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Des Kaisers neue Kleider - keine Hommage

Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas wird in diesen Tagen 80 Jahre alt. Im Zentrum seines Werkes steht seine Diskurstheorie, die davon ausgeht, dass nicht richtig sein könne, was nicht ausreichend diskutiert und in vorgeschriebener Form beschlossen worden sei. Die Juristin und Soziologin Sibylle Tönnies unterzieht jene Diskurstheorie in ihrem Essay einer kritischen Prüfung.

Von Sibylle Tönnies | 07.06.2009
    Sibylle Tönnies veröffentlichte zahlreiche zeitkritische Bücher und Aufsätze. Die Enkelin des berühmten Soziologen Ferdinand Tönnies ist derzeit als Lehrbeauftragte mit den Schwerpunkten Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Völkerrecht an der Universität Potsdam tätig.

    Des Kaisers neue Kleider - keine Hommage
    Zum 80. Geburtstag von Jürgen Habermas
    Von Sibylle Tönnies

    Wollte man Jürgen Habermas aus Anlass seines bevorstehenden 80. Geburtstags würdigen, so wüsste man nicht, wo man anfangen und wo man aufhören soll, und die Festredner, die vor dieser Anforderung stehen, können einem leid tun:

    Kein Thema, das der große Mann nicht angefasst - und auch kein Thema, das er nicht liegen gelassen hätte - kein Standpunkt, den er nicht vertreten - aber auch wieder aufgegeben hätte. Dabei lag er häufig im Mainstream, bekam im passenden Moment noch die Kurve oder wurde wie im Historikerstreit um die historische Einmaligkeit der NS-Verbrechen in den späten 80er-Jahren zum Trendsetter einer Aufarbeitungswelle.

    Habermas bewies stets eine ausgeprägte Anschmiegsamkeit gegenüber intellektuellen Moden. Um vorweg ein aktuelleres Beispiel für seine erstaunliche Wandlungsfähigkeit zu nennen: Sein jahrelanges Reden war gewesen, dass man Konflikte nur in friedlichem Diskurs und Konsens lösen könne und dass eine Entscheidung nur dann richtig sei, wenn sie sich im Einklang mit einer vorgeschriebenen Prozedur befinde. So wird es zumindest in seiner Diskurstheorie vertreten: Was nicht ausreichend diskutiert und in der vorgeschriebenen Form beschlossen sei, könne nicht richtig sein.

    Es machte Habermas aber nur ein paar Bauchschmerzen - wie er sich selbst ausdrückte - 1995 die Nato aufzufordern, ohne langes Reden gegen den serbischen Aggressor in Belgrad kriegerisch vorzugehen. Von Diskurs und Konsens und europäischem Stil und einer vorgeschriebenen Prozedur - die UN-Charta hätte verlangt, dass ein Beschluss des Weltsicherheitsrats vorliegt - war keine Rede mehr.

    Ganz anders die spätere Haltung zum Irak-Krieg 2003, nachdem sich dieser als einzigartiger Flop erwiesen hatte und sich alle Welt über den amerikanischen Präsidenten empörte:

    "Machen wir uns nichts vor: Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern. Keine der beiden Bedingungen für einen rechtlich legitimierten Einsatz militärischer Gewalt war erfüllt; nicht die Situation der Selbstverteidigung gegen einen aktuellen oder unmittelbar bevorstehenden Angriff, kein autorisierter Beschluss des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UN-Charta ... Die Bush-Regierung hat das 220-jährige Kantische Projekt einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen mit moralischen Phrasen ad acta gelegt."

    Kaum jemand hat in den letzten Jahrzehnten das intellektuelle Selbstbewusstsein vieler junger Menschen so nachhaltig geprägt und beeinträchtigt wie Jürgen Habermas. Kritiker geben dabei zu bedenken, dass er seinen Erfolg als Sozialphilosoph auch der Schwerverständlichkeit seiner hochkomplexen Texte verdankt haben könnte.

