einmal, viele Jahre später, bei einer der seltenen Gelegenheiten, wo sie darüber sprach) wie zwei Tiere, in einem Flur, derart begierig, es zu treiben, dass weder er noch dieses Mädchen hatten warten können, sich nicht einmal die Zeit nahmen, zu den Dienstbotenzimmern hinaufzugehen (...), ihn also mit der Dienstmagd überraschend, die kaum Zeit gefunden hatte, ihren Rock herunterzulassen, mit puterrotem Gesicht beschämt den Kopf senkte, übrigens unnützerweise, denn sie ging weiter, setzte ihren Weg fort, als hätte sie die beiden nicht bemerkt, trat in ihr Zimmer, das sie wenig später wieder verließ, nicht einmal mit einem Koffer oder einem schlichten Reisenecessaire, sondern nur mit ihrer Handtasche, und gekleidet, als wollte sie Einkäufe in der Stadt machen, und begab sich, ohne einen Augenblick zu zögern zum Bahnhof, wo sie in den nächsten Zug stieg, der sie nach Hause bringen konnte.
Sie war nicht reich. Sie verlangte nicht die Scheidung, aber ebenso wie sie es abgelehnt hatte, ihre Tür zu öffnen, um Entschuldigungen entgegenzunehmen und vielleicht zu verzeihen, lehnte sie nicht nur die Rente ab, die ihr Mann ihr aussetzen wollte, sondern weigerte sich auch, ihn nur ein einziges Mal den Sohn sehen zu lassen, den sie zur Welt brachte.
Wie ein Spuk sind sie damals verschwunden. Die Legende war geblieben. Jetzt war er, der Sohn und Erbe, leibhaftig zurückgekehrt. Und wider Erwarten keineswegs gewillt, irgendjemanden irgendwelche Konzessionen zu machen.
Der Notar hat sich darum sehr schnell eine kernige Meinung über diesen unberechenbaren Erben gebildet:
Ein Idiot. Das ist alles. Und sonst nichts. Und alles, was man hat erzählen oder erfinden oder folgern oder erklären mögen, bestätigt nur, was jeder auf den ersten Blick sehen konnte. Einfach ein Idiot. Freilich mit dem Recht, frei herumzulaufen, mit den Leuten zu reden, Urkunden zu unterzeichnen und Katastrophen heraufzubeschwören.
Mit der Rückkehr von Antoine Montès in seine Vaterstadt beginnt Claude Simons Roman "Der Wind", der im Untertitel "Versuch der Wiederherstellung eines Barockaltars" heißt. Wie schon an den ersten Worten erkennbar wird, an eben dieser Beurteilung des Notars, bedient sich Simon einer indirekten Erzählweise.
Der Erzähler, ein Gymnasiallehrer, der Montès zufällig beim Fotografen kennen gelernt hatte, berichtet nämlich, was ihm Beteiligte, Zeugen, Nachbarn erzählt haben und vor allem natürlich, was er von Montès selbst erfahren hat. Er prüft die Berichte, spekuliert über die Gerüchte, stellt selbst seine Überlegungen an und präsentiert, was er alles zusammengetragen konnte. Das hört sich ganz selbstverständlich an und ist es wohl auch.
Doch damals, 1958, als das Buch in Frankreich erschien, machte dieses Verfahren erstaunlich viel Furore. Gerda Zeltner schrieb in einer berühmten Studie über die "Modernen Formen des französischen Romans": "Der Wind" sei "Simons erster nichtkonventioneller Roman", seine erste Variante des "Antiromans". Simon betreibe die Zerstörung des herkömmlichen Romans durch "die Auflösung der individuellen Romangestalt im Fluidum der Geschichte, die ‚niemand macht', aber auch durch die Inkohärenz des Anekdotischen."
In der Tat war mit diesem Buch Simons Frühwerk abgeschlossen. Ein neuer Abschnitt seiner Entwicklung hatte begonnen. Nur erscheint dieser Prozeß, von heute aus gesehen, weit weniger dramatisch. Sichtbar bleibt Simon noch immer seinen Vorbildern, Joyce, Proust, und - wie damals immer hervorgehoben wurde - Faulkner verpflichtet. Bei Gaeton Picon, in dem "Panorama der modernen Literatur" aus dem Jahre 1960, damals ein Standardwerk, heißt es zum Beispiel:
Claude Simons Bücher 'Le Vent' (Der Wind) und ‚L'Herbe' (Das Gras) sind vielleicht etwas zu stark von Faulkner beeinflusst, aber voller Kraft.
