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Desaströser Befund

Deutschlands Schulsystem ist nicht gerecht, sagt Wilfried Bos. Der Bildungsforscher von der TU Dortmund ist einer der Autoren der neuen Bertelsmann-Bildungsstudie. Laut Studie ist es für Kinder aus bildungsfernen Schichten nach wie vor sehr schwierig, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen.

Wilfried Bos im Gespräch mit Manfred Götzke | 12.03.2012
    Manfred Götzke: Ein Bundesland mit guten, leistungsstarken und gleichzeitig chancengerechten, durchlässigen Schulen – gibt’s das? Nö, leider nicht! Das haben Bildungsforscher im Auftrag der Bertelsmann Stiftung in einer Studie herausgefunden. Erstmals haben sie das föderale Schulsystem nämlich gleichzeitig auf Chancengerechtigkeit und Leistung getestet. Ja, und das Ergebnis ist erschreckend: In Ländern, in denen Kinder aus bildungsferneren Familien den Bildungsaufstieg häufig schaffen, schneiden die Schüler bei PISA, IGLU und Co. eher schlecht ab, und wo viel und gut gelernt wird, ist das Schulsystem zwar durchlässig, aber nur nach unten. Besonders chancenungerecht sind dabei Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen.

    Der Bildungsforscher Wilfried Bos von der TU Dortmund ist einer der Autoren der Studie. Herr Bos, wenn man sich die Ergebnisse anguckt, bekommt man schon den Eindruck, dass man beides nicht haben kann: Entweder ist ein Schulsystem gerecht oder es ist leistungsstark. Teilen Sie den Eindruck?

    Wilfried Bos: Nein, gar nicht. Also, das wissen wir aus den internationalen Untersuchungen, Kanada kriegt das zum Beispiel sehr gut hin, die sind sowohl gerecht als auch leistungsstark, und auch innerhalb Deutschlands finden wir also auch einzelne Bundesländer, die das relativ gut hinkriegen. Sachsen zum Beispiel, hohe Anteile von Gerechtigkeit und hohe Schülerleistung ist gar kein Widerspruch. Das muss nicht sein. Das ist vielleicht überhaupt auch ein wichtiger Hinweis dieser Studie, das herauszubekommen und zu thematisieren: Das wird in Deutschland viel zu wenig … schwarz-weiß gemalt in diesem Bereich, oder entweder das eine oder das andere. Und dass wir nachweisen können, es gibt ein Sowohl-als-auch, halte ich eigentlich für wichtig.

    Götzke: Bayern und Baden-Württemberg, die sind ja einerseits bekannt dafür, dass sie bei Leistungstests besonders gut abschneiden, aber eben auch dafür, dass dort besonders viele Schüler sitzen bleiben oder vom Gymnasium zum Beispiel auf die Realschule wechseln, also Durchlässigkeit nach unten sozusagen. Da bekommt man aber eben doch diesen Eindruck, dass Aussieben Garant ist für gutes Abschneiden?

    Bos: Das kann man nicht so pauschal sagen. Wir haben da andere Indikatoren, die wir heranziehen, zum Beispiel der Anteil von Ganztagsschulen. Das ist ein guter Indikator, inwieweit erlaub ein Schulsystem zum Beispiel Kindern aus unteren Schichten, wo zu Hause das Unterstützungssystem in den Elternhäusern nicht so vorhanden ist, wie fängt dann ein Land das ab? Große Prozentteile an Ganztagsschulen ist ein guter Indikator für Gerechtigkeit. Und da schneidet allerdings Bayern tatsächlich schlecht ab, also, die Kinder aus unteren Schichten finden in Bayern relativ wenig Gymnasien, fast gar keine, die im Ganztagsbetrieb arbeiten, sodass diese Kinder nachmittags ordentlich gefördert werden könnten.

    Götzke: Lassen Sie uns noch mal einen Schritt zurückgehen: Was bedeutet Chancengerechtigkeit und wie haben Sie das gemessen?

    Bos: Also, wir haben uns auf eine sehr niedrige Messlatte eingelassen. Wir haben gesagt, also, das System ist gerecht, wenn bestehende Unterschiede durch die Schule nicht noch verschlimmert werden. Und wir haben die niedrige Messlatte genommen und eben gesagt, es darf nicht schlimmer werden durch die Schule. Und wir haben es gemessen mit 26 verschiedenen Indikatoren, zum Beispiel die Durchlässigkeit, wie ist das Verhältnis von denjenigen, die im Schulsystem aufsteigen, zu denen, die absteigen, also wie vielen gelingt es aus der Haupt-, Realschule aufs Gymnasium zu kommen, und wie viele werden vom Gymnasium abgeschult auf die Realschule, Hauptschule? Und da haben wir sehr unterschiedliche Quoten in Deutschland.

    Götzke: Was Sie gerade gesagt haben, heißt ja im Unkehrschluss: In der Regel werden bestehende Unterschiede verstärkt vom deutschen Schulsystem. – Das ist schon ein desaströser Befund?

    Bos: Ja, dem habe ich nichts hinzuzufügen. – Also, sagen wir es mal so, freundlich und positiv gewendet: Wir haben deutliche Handlungsbedarfe festgestellt.

    Götzke: Dass das deutsche Schulsystem alles andere als chancengerecht ist, das ist ja spätestens seit der ersten PISA-Studie – vor mehr als zehn Jahren war das ja – bekannt. Warum hat sich daran nichts geändert?

    Bos: Es ist in den letzten Jahren ein bisschen zu wenig thematisiert worden. Es hat sich allerdings auch was geändert, wenn ich mir überlege: Der Ausbau der Ausbau der Ganztagsschulen, der ist ja doch ein ordentliches Stück vorangekommen, allerdings sehr unterschiedlich in den Bundesländern, das muss man schon so sehen. Also, die Initiative von Nordrhein-Westfalen, also, jeder Schulamtsbezirk muss ein Ganztagsgymnasium einrichten, das ist ja schon was.

    Götzke: Wenn Sie vielleicht noch zum Abschluss unseres Gesprächs sagen können, was vor allem zu tun wäre, um Chancengerechtigkeit zu verbessern im deutschen Schulsystem?

    Bos: Also, was jetzt eigentlich passieren muss, ist, dass in jedem Bundesland geschaut werden muss, an welchen Stellen unserer Indikatoren schneiden wir eigentlich suboptimal ab und was können wir tun, um an diesen Stellschrauben zu drehen, und was können wir aus anderen Bundesländern lernen, die an diesen einzelnen Stellschrauben schon erheblich weiter gedreht haben? Diese Diskussion wollen wir anfachen und dann werden wir in ein paar Jahren überprüfen, ob an den Schrauben gedreht worden ist oder nicht.

    Götzke: Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass das passiert, dass Sie gehört werden?

    Bos: Ich denke, wir werden schon was bewegen, insbesondere, weil die Bertelsmann Stiftung diese Studie regelmäßig wiederholen will. Und ein Bundesland, was über Jahre immer wieder an der gleichen Stelle vorgeführt wird, wird sich überlegen, ob es das gut findet oder nicht.

    Götzke: Das klingt plausibel. Deutschlands Schulsystem hat erhebliche Gerechtigkeitslücken, sagt der Bildungsforscher Wilfried Bos von der TU Dortmund. Danke schön!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.