    Wer wollte dann wagen, sie zu kritisieren, wo sie doch kaum zu packen sind. Vermutlich hat er mit seinem umfangreichen Werk junge Menschen weniger geistig erhellt als unglücklich gemacht. Sie verstehen nämlich seinen eklektizistischen Gedankengänge nicht, und scheinen dabei an sich selbst zu verzweifeln.

    Nehmen wir mal eine kleine, zufällige Textprobe, die sich mit der Volkssouveränität beschäftigt:

    "Eine wenn auch anonym gewordene Volkssouveränität zieht sich in die demokratischen Verfahren und in die rechtliche Implementierung ihrer anspruchsvollen Kommunikationsvoraussetzungen zurück, um sich als kommunikativ erzeugte Macht zur Geltung zu bringen. Genau genommen entspringt diese den Interaktionen zwischen rechtsstaatlich institutionalisierter Willensbildung und kulturell mobilisierten Öffentlichkeiten, die ihrerseits in den Assoziationen einer von Staat und Ökonomie gleich weit entfernten Zivilgesellschaft eine Basis finden."

    Dieses Phänomen gab es schon immer. Arthur Schopenhauer beschrieb es einmal so:

    "Um nun den Mangel an wirklichen Gedanken zu verbergen, machen manche sich einen imponierenden Apparat von langen, zusammengesetzten Worten, intrikaten Floskeln, unabsehbaren Perioden, neuen und unerhörten Ausdrücken, welches (...) einen möglichst schwierigen und gelehrt klingenden Jargon abgibt. Man empfängt keine Gedanken, fühlt seine Einsicht nicht vermehrt, sondern muss aufseufzen: ‚Das Klappern der Mühle höre ich wohl, allein ich sehe das Mehl nicht."

    Was eigentlich ist das Mehl, das in der Mühle jener Diskurstheorie produziert wird, mit der Habermas den Sprung auf den globalen philosophischen Gipfel schaffen sollte. Wie war dieser Sprung nur möglich?

    Welche wohltrainierten Kräfte, welche begriffliche Gymnastik des Denkens, welches Publikum gehören zu einer Gelehrtenrepublik, die in einem totalen Medienzeitalter von Image, Outfit, Lifestyle, Event, Vermarktung taktischer Vorteilssuche im kommunikativen Umfeld bestimmt werden?

    Hans Christian Andersen erzählte die Geschichte von "Des Kaisers neuen Kleidern" vor über hundert Jahren:

    " Zwei Weber kommen an den kaiserlichen Hof und behaupten, sie würden die allerfeinsten Stoffe weben, so fein, dass derjenige, der dumm sei und nicht für sein Amt tauge, sie nicht sehen könne. Tatsächlich klappern sie an den Webstühlen nur herum, ohne dass dabei ein Gewebe zustande kommt. Aber niemand im Hofstaat möchte in den Verdacht der Dummheit kommen, und jeder täuscht vor, von den Stoffen ganz entzückt zu sein. Aus den nicht-vorhandenen Stoffen werden nun Kleider für den Kaiser genäht, mit der Folge, dass er nackt durch die Straßen geht. Denn auch er mag nicht zugeben, dass er die Stoffe überhaupt nicht sehen kann. Bis ein Kind dann ruft: "Der Kaiser hat ja überhaupt nichts an!" "

    Nun würde jeder gern die suggestive Kraft besitzen, die Weber in Andersens Märchen haben. Wie macht man das, wenn man undefinierbar und ungreifbar zwischen allen möglichen und unhaltbaren Positionen herumlaviert? Dazu provoziert Habermas mindestens sechs prinzipielle Gedanken:

    Erstens: Die Rückkehr der Linken zu den westlichen Werten

    Habermas war zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle: Seine Denk- und Schreibweise hatte gewissermaßen in den siebziger Jahren ihren Kairos, wie man mit einem alten Wort sagt. Die Anerkennung, die er in den 60er-, Anfang der 70er-Jahre unter linken Intellektuellen genoss, war zunächst sehr zwiespältig. Denn innerhalb der APO war er nach einem Disput mit dem SDS-Führer Rudi Dutschke ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, als er auf einer Trauerveranstaltung für den erschossenen Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967 jeden Anflug einer voluntaristischen Strategie als "linken Faschismus" geißelte, ein böser Befund, der ihm jahrelang übel genommen wurde.

