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Der Zettel von Schabowski

Seit dem Mauerfall ist immer wieder versucht worden, die Ereignisse dieses historischen Tages zu rekonstruieren - am vergangenen Montag zum Beispiel in einer ARD-Fernsehdokumentation. Florian Huber schrieb das Buch zum Film - und bringt einen Zettel ins Spiel, der die Welt veränderte.

Von Willi Reiter | 09.11.2009
    In seinem Buch entwirft der Historiker und Filmemacher Florian Huber ein packendes Porträt dieser 24 Stunden des 9. November – von der morgendlichen Sitzung im DDR-Innenministerium, wo über eine neue Reiseregelung verhandelt wurde, über die entscheidende Pressekonferenz bis hin zur Öffnung der Grenzbäume kurz vor Mitternacht. Huber lässt zunächst zwei ehemalige DDR-Bürger zu Wort kommen. Ihre Stimmung ist resignativ, und voller Wut:

    "Die müssen abdanken, alle. So hat es keinen Sinn mehr. Die reden immer von Vertrauensverlust. Die hatten ja noch nie Vertrauen gehabt."

    "Es wird sich was ändern, aber es wird sich nicht das ändern, was das Gros der Masse will. Es wird zu wenig sein."
    So weit, so gut. Die Geschichte kennen wir bereits und wissen auch, wie sie vor 19 Jahren glücklich endete: in der Wiedervereinigung Deutschlands! Aber kann uns Florian Huber in seinem Buch auch Unbekanntes präsentieren? Ja. Huber mischt die Karten neu und wählt zwei wichtige Perspektiven, um den 9. November in seinem Ablauf fast Sekunde für Sekunde darzustellen. Zunächst verfolgt Florian Huber die Geschichte eines scheinbar unscheinbaren Zettels, der innerhalb eines Tages durch viele Hände wandert, um schließlich, fast zufällig, um bei dem einflussreichen Politfunktionär Günter Schabowski zu landen. Huber schreibt:

    Aber im Grunde war es nicht Schabowski, der am 9. November die Mauer zum Einsturz brachte. Wer die dramatischen Ereignisse dieser Nacht bis zu ihrem Anfang zurückverfolgt, kommt zu einem wenig spektakulären Verursacher: einem schlichten Zettel, der Schabowski im Verlauf des Tages in die Hand gedrückt wurde.
    Den Mikrokosmos des Buches bilden unmittelbar Beteiligte: ein Stasigrenzwächter, ein Ostberliner Liebespaar, ein Oberst der Volkspolizei und ein Westberliner Student. Außerdem lässt er den amerikanischen NBC-Moderator Tom Brokaw zu Wort kommen und den deutschen Zeitungsreporter Peter Brinkmann. Beide jagten vor 20 Jahren der Story ihres Lebens hinterher. Auch die offiziellen politischen Ebenen in West und Ost bindet der Historiker Huber in seine Darstellung ein. Ähnlich wie bei der täglichen ARD-Nachrichtensendung berichtet er abwechselnd mal aus London, dann aus Washington, Paris, Moskau oder Warschau. Vor Ort befragt Huber die Verantwortlichen, was sie damals dachten, wie sie reagierten oder, genauer gesagt: wie sie mehr oder minder hilflos das sich stündlich dramatisch veränderte Geschehen beobachteten. Der sowjetische Gesandte Igor Maximytschew:

    "Man spürte buchstäblich mit jeder Viertelstunde die Spannung steigen. Die Gefahr war sehr groß, dass da jemandem die Nerven durchgehen."
    Eine der Hauptfiguren dieses historischen Tages war Günter Schabowski - und sein schon erwähnter berühmter Zettel. Ein Schriftstück aus dem DDR-Innenministerium über die neue Reiseregelung, sie sollte die DDR vor dem Untergang retten! Angefertigt von dem jungen Funktionär Gerhard Lauter und drei weiteren Genossen. Eigenmächtig und gegen den Auftrag des Politbüros formulierten die vier Genossen auf dem Zettel die Reisefreiheit für alle. Historiker Huber:

    Sie wissen, dass sie diese Eigenmächtigkeit den Kopf kosten kann. Sie müssen davon ausgehen, dass das Politbüro feststellt, dass die erarbeitete Vorlage nicht dem Auftrag entspricht. Da beschließen vier Funktionäre aus der zweiten Reihe, die Reisefreiheit für alle DDR-Bürger zu verordnen.
    Die Bekanntmachung der neuen Reiseregelung haben die vier Genossen auf den 10. November terminiert und mit einer Sperrfrist versehen. Der Historiker Florian Huber:

    Die Genossen wissen genau, dass mit der Veröffentlichung dieser Regelung ein Ansturm auf die Pass- und Meldeämter zu erwarten ist. Daher verhängen sie eine strikte Sperrfrist über ihr Papier: Erst ab vier Uhr am Morgen des 10. November darf die DDR-Presseagentur ADN diese Meldung herausgeben.
    Doch bevor die neue, geordnete Reiseregelung in Kraft treten kann, muss sie noch Egon Krenz und dem ZK vorgelegt werden. Beide winken den Zettel anstandslos durch. Keiner begreift die Tragweite des Papiers! Günter Schabowski wirkt an diesem Tag angespannt und überarbeitet, so beschreibt ihn Florian Huber in seinem Buch und in seinem Film. Den größten Teil der ZK-Sitzung bekommt er nicht mit und somit auch nicht die Diskussion um das neue Reisegesetz. Günter Schabowski:

    "Ich bin dann wieder in die ZK-Sitzung gekommen und inzwischen haben sich diese Dinge abgespielt. Und ich setze mich neben Krenz und die Diskussion geht weiter. Und leise sprechen wir, flüstern, und er schiebt mir den Zettel rüber und dann sagt er: Mensch, hör mal, nimm das mit in die heutige Pressekonferenz."
    Über das Wesentliche uninformiert geht der frischgebackene Sekretär für Informationswesen in die Live-Pressekonferenz, den entscheidenden Zettel irgendwo in seinen Akten. Die Pressekonferenz verläuft in gewohnter langatmiger Langeweile. Florian Huber lässt Zeitungsreporter Peter Brinkmann die Situation schildern:

    "Kein Ton vom Reisegesetz - nur Parteitagsscheiße! Entschuldigung, wenn ich das so sage. Nur Gelabere, es zog sich ja über eine halbe Stunde hin, ohne Ende. Es war todlangweilig."
    Erst kurz vor Schluss der Pressekonferenz fällt Schabowski der Zettel ein, den ihm Krenz in die Hand gedrückt hat. Erneut Brinkmann:

    "Und dann fängt er an, in seinen Papieren zu suchen und findet das erstmal nicht, was ihm Krenz in die Hand gedrückt hat."
    Dass das neue Reisegesetz einer Sperrfrist unterliegt, davon wusste Schabowski nichts.

    "Also, Privatreisen ins Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen. Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte von der Abteilung entsprechende Genehmigung der Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten. Die Passfrage kann ich jetzt nicht beantworten, das ist auch eine technische Frage. Ich weiß ja nicht, die Test-Pässe müssen ja überhaupt erst einmal ausgegeben werden."

    (Frage: ) "Wann tritt das in Kraft?"

    "Das tritt nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich."
    Es dauerte nur noch wenige Stunden, bis die Mauer fiel. Wie ein Detektiv hat Florian Huber die Geschichte eines Zettels rekonstruiert, der zufällig zum Maueröffner wird. Ein simpler Zettel, der die Diktatur zu Fall bringt! Die Deutsche Einheit - ein Treppenwitz der Geschichte? Ein spannendes, ein lesenswertes Buch.

    Willi Reiter über Florian Huber: "Schabowskis Irrtum – Das Drama des 9. November". Veröffentlicht bei Rowohlt Berlin, das Buch umfasst 224 Seiten und kostet 17 Euro und 90 Cent (ISBN-10: 3871346470).