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Detailgenaue Beobachtungen von Ausnahmezuständen

In seinen Reiseberichten schildert der Orientalist Navid Kermani die Gettoisierung von Muslimen in der indischen Provinz Gujarat, den lebendigen Sufismus in Pakistan, aber auch die turbulenten Tage nach der iranischen Präsidentschaftswahl.

Von Stephanie Rohde | 25.02.2013
    Es ist eher ungewöhnlich, dass der Autor eines Sachbuchs im vorletzten Kapitel kapituliert. Doch bei seiner Reise durch Palästina gibt Navid Kermani einfach auf, als er bemerkt, dass ihm das Verständnis für die israelische Seite verloren gegangen ist. Seine Schilderungen über das Leben der Palästinenser werden zunehmend parteiisch, klingen verbittert und zynisch. Doch Kermani rettet sich, indem er seine Einseitigkeit thematisiert. Ein wichtiger Punkt in seinem Buch, lässt er doch die Stärke der anderen hier gesammelten Reportagen noch mehr zum Vorschein treten: Normalerweise urteilt Kermani nicht, er beschreibt. So beispielsweise im afghanischen Kandahar. Dort lädt ihn ein ehemaliger Taliban zu sich nach Hause ein. Beim gemeinsamen Abendessen begegnet der Orientalist Kermani seinem Gesprächspartner so, wie er allen gegenübertritt: fragend.

    "Sind westliche Zivilisten für Sie legitime Angriffsziele?
    - Nur wenn sie gegen den Islam kämpfen …antwortet Moulawi Abdolaziz.
    Ob er seinen Entschluss bereue, sich dem Frieden angeschlossen
    zu haben?
    - Und ob er ihn bereue! antwortet Abdolaziz, ohne zu zögern. Aber zurück könne er auch nicht, die Taliban tränken schon sein Blut."


    Es sind Dialoge wie dieser, die dem Leser das Gefühl vermitteln, unmittelbar dabei zu sein, als säße man selbst neben dem Tee trinkenden Ex-Taliban. Besonders angenehm ist dabei, dass Kermani nie als überheblicher westlicher Intellektueller auftritt, sondern als ebenbürtiger Diskussionspartner und Beobachter. Auch das ermöglicht einen unverstellten Blick auf den Nahen Osten. Von Kaschmir über Iran bis nach Lampedusa: Kermani ist viel gereist in den vergangenen Jahren. Jede Reise bildet ein Kapitel, das seinerseits wieder unterteilt ist in einzelne Reportagen. Der studierte Islamwissenschaftler berichtet über die Gettoisierung von Millionen von Muslimen in der indischen Provinz Gujarat, über den lebendigen Sufismus in Pakistan, aber auch über die turbulenten Tage nach der Präsidentschaftswahl im Iran. Die nicht chronologische Abfolge der zehn Reportagen scheint auf den ersten Blick chaotisch zu sein. So folgt Palästina 2005 auf Syrien 2012 und Lampedusa 2008. Doch, sagt Kermani, die Reisen verbinde eine innere Logik:

    "Plötzlich war das Buch wie eine Landkarte vor mir und ich merkte, eigentlich habe ich eine Reiseroute verfolgt. Ich bin kein Historiker, der ein Geschichtsbuch machen will, aber all die Länder, die ich beschreibe, haben einen inneren Zusammenhang mit den europäischen Konflikten."