    Gleichzeitig kam ihm aber die Wertschätzung Theodor W. Adornos zugute. Mit seinen Rückgriffen auf den Historischen Materialismus, seinem neuen System-Lebenswelt-Konzept in den zum Kultbuch avancierenden "Legimitimationsproblemen im Spätkapitalismus" und seiner stets basisorientierten Partizipationskultur im Politischen stieg sein Ansehen aufseiten der Linken kontinuierlich.

    Als die sozialistische Großideologie im Verlauf der siebziger Jahre zu bröckeln begann, schlug Habermas' sozialphilosophische Stunde. Denn er konnte das Vakuum füllen, das eingetreten war. Behutsam führte er die Linken aus ihrer materialistischen Verbohrtheit heraus hin zu den westlichen Idealen - zu der Anerkennung der Demokratie und der Menschenrechte. Dies ist unbestreitbar eines seiner bleibenden Verdienste.

    Kritiker können sich dabei die bissige Bemerkung nicht verkneifen, dass die Vagheit und Inkonsistenz seines eklektizistisch verästelten Gedankengebäudes ihm dabei geholfen haben mögen. Mit geschlossenen Augen konnten die Linken an seiner Hand die nötigen Windungen vollziehen, in denen sich ihre Richtung um 180 Grad änderte, ohne dass sie irgendwo anstießen - und ohne dass sie es selber überhaupt merkten.

    Während sie noch meinten, dem historischen Materialismus treu zu sein, fügten sie sich tatsächlich schon in die westliche Gedankenwelt ein. Diese Welt aber ist idealistisch: Sie geht von universalen, metaphysisch vorgegeben Wahrheiten aus. Sie sieht ihre Maximen - die Menschenrechte, die Freiheit und die Gleichheit - als ewig gültig an. Ihr Kern lässt sich kaum schöner und zeitgemäßer als mit den Worten von Schiller beschreiben:

    "Wenn der Gedrückte nirgend Recht kann finden, greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel und holt herunter seine ew'gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst."

    Soweit Schillers "Wilhelm Tell".

    Für einen marxistisch geschulten Materialisten wäre eine solche Anbindung inakzeptabel. Für ihn ließen sich Aussagen über das gesellschaftliche Gute nicht durch den Griff nach oben, in einen imaginären Ideenhimmel, rechtfertigen. Gültige Aussagen mussten hinunter in die empirische Wirklichkeit greifen. Davon konnten die Linken nicht abgehen.

    Was gut und richtig ist, hing nach ihrer fest stehenden Auffassung allein von den jeweiligen materiellen Verhältnissen ab, die sie Produktionsverhältnisse nannten. Entscheidend war für sie die Art und Weise, auf die in einer Gesellschaft die Arbeit organisiert war. Die Arbeit war die materielle Grundlage, auf die sie alle Ideen zurück führten - auch die Menschenrechtsidee. Mit der kapitalistischen Produktionsweise - so meinten sie - würde diese keineswegs ewige Idee von der historischen Bühne verschwinden.

    Hätten sich die linken Intellektuellen bewusst gemacht, dass sie mit ihrer Zuwendung zu den demokratischen Idealen ihre philosophische Grundposition aufgaben, hätten sie sich offen revidieren müssen. Das war ihnen aber nicht möglich. Sie konnten ihre überhebliche Position als diejenigen, die schon immer Recht hatten, unter keinen Umständen aufgeben. Ihre große Philosophie - der historische Materialismus - musste ihnen erhalten bleiben. Dabei leistete Habermas die erste wichtigste und bis heute wirkungsvollste Hilfe.