Auch Picon betont den Bruch mit der Tradition. Das Buch "Der Wind" bezeugt tatsächlich einen entscheidenden Schritt über den konventionellen Roman hinaus, ohne aber die überlieferten Formen bereits zu zerstören. Deshalb ist im Nachhinein die Zäsur kaum noch erkennbar. Mit Antoine Montès gibt es im "Wind" noch einen erkennbaren Helden, dessen Tun und Lassen durchaus eine als Handlung zu bezeichnende Geschehensfolge vorantreibt. Es beginnt mit der Ankunft und es endet mit seiner Abreise aus dem kleinen südfranzösischen Provinznest. Ein scheinbar chronologischer Fortgang, der sich jedoch erst bei genauerem Hinsehen auflöst. Nicht nur der Rückblenden wegen, wie etwa bei der Beschreibung der überstürzten Abreise von Antoine Montès' Mutter nach dem Seitensprung ihres frisch angetrauten Gatten. Auch nicht nur aufgrund der Verschlingung der verschiedenen zeitlichen Ebenen, was in den fünfziger Jahren noch als ein kühnes Experiment galt. Der Chronist verfügt über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er kann, scheinbar nach Belieben, dem Gang des Geschehens vorgreifen, er kann zurückblicken, resümieren, kommentieren und bewerten. Und er tut es auch.
Vor allem aber zeichnen sich in diesem Roman bereits die Verfahrensweisen ab, die später für Simon bestimmend werden sollten: die Evokation von Erinnerungen, die Fixierung auf Details, eine Übergenauigkeit in der Beschreibung, schließlich die Emanzipation der Darstellung von realen zeitlichen Abläufen.
Seit "Der Wind" wird Simon zum sogenannten Nouveau Roman gezählt, jener Gruppe von Schriftstellern um Michel Butor, Robert Pinget, Nathalie Sarraute und, den anderen voran, Alain Robbe-Grillet. Sie haben auf unterschiedliche Weise allesamt versucht, die konventionelle Erzählform mit ihrer überschaubaren Handlung, den individuellen Charakteren und ihrer psychologischen Motivierung zu überwinden. Der Nouveau Roman hat darüber hinaus jede Art der politischen Missionierung strikt abgelehnt, natürlich auch Sartres Vorstellung von einer "engagierten Literatur".
Nicht mehr die Erzählung des Abenteuers, sondern das Abenteuer der Erzählung war zu ihrer Devise geworden.
Ein solcher Ausweis von Modernität galt damals als eine Art von Auszeichnung. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Die Bezeichnung "Nouveau Roman" dient heute eher als Schimpfwort. Als Inbegriff kopflastig schwieriger, in jedem Fall langweiliger und damit eigentlich unlesbarer Literatur. Im Literarischen Quartett wurde Simons spätes Hauptwerk, die "Georgica", noch mit diesem Hinweis leichtfertig, um nicht zu sagen: unverantwortlich abgebügelt. Im Grunde ist es in Deutschland nie gelungen, Simon wirklich durchzusetzen. Obwohl sich gerade bei uns die Kritik teilweise mächtig in Zeug gelegt hat. Und auch die Verlage immer neue Versuche unternommen haben. Fünf der großen deutschen Verlagshäuser Piper, Luchterhand, Suhrkamp, Rowohlt, DuMont bemühten sich nacheinander um sein Werk. Alle gleichermaßen erfolglos. In den Ramschkästen der größeren Buchhandlungen war Simon über lange Jahre garantiert vertreten, vor allem die soliden weißen Luchterhand-Bände, darunter auch so wunderliche Ausgaben wie "Der Palast": ein Piper-Buch, das bereits mit einem Luchterhand-Schutzumschlag verkleidet ist.
Selbst der Literaturnobelpreis, den Simon 1985 bekam, hat an dieser Situation nicht ändern können. Die französische Literaturkritik soll insgeheim sogar, wie kundige Bebachter meinen, entsetzt auf die Entscheidung der Stockholmer Jury reagiert haben.
Simon, so könnte man darum vermuten, ist halt kein Autor für das große Publikum. Ein Irrtum.