    Wirklich neu sind die Tatsachen nicht, die Kermani berichtet. Und auch die hier zu lesenden Reportagen sind schon in verschiedenen Zeitungen erschienen. Trotzdem wird es auch beim erneuten Lesen nicht langweilig. Denn die Kombination aller Reportagen erzeugt einen Mehrwert: Weil Kermani einige Länder mehrmals bereits hat, erfährt der Leser, was sich vor Ort verändert hat: Jetzt stehen auch widersprüchliche Eindrücke nebeneinander. Somit ist dieses Buch mehr als nur Recycling von verlängerten Zeitungsreportagen. Kermani zeigt etwas, das in der Berichterstattung meistens untergeht: Wie sich die Konfliktlagen verändern und wie differenziert die Meinungen der Afghanen, Syrer oder Kaschmiris sind. Es ist Kermani hoch anzurechnen, dass er nicht planlos von Krise zu Krise reist. Anders als der Titel "Ausnahmezustand" vermuten lässt, ist dies keine Aneinanderreihung atemloser Berichte eines Katastrophentouristen. Vielmehr bildet Kermani die Normalität des Ausnahmezustands ab. Und das gerade bei Konflikten, die kaum noch in der Berichterstattung auftauchen, wie der in Kaschmir beispielsweise. Und obwohl schon vieles bekannt ist, was er beschreibt: Er traut sich auch, gemeinhin anerkannte Interpretationen eines Konflikts auf den Kopf zu stellen. So überrascht er mit seinen Einsichten aus Syrien vom September 2012. Die meisten Syrer hätten Schreckliches erlebt,

    "Und doch sprechen sie nicht von Vergeltung, sondern schwärmen von Damaskus als der ältesten Stadt der Welt, die niemals einer einzelnen Volksgruppe oder Religion gehört habe, sympathisieren zwar mit den Rebellen, aber kritisieren deren Strategie des Häuserkampfes und betonen, dass sich ihr Zorn gegen das Herrscherhaus richte, nicht gegen die Alawiten."

    "Das hat mich schon sehr stark beeindruckt, nachdem was die Menschen erlebt haben, dass immer noch Menschen jeden Tag unter großer Gefahr gewaltfrei für die Freiheit kämpfen, auch wenn wir jetzt sehr stark den militärischen Aspekt wahrnehmen."

    Durch Zufall stößt Kermani auf ein Krankenhaus, das beim Einmarsch der Armee verwüstet wurde. Hier wurden Patienten einige Tage zuvor von den Milizen regelrecht hingerichtet; die Einschusslöcher sind noch in den Betten zu sehen. Es ist einer der exklusivsten und schockierendsten Berichte, die dieses Buch zu bieten hat. Doch der Romanautor Kermani liefert auch hier mehr als nur schockierende Bilder.

    "Der Aufstand in Syrien wirbelt die eingefahrenen Muster auch unserer Wahrnehmung durcheinander. Das strikt säkulare, seinem ganzen Habitus nach weltliche Regime hat als Hauptsponsor eine islamische Theokratie, während der Westen aufseiten einer Opposition steht, die jedenfalls in Teilen dezidiert religiös ist. Vollkommen weltläufig wirkende, perfekt Englisch sprechende Syrer fordern, dass die Armee die Aufständischen mit eisernem Besen aus dem Land kehrt, während bärtige Männer und streng verschleierte Frauen ihre Hoffnung auf die Demokratie setzen."

    Wer die in Trümmern Schach spielenden Syrer, ausgehungerte Bootsflüchtlinge auf Lampedusa und die Bewohner des Kabuler Friedhofs kennenlernen möchte, der sollte Kermanis atmosphärischen Reportage-Band lesen. Seine sehr einfühlsamen Schilderungen hinterlassen einen tiefen Eindruck. Das liegt auch daran, dass er es vermag, die weltpolitische Bedeutung unscheinbarer Details poetisch einzufangen:

    "Für seine Gastfreundschaft ist Afghanistan noch immer weltberühmt, behaupte ich. Später bemerke ich, wie der Hadschi unauffällig meine Schuhe herumdreht, die Ferse zum Teppich. Das ist in Afghanistan üblich, damit die Gäste beim Gehen leichter in ihre Schuhe hineinschlüpfen können. Auch auf diese Geste sollte die Welt in Afghanistan achten."

    Navid Kermani: "Ausnahmezustand - Reisen in eine beunruhigte Welt", Beck-Verlag, 253 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-40664-664-5