    Er demonstrierte ihnen, wie sie ihren ihr Materialismus bewahren konnten: Er übernahm einen Gedanken seines Freundes Karl-Otto Apel, der behauptete, eine "Letztbegründung" des Guten und Richtigen gefunden zu haben, die ganz ohne idealistische Anleihen auskam. Dieser Gedanke wurde zur Diskurstheorie fortentwickelt und den theoretisch hilfesuchenden Linken als Wundermittel angepriesen: als Theorie, die die Richtigkeit von Wertungen begründen könne,

    "ohne dass der Idealismus wieder hergestellt wird, der mit den naturalistischen Einsichten des Historischen Materialismus unverträglich ist."

    Die materielle Grundlage, auf die Habermas sich bezog, war jetzt allerdings nicht mehr die Arbeit. Er bezog sich auf ein anderes Stück Wirklichkeit, das nicht ganz so materiell und ein bisschen luftiger ist: die Sprache. Das Sprechen, wenn es in einem geordneten Diskurs stattfinde, habe die Eigenschaft, die Ansichten, auf die man sich letzten Endes einigt, mit inhaltlicher Richtigkeit zu versehen. Ansichten könnten keine objektive Gültigkeit haben, solange sie nur von Einzelnen im stillen Kämmerlein vertreten werden. In diesem Stadium fehle ihnen noch jeder Wahrheitsgehalt. Würden sie aber ausführlich in einer Kommunikationsgemeinschaft besprochen und in einem Konsens für maßgeblich erachtet, so ströme durch diese Prozedur die Wahrheit in sie ein. Sie würden wahr-geredet.

    Die Theorie der Demokratie empfiehlt schon seit zweitausend Jahren, die großen Fragen der Gesellschaft ausführlich zu diskutieren, abzustimmen und der Mehrheitsentscheidung zu unterwerfen. Trotzdem steht Habermas Konzept quer zur abendländischen Denkweise. Die Vorstellung, dass durch das Erörtern und Abstimmen von Positionen deren inhaltliche Wahrheit produziert werde, liegt ihr völlig fern. Lediglich die politische Klugheit gebietet, dass dem gefolgt wird, was die die Mehrheit beschlossen hat. Dadurch wird es aber nicht inhaltlich richtig.

    Zweitens: Die Letztbegründung des Wahren und Guten

    Wie kann Habermas seine Vorstellung, dass sich das Wahre und Gute im Diskurs herstellen lasse, begründen? Ein paar Schritte können wir seinem Gedankengang folgen:

    Wenn Menschen miteinander sprechen, läuft neben dem, was sie ausdrücklich sagen, die stillschweigende Behauptung einher, dass sie die Wahrheit sagen. Natürlich - nur unter dieser Voraussetzung leiht ja einer dem anderen sein Ohr. Habermas hat diesen Sachverhalt - mit immer neuer Terminologie - in hundert verschiedenen Formulierungen zum Ausdruck gebracht. Eine von ihnen ist diese:

    "Wer immer sich einer natürlichen Sprache bedient, um sich mit einem Adressaten über etwas in der Welt zu verständigen, sieht sich genötigt, eine performative Einstellung einzunehmen und sich auf bestimmte Präsuppositionen einzulassen. Er muss unter anderem davon ausgehen, dass die Beteiligten ihre illokutionären Ziele ohne Vorbehalte verfolgen, ihr Einverständnis an die intersubjektive Anerkennung von kritisierbaren Geltungsansprüchen binden und die Bereitschaft zeigen, interaktionsfolgenrelevante Verbindlichkeiten, die sich aus einem Konsens ergeben, zu übernehmen."

    Das heißt: Die Menschen reden miteinander auf der Grundlage der gegenseitigen Annahme, dass das, was der andere sagt, Hand und Fuß hat. Das ist nachvollziehbar.

    Auch den nächsten Schritt der Apel-Habermasschen Letztbegründung kann man notfalls noch mitgehen: Wer in einem Gespräch absichtlich Unwahres sagt - seiner stillen Nebenerklärung, seine Rede habe Hand und Fuß, zum Trotz -, begibt sich in Widerspruch zu dieser stillen Nebenerklärung. Er begibt sich - so lässt sich konstruieren - in einen Selbstwiderspruch.