Claude Simon war allerdings, das zeigt sich heute, seiner Zeit voraus. Und besonders deutlich zeigt es sich an dem Roman "Der Wind". Seine Modernität, die bei seinem Erscheinen alle Aufmerksamkeit absorbierte, steht zwar noch immer, bald ein halbes Jahrhundert später, außer Frage, aber keineswegs mehr im Zentrum. Mag das Buch die Fesseln der Zeit sprengen, die starr logischen Folge aufbrechen, und alle Kausalität hinter sich lassen, was damals als kühn galt, zählt heute längst zum Arsenal der Unterhaltungsliteratur. Die Literatur der Moderne ist selber zur Konvention geworden. Die Zeitsprünge in der Handlung stören uns nicht mehr. Sogar die Auflösung sinnhaltiger Episoden in eine lose Folge von Bildern gehört zu den üblichen Praktiken gegenwärtiger Werbung.
Die Modernität dieses Romans ist damit unauffällig geworden. Sie lässt sich noch immer problemlos heraus präparieren, aber genau so gut - dank einer durchaus ereignisvoll spannenden Handlung regelrecht - überlesen. Liebesszenen, Intrigen, Prügeleien, Mord und Totschlag und auch ein trickreiches Vorgehen einer jungen Frau, die einen Erpressungsversuch des Zimmernachbarn von Montès vereitelt:
Dann so etwas wie ein Flügelschlag, flüchtig, immateriell, ein hellbrauner Blitz vor seinem Gesicht, schneller als eine Taube, rascher als eine Ohrfeige. Da stand er da, auf dem Gehsteig, blödsinnig, einfältig, seine leere Hand betrachtend, während sie bereits den Kragen ihres Kleides wieder in Ordnung brachte, mit ihren behandschuhten Fingern leicht die Falten des Stoffs glattklopfte, unter dem, unter dem ... Und erst nach einer Weile (sich zur Ruhe zwingend, die Stimme nicht zu erheben, mit zusammengebissenen Zähnen, kaum geöffneten Lippen und mit dem Gefühl im Kopf, es müsse gleich etwas explodieren, zerfallen) gelang es ihm zu sagen: ‚Geben Sie mir das zurück!' Und dann sie, ohne jedes Lachen, ohne eine Spur von Triumph, von Ironie, mit neutraler, unpersönlicher, distanzierter Stimme: ‚Was soll ich zurückgeben?' Und er: ‚Diesen Zettel. Diese Zeilen, die Ihre Hure von Schwester ... Los. Schnell. Verstehen Sie? Geben Sie her ....' Worauf sie ihm scharf ins Gesicht schaut. Einen Augenblick. Eine Fünftelsekunde vielleicht. Ihren kalten, ausdruckslosen, nicht einmal verächtlichen, nicht einmal angewiderten Blick auf ihn richtend, und noch bevor dieser sich abgewandt hat, hört er schon auf, ihn zu sehen, ihn auslöschend, aus einem Universum stoßend, in das er offenbar nicht einmal eingedrungen ist, sich schließlich endgültig abwendend, während er mit einem raschen, verstörten Blick rings um sich die Straße umfasst, die Passanten, die Terrasse des Cafés mit den vor ihren Aperitifs sitzenden Leuten und dann mit immer noch zusammengebissenen Zähnen sagt: ‚Drecksau!', sagt: ‚Dreckige Hurensau!
Es geht, wie man sieht, auch handfest zur Sache. Simon war nie ein, anders als Butor oder Robbe-Grillet etwa, ein Theoretiker. Auch sein Erzählen ist von poetologischen Reflexionen weitgehend freigehalten. Was er sagen will, sagt er erzählend. Trotzdem lässt "Der Wind" zwei unterschiedliche Lesarten zu, je nachdem, wie man den Untertitel des Romans deutet. Der "Versuch der Wiederherstellung eines Barockaltars" kann nämlich entweder auf den Inhalt bezogen werden, die Bilder des Altars, oder auf dessen Form.
