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Destillierte Märchen

Dass die SMS-Märchen von Fabian Negrin nur 36 Seiten umfassen, liegt am Medium: Nur 160 Zeichen pro Märchen sind möglich. Im Zusammenspiel mit umso inhaltsreicheren Bildern liefert Negrin alte und neu erfundene Märchen, deren Witz sich erst älteren Kindern wirklich erschließen dürfte.

Von Maria Riederer |
    Eine Prozession von Bäumen stiefelt vom Horizont bis vor die Nase des Betrachters durchs zwei Seiten große Bild. Im Vordergrund, nur als Schatten erkennbar und doch ganz klar: Hänsel und Gretel. Hand in Hand. Seltsamerweise liegen um ihre Füße herum Spielsachen. Diese Kinder leiden keine Not. Sie sind selbstbewusst und hilfsbereit.

    Viele große Bäume verliefen sich im Wald.
    Es war so finster + auch so bitterkalt.
    Da kamen Hänsel + Gretel
    + brachten alle wohlbehalten nach Hause zurück.

    Macht genau 160 Zeichen. Jedenfalls, wenn man dreimal das "und" durch ein Pluszeichen ersetzt. So lang wie eine SMS und keinen Anschlag länger durften die 13 Miniatur-Märchen sein, die der 1963 geborene Fabian Negrin mit umso inhaltsreicheren Bildern illustriert. Rosemarie Griebel hat die SMS-Märchen übersetzt.

    "Noch bevor man den Text anschaut, wird man wirklich überwältigt von den Illustrationen, das sind so scherenschnittartige, großflächige Illustrationen in schwarz-weiß, die immer mit einer Farbe unterlegt sind, und ja, das war dann erst das Zweite, dass ich dann gemerkt hab, was das für ein Text ist und dass das wirklich sehr reduzierte Märchen sind, destillierte Märchen sozusagen, und ich fand es von Anfang an sehr gut, aber ich hab auch gleich die Schwierigkeit gesehen, wie man das übersetzt, weil es einfach zum größten Teil überhaupt nicht zu übersetzen war."

    Die SMS Märchen bestehen aus weit mehr als 160 Zeichen, denn Illustrationen fesseln schon, bevor der Text überhaupt ins Bewusstsein rückt: Auf einem Bild kniet ein Jäger vor seinem Kaiser. Kraniche und zart blühende Bäume vor einem mondlichtblauen Gebirge versetzen den Betrachter in die Märchenwelt der chinesischen Nachtigall. Das dazugehörige Märchen, das sich fast in einer Ecke versteckt, beendet die geheimnisvolle Atmosphäre mit deftigen Wortspielen, die Rosemarie Griebel mit leichter Hand übertragen hat.

    Der Kaiser wünschte sich 1 Rhinozeros.
    Woran erkenne ich es?, fragte der Jäger.
    Am Horn vorm Hirn.
    Am Hirn vorm Horn?
    Du bringst alles durcheinander, Hirnochse!

    Im Originaltitel des Buches "Favole al telefonino" steckt für die italienischen Leser eine kleine Botschaft, die nicht ins Deutsche übersetzt werden konnte.

    "Da gibt es einen Bezug zu Gianni Rodari, das ist ein italienischer Autor, den eigentlich jedes italienische Kind kennt, und der hat "Favole al telefono" geschrieben, in den 60er-Jahren, und damals, ging es um einen Handelsvertreter, Signor Bianchi, der jeden Abend, punkt neun Uhr seine kleine Tochter angerufen hat, um ihr von unterwegs eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen, und die Geschichte musste kurz sein, da das Telefonat ansonsten zu teuer geworden wäre."

    Aus dem Telefon ist bei Fabian Negrin das Handy geworden – das "telefonino". Schon auf dem Cover tippt ein kleines, schmächtiges Kind Gedanken versunken eine SMS in sein Handy, während Hexe, Wolf und eine Elfe ihm neugierig über die Schulter schauen. Negrin ging es in seinem Projekt, wie auch im Leben, nicht um Schnelligkeit – wie dem sparsamen Signor Bianchi – sondern um Kürze.

    "Er hat wohl ein Handy, allerdings ist er eher ein Vertreter der Entschleunigung, und mit den SMS-Märchen - das sollte auch kein Tribut an unsere schnelllebige Zeit sein, sondern im Gegenteil, er wollte zeigen, dass man mit SMS auch ganz kreativ umgehen kann und dass man, wenn man jetzt immer auf dieses Handy starrt, auch was anderes machen kann als immer diese kurzen nichtssagenden Botschaften zu verschicken und - ja, er ist eigentlich kein Vertreter der schnellen Zeit."

