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Derb, frivol und hochsakral

Francis Poulenc konnte mit unbekümmerter Freude schlüpfrige Texte für Pariser Varietés vertonen und gleichzeitig mit gläubiger Inbrunst Messen und Motetten zu Ehren Gottes verfassen. Das Label Hänssler Classic hat nun beide Seiten des Komponisten auf einer CD vereint.

Von Ludwig Rink | 29.03.2013
    Wenn ein Komponist mit Dichtern wie André Gide, Guillaume Apollinaire, James Joyce, André Breton oder Jean Cocteau gut bekannt oder befreundet war, wird man in ihm nicht unbedingt einen Schöpfer katholischer Kirchenmusik vermuten. Wenn er außerdem mit unbekümmerter Freude frivole Texte für Pariser Varietés vertont, scheint es kaum vorstellbar, dass er mit tief gläubiger Inbrunst Litaneien zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria, Messen oder Motetten für die Fastenzeit verfasst. Wieder so ein Fall von zwei Seelen, ach, in einer Brust? Wir gehen dem auf den Grund. Anlass ist eine neue CD des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart mit zwei Werken von Francis Poulenc: Einem frommen "Stabat mater" und einem Ballett mit dem zweideutigen Titel "Les Biches", was eigentlich "Die Hirschkühe", uneigentlich aber so viel wie "Leichte Mädchen" bedeutet.

    Francis Poulenc: Stabat mater, Cujus animam gementem

    Musik für Kabarett und Kirche aus derselben Feder – schrieb Francis Poulenc nur des Geldes wegen oder hatte er kein Rückgrat? Zunächst einmal hatte er Eltern mit sehr unterschiedlicher Herkunft. Die Familie seines Vaters stammte aus dem Departement Aveyron. Sie waren eifrige, praktizierende Katholiken und 1899, als Francis in Paris in der Nähe von Elysée-Palast und Madeleine-Kirche geboren wurde, als Hersteller von Arzneimitteln ziemlich erfolgreich. Seine Mutter andererseits war eine ebenso vergnügungsfreudige wie gebildete Pariserin aus einer Künstlerfamilie, die ihre Liebe zu Literatur, Malerei, Musik und Theater an den Sohn weiterreichte. Sie war eine gute Pianistin, hatte immerhin bei einem Liszt-Schüler studiert und gab ihrem Sohn erste Klavierstunden.

    Der Vater allerdings sah das mit gemischten Gefühlen, fürchtete er doch, dass der eindeutig begabte Knabe an nichts anderes als Musik mehr denken werde, und bestand darauf, dass er eine klassische französische Erziehung bekommen sollte. Immerhin hatte der junge Poulenc während der Schulzeit weiter Klavierstunden bei dem damals berühmten spanischen Pianisten Ricardo Viñes, der ihn mit Eric Satie bekanntmachte - eine folgenschwere Begegnung, die ihn 1918 zur Groupe des Six führte, einem lockeren Zusammenschluss von Komponisten um den Schriftsteller Jean Cocteau. Die Mitglieder (Milhaud, Honegger, Auric, Durey, Poulenc, Tailleferre) verband weniger ein ästhetisches Programm, sondern vielmehr die gemeinsame Ablehnung der romantischen Musik, vor allem der von Richard Wagner, aber auch die Abwendung vom musikalischen Impressionismus Claude Debussys und die Hinwendung zu zeitgenössischen Formen der Unterhaltungsmusik wie Jazz, Varieté-, Zirkus- und Tanzmusik. Solcherlei Klangwelten findet man auch in dem eindeutig-zweideutigen Ballett "Les Biches", das Poulenc mit Anfang 20 für keinen geringeren als den berühmten Impresario der Pariser "Ballets Russes" komponierte, für Serge Diaghilev.

    Francis Poulenc: Les Biches, Rag-Mazurka

    Erst in den 30er Jahren weist Poulencs Werk deutlich ernstere Töne auf. Schuld daran waren einige persönliche Lebensumstände, unter anderem 1936 der frühe Tod des Komponisten-Kollegen Pierre Octave Ferroud durch einen Autounfall und eine Pilgerreise ins südfranzösische Rocamadour, die bei ihm eine Art Wiedererweckung der einst vom Vater vermittelten religiösen Ideen zur Folge hatte. In den nächsten Jahren schreibt Poulenc mehrere bedeutende geistliche Chorwerke, u.a. die Messe in G von 1937 und die vier Bußmotetten.