    Von dieser Grundlage aus geht die Letztbegründung einen Schritt weiter - und diesen Schritt kann ein ehrlicher Geist nicht mehr mit vollziehen. Hier wird ein Trick angewandt, der durch die Unverständlichkeit der Theorie verdeckt ist. Jetzt untersucht Habermas nämlich die Frage, warum es unmöglich sei, Falsches ohne Selbstwiderspruch auszusprechen.

    Er meint, dass sich diese Unmöglichkeit nicht anders erklären lasse, als dass die Wahrheit eine Eigenschaft des Sprechens sei. Er zaubert aus dem von ihm selbst mühsam gebastelten Selbstwiderspruch die Behauptung, dass der Wahrheitsgehalt mehr sein müsse als eine stillschweigend mitlaufende Nebenerklärung des Sprechenden - er stülpt den Widerspruch um und behauptet, die Wahrheit sei eine Eigenschaft der Sprache.

    So ließen sich die materialistischen Bedürfnisse seiner Anhänger zufrieden stellen: Nicht die an den Himmel gehefteten Ideen, sondern ein empirischer Sachverhalt - das Sprechen - ist die Quelle des Guten. Die Menschenrechtsidee zum Beispiel ist nicht kraft ihres ethischen Gehalts richtig, sondern deshalb, weil sie in Jahrhunderten wahr-geredet worden ist.

    Drittens: Die ideale Kommunikationsgemeinschaft

    Dass der Diskurs ein wahrheitsspendendes Milieu sei, dass ihm die Kraft innewohne, richtige Ergebnisse zu produzieren - eine Kraft, die dem einzelnen, nachdenkenden Subjekt fehle, kann den empirischen Erfahrungen kaum standhalten. Denn aus persönlicher wie aus historischer Erfahrung weiß jeder, dass Menschen in Kommunikationsgemeinschaften zu Übereinstimmungen gekommen sind, die man unter keinen Umständen gut und richtig finden möchte. Nehmen wir als zugegeben extremes Beispiel die Kommunikationsgemeinschaft, die 1944 im Berliner Sportpalast auf Josef Goebbels Frage "Wollt ihr den totalen Krieg?" wie aus einem Munde "Ja!" rief. Das war zwar ein eindrucksvoller und großer Konsens, dem man aber die inhaltliche Richtigkeit absprechen möchte.

    Habermas hat sich auf diesen Einwand eingerichtet. Ihm - wie bereits seinem Freund Karl Otto Apel - ist wohl bewusst, dass sich Menschen manchmal auf Dinge einigen, die sinnlos, schädlich und abscheulich sind. Er hat sich gegen diesen Einwand gefeit, indem er sagte: Solche Diskurse - aus denen Sinnloses, Schädliches und Abscheuliches herauskommt - meine ich nicht. Nur die guten Diskurse haben die Kraft die Wahrheit herzustellen. Er bezeichnete solche guten Diskurse als rationale Diskurse und unterwarf sie bestimmten Bedingungen:

    In erster Linie müssen sie herrschaftsfrei sein. Alle Beteiligten müssen sich furchtlos äußern können. Das war im Berliner Sportpalast ganz gewiss nicht der Fall. Außerdem müssten die Diskursteilnehmer über die möglichen Folgen ihrer Entscheidung komplett informiert sein. Das traf 1943 ebenfalls nicht zu. Natürlich hat das tierische Brüllen im Berliner Sportpalast mit einem rationalen Diskurs absolut nichts zu tun.

    Durch die idealisierenden Bedingungen, an die er die Kommunikationsgemeinschaft bindet, führte Habermas das Ideale, das er ja eigentlich umgehen wollte, in die Prämisse seines Konzepts ein. Er scheute sich dabei nicht, von einer "idealen Kommunikationsgemeinschaft" zu sprechen. Kurz gesagt lässt sich seine Theorie so formulieren: Nur solche Diskurse sind die Quelle des Wahren und Richtigen, die geeignet sind, das Wahre und Richtige hervorzubringen. Die Theorie ist tautologisch.

