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Der Zweifel an der tatsächlichen Existenz der realen Welt

"Über uns das All" ist ein richtiger Psychothriller: Mit seiner ruhigen Kamera geht Regisseur Jan Schomburg durch das verzwickte dramaturgische Konzept seines Films. Hauptdarstellerin Sandra Hüller spielt auf dem schmalen Grat zwischen Wahn und Wirklichkeit und gibt dem Film so eine große Intensität.

Von Josef Schnelle | 15.09.2011
    Filmausschnitt "Über uns das All":
    "Also in einer Woche komm ich nach. Dann wird alles ganz wunderbar werden. Du wirst dich sehr wohlfühlen in Marseille. Und ich werd so kleine Franzosen und Französinnen unterrichten und es scheint immer die Sonne. Wir gehen an den Strand. Da sind Palmen. Wir essen Baguette. Und essen Käse, der sehr stark riecht. Und dann trinken wir sehr viel Rotwein. Und dann gehen wir auf einen Berg und schaun runter auf die Stadt, die ganz uns gehört."

    Es klingt wie eine verliebte Idylle, wie ein Traum, wie eine Utopie, aber ist all das nicht. Paul hat sein Medizin-Examen in der Tasche und einen gut bezahlten Job in Marseille. Die Lehrerin Martha malt sich eine glückliche Zukunft aus. Irgendetwas stimmt aber an diesem Dialog nicht. Die Frau schwärmt. Der Mann schweigt. Das kann nur böse enden. Eines Tages klingelt es bei der jungen Frau an der Tür.

    Draußen stehen zwei Polizistinnen und teilen ihr mit, ihr Mann habe Selbstmord begangen. Martha hält dies für absurd. Sie bittet ihn via Mailbox, das Missverständnis schnellstens aufzuklären. Doch die Seelen der Verstorbenen haben im Jenseits offenbar keinen Empfang. Marta, die immer noch nicht glauben kann, was sie nicht glauben will, macht sich empört auf die Suche nach Beweisen von Pauls Existenz. Von der Dissertation, die Pauls Ordinarius angeblich als "Meilenstein" und "Durchbruch" bezeichnet habe, und die ihm den Job in Marseille verschafft hat, scheint jedoch niemand etwas zu wissen. Der Professor kennt nicht einmal seinen Namen - bis die Dekanatssekretärin mal in die Verzeichnisse schaut.

    Filmausschnitt "Über uns das All":
    "Ja hier hab ich einen Paul Zabel." – "Ja, da ist er doch." – "Vor vier Jahren exmatrikuliert." – "Seitdem ..." – "Seitdem ist er nicht mehr eingeschrieben." – "Seitdem ist er nicht mehr eingeschrieben?"

    Allem Anschein nach hat der Mann ein Doppelleben geführt. Das Blaue vom Himmel herunter erzählt, tatsächlich aber ganz anders gelebt. Die glückliche Beziehung, die Marthas Leben bisher bestimmt hat, gerät ins Zwielicht. Sie beginnt an ihrem Verstand zu zweifeln, scheint es doch so, als habe es den Paul, den sie kennt, gar nicht gegeben, und damit auch ihre Beziehung nicht. Martha muss wohl das unglaubliche, das abrupte Ende ihrer Liebe und ihrer Lebenssicherheiten akzeptieren. Und gleichzeitig einen elementaren Verrat verkraften. Aus der coolen Selbstsicherheit der Hauptfigur wird Verzweiflung.

    Filmausschnitt "Über uns das All":
    "Die ganze Zeit bist Du irgendjemand, der du gar nicht bist. Der ist jeden Morgen aus dem Haus gegangen. Jeden Morgen."

    Hauptdarstellerin Sandra Hüller trägt die ganze Last dieser Wandlung und sie spielt auch den aus der Deckung der Selbstzweifel hervorblinzelnden Wahnsinn mit. Eine wie sie gibt es im deutschen Kino nicht ein zweites Mal. Die ganze Konstruktion des Films ist nämlich äußerst kompliziert. Es geht nicht einfach um ein spät entdecktes Doppelleben. Es geht auch nicht in erster Linie um Tod und Verlust. Es geht um den solipsistischen Zweifel an der tatsächlichen Existenz der realen Welt.

    Man mag denken: "Diesen Paul hat sie doch erfunden in ihrer Einsamkeit". Zu solchen Gedanken verführt der junge Regisseur Jan Schomburg durch das pfiffig verzwickte dramaturgische Konzept seines Films. Den schmalen Grat zwischen Wahn und Wirklichkeit erspielt Sandra Hüller in expressiven Schüben von großer Intensität. Eben noch burschikos kumpelhaft, fährt sie in der nächsten Szene aus der Haut. Zum Beispiel als sie Alexander begegnet, der Paul gekannt haben muss.

    Filmausschnitt "Über uns das All":
    "Das willst du also sehn, wenn ich aus der Haut fahr. Das interessiert dich. Das kann ich mir vorstellen. Weißte warum? Weil Du nämlich zu einer offenen Emotion überhaupt nicht fähig bist. Weil Du mehr als Dein blödes Grinsen überhaupt drauf hast. Mehr kannst Du gar nicht. Dann zeig Dich doch Mal. Zeig mir doch Mal was mit Dir iss. Du bist feige. – War das gut? – "Hat mich eigentlich nicht so überzeugt."

    Mehr und mehr überträgt Martha ihr vergangenes Leben auf den neuen Geliebten. Schomburgs Film beschäftigt sich, ähnlich wie Hitchcocks Klassiker "Vertigo", mit der Gestaltungskraft der Liebe, die ein Gegenüber erkennt, es aber auch mit aller Gewalt nach einem Wunschbild formen möchte.

    Wie weit Martha auf diesem Weg vorankommt, soll in dieser Rezension eines klugen, spannenden und vielstimmigen Film nicht verraten werden, um das Vergnügen an den überraschenden Wendungen des Films nicht zu schmälern. Über uns ist gewiss das All. Aber schaffen wir es auch, aus einem falschen ein richtiges Leben zu machen? Und wie?