    Eilig hatte es der Autor auch beim Verfassen von der SMS-Märchen nicht. Sie entstanden auf Bahnreisen – in möglichst langsamen Zügen – zwischen Mailand und Bologna. Auf seinem Handy verfasste er die Kurzgeschichten und schickte sie an seine Freundin. Zeit musste auch die Übersetzerin mitbringen, um mit 160 Zeichen Handlung, Stimmungen und einen Bezug zum Bild herzustellen.

    "Ich hab es erst mal wörtlich übersetzt, um die Geschichte so rüberzubringen, und dann war sie natürlich immer viel zu lang. Und dann hab ich natürlich auch mit den bekannten SMS-Kürzeln gearbeitet, mit dem Pluszeichen und der 8 zum Beispiel aber diese Zeichen hat Fabian Negrin selber auch ganz sparsam verwandt. Und ich hab immer wieder gezählt, bis es schließlich gestimmt hat, und durch dieses ständige Überarbeiten, ist der Text dann langsam entstanden. Ich weiß nicht, wie viele Versionen ich von diesen SMS Märchen zu Hause habe, weil ich alle möglichen Sachen ausprobiert hab, auch neu erfinden musste und - also das ist schon auch ne ganz andere Arbeit, die aber sehr, sehr viel Spaß macht."

    Puristen bringen den Sprachfragmenten in SMS, Twitter und Facebook oft großes Unbehagen entgegen, Hans Zehetmair Vorsitzender des Rats für deutsche Rechtschreibung, warnt sogar von "Fetzenliteratur". Der Verlag "Mixtvision", der die SMS-Märchen herausgegeben hat, glaubt dagegen offenbar an die anregende Wirkung solcher Kurztexte. Auf der letzten Seite des Buches werden die Leser aufgefordert, sich selbst Kurz-Märchen in 160 Zeichen auszudenken und sie – natürlich per SMS einzuschicken. Die besten Einsendungen werden abgedruckt. Ein Beispiel:

    Müllerstochter soll Stroh zu Gold spinnen+Prinzessin werden. Kann sie aber nicht. Zwerg hilft+will zum Lohn ihr 1.Kind. Gibt sie aber nicht. Vor Wut zerreißt’s ihn.

    "Es gibt ja zum Beispiel in Frankreich ein Projekt, wo mittels Twitter lesen und schreiben gelernt wird und die Kinder mit 140-Zeichen-Sätzen wirklich lesen und schreiben und offensichtlich viel Spaß und auch viel Erfolg damit haben. Also, das glaub ich nicht, dass davon so ne große Gefahr von ausgeht."

    Fabian Negrin hat sich zum Grimm-Jahr 2012 nur zum Teil an den großen Vorbildern der beiden Brüder orientiert. Der Großteil seiner SMS-Märchen sind eigene Erfindungen. Neben den amüsanten und überraschenden Pointen mancher Märchen gibt es aber auch – wieder nach guter alter Märchentradition – einiges zum Gruseln.

    Es war 1mal 1 finsterer Wald. In dem lag 1 Höhle. Darin saß der Tod.
    Jedem, der 1trat, erzählte er 1 Geschichte: Einst warst du wer – jetzt bist du nicht mehr.

    "Es sind natürlich ganz andere Märchen, aber es ist immer noch als Erzählkern da, und durch seine Illustrationen werden die Archetypen noch mal dargestellt, sodass man automatisch, wenn man den Wolf und ein kleines Mädchen sieht, an Rotkäppchen denkt, auch wenn die Geschichte dann völlig anders ist."

    Es war einmal 1 Kind
    das glaubte nicht an Wölfe
    Im Wald begegnete es 1 Tier.
    Platz!, befahl es.
    GRRR! – knurrte der Wolf + verschlang es.
    Er glaubte nicht an Kinder.

    "Ich denke, Märchen sind immer verändert worden, die gibt es ja als Gedicht, als Oper, als Film, als Theaterstück, und jede Form brachte natürlich auch eine Veränderung mit sich, und das SMS Märchen ist eben auch eine Form, ein Märchen ganz kurz und knapp, aber trotzdem mit Anfang, Verlauf und Ende zu erzählen, sodass der Leser die Geschichte durchaus in der kurzen Form auch kapiert."

    Die SMS-Märchen von Fabian Negrin sind kein klassisches Bilderbuch. Den besonderen Witz einiger Texte und das besondere Zusammenspiel von Wort und Bild wird sich erst älteren Kindern wirklich erschließen. Und die Anregung, selbst Märchen in 160 Zeichen auszuprobieren, dürfte selbst Erwachsene für weit mehr als ein paar Minuten beschäftigen.


    Fabian Negrin: SMS Märchen
    Aus dem Italienischen von Rosemarie Griebel-Kruip
    Mixtvision,
    36 Seiten, Euro 13.90