    So lässt sich auch die Demokratie nicht begründen. Unter idealisierten Voraussetzungen ist die Monarchie eine mindestens so gute Regierungsform: Wenn ein König einen hervorragenden Charakter besitzt und eine sehr gute Erziehung genossen hat, wenn er beseelt ist von dem Wunsch, seinem Volk und womöglich der Menschheit das Beste zu tun - wenn er, mit anderen Worten, der ideale König ist - kommt er zu optimalen Entscheidungen.

    Ähnlich hat der Philosoph Vittorio Hösle diesen Einwand formuliert:

    "Richtig, aber eben in einem trivialen Sinne richtig, ist die These, dass das Wahre in einem letzten rationalen Konsens von allen Vernunftwesen anerkannt werden würde. Da dieser Konsens aber nicht antizipiert werden kann, da wir nicht einmal wissen, ob es ihn je real geben wird, ist eine so gefasste Konsenstheorie der Wahrheit kriterial leer. Genauso gut könnte man sagen: Wahr ist, was von Gott oder jedenfalls einem unfehlbaren Geist als wahr anerkannt werden würde."

    Den Mängeln der Theorie wurde auch nicht dadurch abgeholfen, dass der Katalog von idealen Bedingungen, unter denen der Diskurs richtige Inhalte produziert, mit der Zeit immer länger geworden ist. Habermas-Schüler Robert Alexy, der die Zahl der idealen Bedingungen auf 28 hochgetrieben hat, konnte sich durch diese Leistung Ehrendoktorhüte aus aller Herren Länder verdienen. Der logischen Mangelhaftigkeit des Konzepts wurde damit aber nicht abgeholfen. Ein einfacher Fehler liegt vor, den die alten Griechen Hysteron-Proteron nannten: das Zweite zuerst. Das soll heißen: Das gewünschte Ergebnis einer These wird schon in ihre Prämisse hineingesteckt. Im Hintergrund hört man dazu immer noch die unaufhörlich rotierende Schellackplatte der kritischen Rationalisten, die vom logischen Erschleichen von Werturteilen sprechen.
    Viertens: Sprechen statt arbeiten

    Fassen wir zusammen: Der theoretische Aufwand - die Unterlegung des Sprechens mit einer mitlaufenden Nebenerklärung, die Konstruktion eines Selbstwiderspruchs und die Verlegung einer Schlussfolgerung in ihre Prämisse - das alles war nötig, um dem Materialismus Rechnung zu tragen. Das Ideal des Guten und Richtigen schien infolge dieser Prozedur nicht vom Himmel herunter geholt, sondern auf einen wirklichen, materiellen Vorgang gegründet zu sein: das Sprechen der Menschen.

    Im Vergleich mit der Arbeit aber, im Vergleich mit der körperlichen Einwirkung auf die Materie, auf die der historische Materialismus Bezug genommen hat, ist die Sprache ein luftiges Phänomen. Karl Marx hatte an der Arbeit ja gerade ihre Körperlichkeit geschätzt, ihre Stofflichkeit, und sein Materialismus knüpfte an einen physischen Vorgang an: den körperlichen Austausch zwischen Mensch und Natur.

    Dem gegenüber ist der Charakter der Sprache geistig; nur äußerlich ist sie mit physikalischen Vorgängen verbunden.

    An einigen Stellen wird bei Habermas erkennbar, dass er sich selbst nicht sicher war, ob die Ersetzung des Bezugspunktes Arbeit durch den Bezugspunkt Sprache der materialistischen Anforderung an Stofflichkeit wirklich genügen kann.

    So äußert er im Philosophischen Diskurs der Moderne Selbstzweifel, nämlich

    "das Bedenken, ob nicht mit dem Begriff des kommunikativen Handelns und der transzendierenden Kraft universalistischer Geltungsansprüche ein Idealismus wieder hergestellt wird, der mit den naturalistischen Einsichten des Historischen Materialismus unverträglich ist. Wird nicht eine Lebenswelt, die sich allein über das Medium verständigungsorientierten Handelns reproduzieren soll, von ihren materiellen Lebensprozessen abgeschnitten?"