    In diese Reihe gehört auch das 1950 komponierte "Stabat mater", geschrieben zur Erinnerung an seinen engen Freund, den im Jahr zuvor überraschend verstorbenen Maler und Bühnenbildner Christian Bérard. Poulenc verwendet wie eine ganze Reihe von Komponisten vor ihm den lateinischen Text der mittelalterlichen Sequenz, in der der Kummer der Mutter Jesu am Fuße des Kreuzes beschrieben wird. Mit diesem Gebet als Fürsprache wollte er, wie er selbst sagte, "die Seele des lieben Bérard der Gottesmutter von Rocamadour anvertrauen."

    Francis Poulenc: Stabat mater; Fac ut ardeat

    Bei diesem "Stabat mater" von Francis Poulenc fällt auf, dass die einzelnen Verse in sich abgeschlossene kurze Stücke unterschiedlichsten Charakters bilden. Wenn man an Poulencs frühe Varieté-Jahre denkt, könnte man gar von einzelnen Nummern sprechen. Selbst den Kunstgriff, ein Stück auf der Dominante enden und das nächste attacca anschließen zu lassen, verkneift er sich. Die Tugenden Sachlichkeit und Klarheit, einst von der Groupe des Six auf ihre Fahnen geschrieben, hält Poulenc auch hier 30 Jahre später noch hoch; das dramatische Immer-Weiter, das fiebrige Wallen der Musik Wagners ist ihm immer noch suspekt. Dann doch lieber Rückgriffe auf die alten Meister aus Barock und Klassik mit ihren architektonisch klaren Formen.

    So ist auch dieses "Stabat mater" ein Beispiel für musikalischen Neoklassizismus, der aus Anlehnung, Synthese und Verwandlung eine neue geistvolle, oft auch spielerische Musiksprache schafft, deren besondere Kennzeichen der transparente Klang und ein eher sachlicher, antilyrischer Tonfall sind. Bewundernswert bleibt, mit welcher Eleganz und Selbstverständlichkeit Poulenc die Materialien aus unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen auch in diesem geistlichen Werk wählt und zusammenbringt: banales und Erhabenes, Modernes und Traditionelles, Überraschendes und Vorhersehbares. Im vorhin gehörten "Fac ut ardeat" trat das Orchester ganz zurück und der Chorsatz lässt an frühe Mehrstimmigkeit denken. Mitten in modernen Dissonanzen vernehmen wir kirchentonale Wendungen, und er findet auch nichts dabei, die folgende Textstelle "Fac ut portem" in der alten Tanzform einer Sarabande zu vertonen: "Fac ut portem – Lass mich Christi Tod und Leiden … fühlen wie dein Mutterherz".

    Francis Poulenc: Stabat mater; Fac ut portem. Tempo de Sarabande

    "Fac ut portem" aus dem "Stabat mater" von Francis Poulenc, komponiert als Sarabande. Schaut man einmal nach, woher die Sarabande stammt, gelangt man ins Mexiko des 16. Jahrhunderts, wo offenbar einst eine Sarabande zu Fronleichnam gesungen wurde, für deren anstößigen Text sich der Verfasser vor der Inquisition verantworten musste. Und etwas später wurde die Sarabande in Spanien durch König Philipp II. zeitweise verboten, weil es sich bei der damaligen Form um einen exotischen, wilden und lasziven Paartanz gehandelt hat, zu dem unschickliche Texte gesungen wurden. Ob Poulenc davon wusste? Ob hier auch nach seiner Rückkehr zum katholischen Glauben noch einmal seine Freude an unbekümmertem Amüsement und frivolem Witz hindurchschimmert, bewusst oder unbewusst?

    Poulencs Zeitgenosse, der Musikkritiker Claude Rostand jedenfalls meinte, nicht nur das Gesamtwerk Poulencs bewege sich zwischen diesen Polen der Kirchenmusik auf der einen und der leichtfüßigen Ballette auf der anderen Seite. Sondern in jedem seiner Takte steckten Wesenszüge sowohl des Mönches als auch des Strolches. So gesehen spricht auch überhaupt nichts dagegen, wenn das Label Hänssler Classic auf ein und derselben CD das Stabat Mater und das Ballett "Les Biches" veröffentlicht. Alle Ausführenden, die Solistin Marlis Petersen, das SWR Vokalensemble Stuttgart, der NDR Chor und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der Leitung von Chefdirigent Stéphane Denève agieren auf höchstem Niveau, so dass man von einer neuen Referenzaufnahme dieser nicht allzu oft aufgeführten Werke sprechen kann.

    Francis Poulenc: Les Biches, Final. Presto

    MUSIK:
    Francis Poulenc: Stabat Mater, Les Biches
    Marlis Petersen (Sopran)
    SWR Vokalensemble Stuttgart
    NDR Chor
    Radio Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
    Leitung: Stéphane Denève
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.297