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Der würfelnde Komponist

In "Cage Stage" inspiriert und vergnügt Achim Freyers Assoziationsmaschine den Zuschauer. Und John Cage hätte sie vermutlich auch sehr gefallen, weil Humor und Tiefe hier Hand in Hand gehen. Dennoch bleiben zwei Probleme, stellt Jörn Florian Fuchs fest.

Von Jörn Florian Fuchs | 22.09.2013
    Von Robert Wilson weiß man, dass ihm sämtliche Fragen nach Sinn und Zweck seiner Inszenierungen lediglich ein mürrisches "See for yourself!" entlocken. Achim Freyer ist da deutlich freundlicher, aber wirklich schlauer machen einen seine Antworten meist auch nicht. In Linz wirkt der Meister zugleich abstrakter wie verspielter Bühnen(t)räume ohnehin zu beschäftigt, bis kurz vor Beginn seines "Cage Stage" wuselt er herum, umarmt die Mitwirkenden und huscht erst knapp nach dem Verlöschen des Saallichts auf seinen Platz. Was man ihn fragen könnte und worüber sich auch das Programmheft beharrlich ausschweigt, bezöge sich ohnehin nicht so sehr auf das nun folgende Geschehen, zu klären wäre lediglich, ob in den Vorstellungen alles immer gleich abläuft, ob alles festgelegt ist, ob improvisiert wird und wie genau die Akteure aufeinander reagieren. Doch eigentlich sind dies schrecklich langweilige Fragen. Viel wichtiger ist das Gesamterlebnis.

    Natürlich wirkt auch bei "Cage Stage" (einer Kooperation des Linzer Landestheaters mit dem Brucknerfest) Achim Freyer als sein eigener Ausstatter, wie immer gibt es geometrische Figuren, mal als Filmeinblendung, aber auch sehr konkret auf dem Bühnenboden. Hier sieht man Kreise und Bögen, auf denen teils grotesk kostümierte Charaktere vorwiegend ruhig und meditativ schreiten. Sie haben kleinere Ticks, einer führt etwa eine mehrfach wiederholte Handchoreografie auf, die unentscheidbar zwischen Spaß und Spastik schwankt. Eine Frau mit voluminöser Maske scheint vorübergehend die Anführerin der siebenköpfigen Truppe (das Berliner Freyer Ensemble) zu sein, doch vermutlich trügt der Schein. Wieder andere zeigen wundersame Verrenkungen oder nutzen ihr Mobiltelefon als luziferisches Element – statt zu telefonieren, erleuchten sie mit großen Gesten ihr unmittelbares Spielfeld.

    Während also auf der Bühne allerhand szenisches Zauberzeug dargeboten wird, kredenzen anderthalb Dutzend Musiker des Linzer Bruckner Orchesters derweil John Cage-Häppchen. Vom Solostück für Klavier, das wir zunächst mühelos dem (späten) Debussy, später dann Skriabin zugeordnet hätten, geht die Reise über ein Streichquartett und Bläserquintett bis hin zu Schlagzeugfeuerwerken und den Klimperklängen des berühmten Toy Piano. Maki Namekawa greift besonders bei den präparierten Passagen intensiv in die Tasten, sie teilt sich den Piano-Part mit Dennis Russell Davies, der auch die musikalische Gesamtleitung innehat und extra einen ganz neuen Beruf erlernte. Über einen unfassbar lauten Kran (der einem halb gedrehten, gigantischen Akkordeon ähnelt) entschwindet er zeitweise in höhere Sphären und führt dort mit einem Hämmerchen lautstark Reparaturarbeiten durch. An die Hörnerven gehen auch die in der dreiundsechzigsten Minute durch den Raum geworfenen Steine. Woher man weiß, dass es exakt die dreiundsechzigste Minute war? Ganz simpel, jede der insgesamt neunzig Minuten wird von einer sonoren Stimme angekündigt.

    Dadurch wissen wir auch, dass in Minute dreiunddreißig John Cage zum einhundertersten Geburtstag gratuliert wurde, worauf das gesamte Ensemble kurzzeitig zu Boden stürzte. Rasch war die Freyer-Welt aber wieder in bester Ordnung, ein exzellenter Kontrabassist (José Antonio Cortes Cortéz) interpretierte weitgehend ungestört "59 ½ for a String Player". Er war allerdings grauenhaft anzuschauen, da er eine horrible Fratze trug. Gesungen wurde auch, nicht nur Vokalisen von Cage, sondern ebenso "Que Sera Sera" oder manch im Umkreis von Bertold Brecht Entstandenes (herausragend die Sopranistin Esther Lee).

    Alles in allem inspirierte und vergnügte einen Freyers Assoziationsmaschine und John Cage hätte sie sie vermutlich auch sehr gefallen, weil Humor und Tiefe hier Hand in Hand gehen. Dennoch bleiben zwei Probleme. Das Eine ist die offenbar per Zufallsprinzip gesteuerte Klimaanlage, die entweder einen zu fokussierten Luftzug schickte oder die Arbeit schlicht verweigerte und damit für Gluthitze sorgte. Das Andere ist die pure Länge des Abends. Denn nach einer Stunde, Verzeihung, nach der sechzigsten Minute, ist die Luft wirklich raus. Die finale halbe Stunde schleppt und zieht sich arg. Freyers mäandernde Bildideen und Cages luzide Tontrauben münden da leider plötzlich in sehr mühsame Exerzitien.