    Aber müssen die Menschen nicht verhungern und verdursten, wenn sie immer nur reden? Doch, das räumt Habermas ein:

    "Natürlich reproduziert sich eine Lebenswelt materiell über die Ergebnisse und Konsequenzen der zielgerichteten Handlungen, mit denen ihre Angehörigen in die Welt intervenieren. Diese instrumentellen Handlungen sind aber mit kommunikativen insoweit verschränkt, wie sie die Ausführung von Plänen darstellen, die mit den Plänen anderer Interaktionsteilnehmer über gemeinsame Situationsdefinitionen und Verständigungsprozesse verknüpft sind."

    Habermas weist folglich darauf hin, dass die Sprache von der Arbeit nicht völlig losgelöst sei. Man könne nämlich nur dann vernünftig zusammen arbeiten, wenn man vorher miteinander die Pläne besprochen habe. Weil der Arbeit kommunikative Handlungen vorausgingen, bleibe der alte materialistische Bezugspunkt - die Arbeit - irgendwie erhalten:

    "Auf diesem Wege werden auch die in der Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit gewonnenen Problemlösungen ans Medium verständigungsorientierten Handelns angeschlossen. Auch die Theorie des kommunikativen Handelns rechnet also damit, dass die symbolische Reproduktion der Lebenswelt intern mit deren materieller Reproduktion rückgekoppelt ist."

    So ließ sich der Wechsel des materialistischen Bezugspunktes schönreden.

    Tatsächlich aber ist es keine Kleinigkeit, wenn man die Sprache anstelle der Arbeit zum Unterbau des Guten und Richtigen erklärt. Alles das, was soziologisch und ethisch die Bedeutung der Arbeit ausmacht, geht dabei verloren. Karl Marx wollte nicht die Menschen, die sprechen, sondern die Menschen, die arbeiten, in den Mittelpunkt stellen; er setzte nicht auf die "räsonierenden Schichten", sondern auf die Arbeiterklasse. Darin lag - verborgen, aber ausschlaggebend - ein moralisches Motiv:

    Es ging Marx um das Wohlergehen der Massen. Die untersten Schichten, die die körperliche Arbeit, den Stoffwechsel mit der Natur, bewerkstelligen, sollten endlich gewürdigt, dem Proleten sollte Selbstbewusstsein gegeben werden: Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will. Mit der Ersetzung der Arbeit durch die Sprache wurde diese ethische Grundlage verlassen. Die linken Intellektuellen gaben ihre Solidarität mit den Arbeitern auf und sympathisierten mit einer neuen scheinbar klassenübergreifenden Schicht: der Zivilgesellschaft.

    Fünftens: Zivilgesellschaft

    "Zivilgesellschaft" wurde zum Begriff, der die öffentliche Kommunikationsgemeinschaft bezeichnete. Er besagt eigentlich nicht mehr als das Wort "öffentliche Meinung"; in ihm kam aber eine neue Wertschätzung zum Ausdruck, die von Habermas Schülern gern angenommen wurde. Wenn alles, was die Zivilgesellschaft sagte, seine Richtigkeit hatte, wurden sie wunderbar erhoben --- denn die Zivilgesellschaft - das waren sie selber. Habermas Anhänger nahmen an der Ersetzung der Arbeit durch die Sprache keinen Anstoß, weil sie die Profiteure dieser Ersetzung waren. Anstelle der Arbeit des Proletariats wurde jetzt das verehrt, was sie selber taten: klug reden.

    Es war ja immer ein stiller Schmerz für die Intellektuellen gewesen, dass sie im marxistischen Konzept nur eine nebengeordnete Position hatten. Nicht sie, sondern die Arbeiterschaft sollte das "revolutionäre Subjekt" sein, während sie selbst beratend am Rande stehen sollte. Jetzt kamen sie endlich in den Mittelpunkt.

    Greifen wir jetzt Schopenhauers Wort wieder auf, der dem Reden der Philosophen das Wort entgegenhielt: Das Klappern der Mühle höre ich wohl, allein ich sehe das Mehl nicht. Wir können jetzt sagen: Hier ist das Mehl. Denn dies ist der Ertrag der Diskurstheorie: Die Intellektuellen können sich endlich als die entscheidende Menschenklasse verstehen.