Antoine Montès wird mehrfach, und auch von verschiedenen Leuten, als Heiliger bezeichnet. Seine Lebensweise könnte durchaus ein solches Prädikat rechtfertigen. Barockaltar, so verstanden, meint damit die Heiligenlegende. Eine Lesart, die uns heute weit entgegenkommt. Der Sonderling und Aussteiger, der sich nicht nur den bürgerlichen Konventionen, sondern dem Erwerbsstreben überhaupt entzogen hat, in einem schäbigen Hotel wohnt, nachlässig gekleidet ist, absolut selbstlos agiert und darum - "Idiot" nannte ihn bekanntlich der Notar - mächtiges Befremden auslöst.
Die andere Lesart, als das Buch erstmals herauskam, sicher die vorherrschende, orientiert sich an der Form. Wie der Betrachter eines Barockaltars die dargestellten Stationen des Lebens eines Heiligen selbst erst in einen sinnvollen Zusammenhang bringen muß, so muß auch der Leser verfahren.
Denn so, sagte er mir, trug es sich zu, jedenfalls hat er es so erlebt: in dieser Zusammenhanglosigkeit, diesem brutalen, scheinbar absurden Nebeneinander von Empfindungen, Gesichtern, Worten, Handlungen. Wie einen Bericht, Sätze, denen die Syntax, die geordnete Abfolge - Subjekt, Prädikat, Objekt - fehlen würde. Wie das, wozu jeder beliebige Zeitungsartikel wird (die trübe, monotone, graue Aneinanderreihung winziger Schriftzeichen, das, worauf alles hinausläuft, was die Welt bewegt), wenn der Blick zufällig auf das zerrissene Blatt fällt, das zum Einwickeln der Lauchstangen gedient hat, und dann, durch die Magie einiger verstümmelter, unvollständiger Sätze, das Leben seine herrliche, stolze Unabhängigkeit zurückgewinnt, wieder zu jenem ungeordneten Gewimmel ohne Anfang und Ende und Ordnung wird, in dem die Wörter aufblühen, da von neuem losgelöst, befreit von der Syntax, dieser faden Gliederung, diesem als Lückenbüßer dienenden Zement, der sich für jeden Gebrauch eignet und den der Redakteur vom Dienst wie eine klebrige Bechamelssoße über alles gießt, um schlecht und recht, damit sie genießbar werden, die flüchtigen und verstreuten Fragmente von etwas zu verbinden, zusammenzukitten, was so unverdaulich ist wie eine Dynamitpatrone oder eine Handvoll zerstoßenen Glases: so dass (...) jeder von uns allmorgendlich zusammen mit den Frühstücksbrötchen seine lindernde Dosis an Morden, Gewalttaten und Wahnsinn, nach Ursachen und Wirkungen geordnet, zu sich nehmen kann (....)
In seinem Bericht also, oder vielmehr jedes Mal, wenn er mir später von jenen Tagen sprach (denn er erzählte mir das alles nur bruchstückhaft, nach und nach, und streng genommen nicht in Form eines Berichts, sondern wenn ihm dieses oder jenes Detail wieder einfiel, ohne dass man je genau wusste, warum.
Immer wieder finden sich solche Passagen. Immer wieder wird aber auch die Handlung durch spektakuläre Ereignisse vorangetrieben.
Hier zahlt sich nun die Neuübersetzung dieses Romans, der bald ein halbes Jahrhundert alt ist, vielleicht doch noch aus. Das Buch lässt sich nämlich ohne jede Schwierigkeit lesen. Es ist wirklich spannend, sogar in dem landläufigen Sinn, dass der Leser wissen will, wie wird es weitergehen und zu welchem Ende.
Deshalb ist "Der Wind" auch die beste Einführung in das Werk dieses großen französischen Schriftstellers. Man kann sich hier, von der Handlung mitgetragen, an Simons Verfahrensweisen schon einmal gewöhnen, um sich, so gewappnet, an seine Hauptwerke zu machen: "Die Straße in Flandern", die "Georgica", und hoffentlich bald auch an die deutsche Übersetzung von "Le Tramway", den letzten Roman, den der jetzt immerhin achtundachtigjährige Simon in diesem Frühjahr in Frankreich noch herausgebracht hat.
Simon lesen, das heißt: erfahren, was Literatur ist, was sie leisten kann. Das heißt: Bilder aufnehmen. Bilder, die bleiben und in uns weiterarbeiten. .
Wobei, der Tipp sei am Ende noch gestattet, es sich immer noch lohnt, in den Ramschkästen der Buchhandlungen nachzusehen. Preiswerter kommt man nie an solche große Literatur.