    Sechstens: Selbstbezug

    Selbstbezug ist heute nicht nur gestattet, sondern auch erwünscht. Während man ihn - da er ins Paradoxe führt - früher mied, schmücken sich die Theorien heute gern mit Begriffen wie Selbstreferenz, Selbstreflexivität und Selbstbezug.

    Im Zusammenhang mit der Diskurstheorie wirft der Selbstbezug viele Fragen auf: Gilt die Aussage darüber, wie Gedanken wahr-geredet werden, auch für die Diskurstheorie selbst? Ist auch sie dadurch wahr geworden, dass ihr eine ideale Kommunikationsgemeinschaft - die Gemeinschaft der Habermas-Anhänger - zugestimmt hat? Oder war die Diskurstheorie schon richtig, als Karl-Otto Apel im stillen Kämmerlein ihre Grundlagen ersann?

    Im ersten Fall schließt sich die Frage an: Wenn die Habermas-Anhänger eine ideale Kommunikationsgemeinschaft bilden - ist die Tatsache, dass sie die Texte nicht verstehen und sich gegenseitig das Verständnis vortäuschen, dem Ideal abträglich? Und wie steht es mit der Herrschaftsfreiheit der von Habermas beeinflussten Kommunikationsgemeinschaft? Wenn Examensnoten und Karrieren von der Anerkennung seiner Theorie abhängen und Lehrstühle mit ihr erreicht oder verfehlt werden? Wenn derjenige befürchten muss in den Orkus der Dummheit geworfen zu werden, der zugibt, dass er die Diskurstheorie nicht versteht? Denn so sieht es heute im akademischen Milieu tatsächlich aus. Wenn Habermas auch in der strengen Philosophie nicht ernst genommen wird, so wird darüber doch nicht laut gesprochen. Niemand traut sich, wie das Kind in Andersens Märchen zu rufen: Der Kaiser hat ja gar nichts an!

    Stattdessen raunt man sich in den gelehrten Kreisen heimlich etwas ganz Anderes, völlig Irrelevantes zu: Habermas war Hitler-Junge! Das lässt sich offenbar anhand eines Zettels beweisen, den er als Junge dem späteren Historiker Wehler übergab, um ihn zu ermahnen, regelmäßig an einem Erste-Hilfe-Kursus teilzunehmen. Mit dieser Geschichte zahlen die gelehrten Kreise Habermas die Qual heim, die er ihnen bereitet. Denn im Stillen grollen sie ihm und gönnen ihm den Erfolg nicht. Sie wurden durch ihr vergebliches Ringen um das Verständnis seiner Werke und die Notwendigkeit, dieses Verständnis vorzutäuschen, gedemütigt. So fügten sie der Anekdote aus der Hitler-Jugend ein lustiges Detail hinzu:

    Habermas habe - als Wehler ihm den peinlichen Zettel später vorlegte - das Papier ergriffen, zerkaut und runtergeschluckt. Obwohl diese Geschichte nachweislich erlogen ist, taucht sie in den linken intellektuellen Zirkeln immer wieder auf; sie ist schon beinahe wahr-geredet worden, so viel wurde sie weitererzählt.

    Dies ist eine weitere Selbstbespiegelung, d.h. Rückbiegung der Theorie auf sich selbst: Vorausgesetzt, dass auch die Diskurstheorie durch zustimmende Kommunikation "wahr-geredet" worden ist - wird sie einmal unwahr werden, wenn ihre Anhänger sie fallenlassen?

    Es ist ja immerhin nicht auszuschließen, dass die jungen Kanadier, Chinesen und Afrikaner in den Universitätsbibliotheken der Welt die Habermas-Bücher, über denen sie jetzt noch unglücklich brüten, endlich zuklappen und sagen:

    "Wir haben uns genug gequält, wir wollen wieder fröhlich sein. Draußen scheint die Sonne!"