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Detect Classic
Festival-Feeling in früherem Panzerwerk

Wo früher Waffen entwickelt wurden, hat nun die Kultur Einzug gehalten. Beim neuen Detect Classic Festival in den Rüstungshallen am Tollensesee trifft klassische Musik auf Elektro. Spaß und Atmosphäre sind hier wichtiger als Repertoirekenntnisse. Das spiegelt sich auch im Publikum wider.

Von Franziska Buhre | 29.07.2019
    Zuschauer sitzen vor einer in lila und blau angestrahlten Bühne, auf der ein DJ und ein Gitarrist musizieren
    Bei einigen Auftritten saß das Publikum ungezwungen auf dem Boden (Deutschlandradio / Franziska Buhre)
    Schon der Aufbau ist beeindruckend: Vor dem Orchester steht ein Rechteck aus Vibraphon, Marimba, chinesischen Trommeln, Gongs aus Thailand, Windspiel aus Bambusstäben, Holzblöcken und ein Pult mit den verschiedensten Schlägeln. Mittendrin bewegt sich der Perkussionist Alexej Gerassimez wie ein Tänzer und spielt in dem Konzert des chinesischen Komponisten Tan Dun schließlich die Paigu, ein Set von Trommeln aus der Peking-Oper.
    Die Junge Norddeutsche Philharmonie unter Leitung von Jonathan Stockhammer genießt diese schlagkräftige Eröffnung des Detect Classic Festivals in der Neubrandenburger Konzertkirche sichtlich. Und der Perkussionist Alexej Gerassimez zieht die Besucherinnen und Besucher sehr direkt in seinen Bann. Dafür braucht es keine Vorkenntnisse. Das sagt auch Konstantin Udert, Geschäftsführer der Jungen Norddeutschen Philharmonie und Mit-Initiator des Festivals.
    "Das wichtigste ist uns die Offenheit gewesen, Dinge neu zu entdecken, zu erforschen, als anspruchsvoller Prosument auch die Veranstaltung zu besuchen und voraussetzungslos daran teilhaben zu können."
    Atmosphäre bestimmt den Spielplan
    Das Konzert für Schlagwerk und Orchester mit dem Titel "The Tears of Nature" schlägt auch eine Brücke zum Festivalgelände am Tollensesee. Die Musikerin Pokka taucht den Sonnenuntergang auf der Freiluftbühne in lässige elektronische Ambient-Beats.
    "Wir haben uns Programm-Slots überlegt, die hießen dann so 'voll schön', oder 'gemütliches Ambiente' und haben dann versucht, die Gefühle zuzuordnen. Das, was an diesem Festival spannender ist als Idee ist nicht, dass sich die klassische Musik irgendwie in einem neuen Kontext bewegt, sondern dass ich verschiedene Universen auf einem Festival habe."
    Die Universen sind, etwas vereinfacht, klassische und elektronische Musik. Nicht das Repertoire bestimmt den Spielplan, sondern welche Atmosphäre mit der Musik kreiert werden kann.
    "Es ist eine so tolle Mischung, mir gefällt auch das Publikum so. In den anderen Event-Orten ist es doch so, dass wir Grauköpfe überwiegen und hier ist es eine tolle Mischung, das finde ich richtig gut", sagt eine Besucherin, die extra aus Hamburg angereist ist.
    Am ersten Festivalabend spielen die unterschiedlichsten Musikerinnen und Musiker in der großen, ehemaligen Industriehalle im Raum verteilt. Alle sind individuell gekleidet, viele barfuß, das Publikum sitzt am Boden oder ist eingeladen, sich zwischen den Musikern zu bewegen.
    Besucher des Detect Classic in den Hallen des einstigen Panzerreparaturwerks in Neubrandenburg am Tollensesee
    Die Hallen des einstigen Panzerreparaturwerks bieten eine besondere Atmosphäre (Deutschlandradio / Franziska Buhre)
    Beethovens 3. Sinfonie wird mit Schlagzeug und E-Gitarre angereichert, Evi Filippou spielt Vibraphon und singt auf Griechisch, Solos gehen fließend in Ensemblestücke über.
    Kultur in ehemaligem Rüstungsbetrieb
    Ob die Bezeichnung Jazz Chanson nun passt oder ob man die Streichermusik einer bestimmten Epoche zuordnen kann, gerät angesichts des Konzerterlebnisses wohltuend in den Hintergrund. Man muss auch nicht wissen, dass die Stücke für Flötentrio von Friedrich Kuhlau stammen, um sich von der Musik bei der Bootsfahrt auf dem Tollensesee am Samstag, in Begleitung des Schiffsmotors, beschwingen zu lassen.
    "Es ist eben auch die Natur, der Badesee und die Art, dieses Wochenende gemeinsam zu erleben. Es ist auch eine Idee, die uns sehr gefällt, dass wir in einem ehemaligen Rüstungsbetrieb sind, also ein Gelände mit einer sehr belasteten Geschichte. Das gefällt uns auch unglaublich gut, dass hier jetzt Kunst und Kultur Einzug erhält und dass wir auf diesem Gelände die Möglichkeit haben, neuen Geist einzuhauchen."
    Konstantin Udert spricht die dunkle Seite der Geschichte an. Die Nationalsozialisten errichteten die Hallen im 2. Weltkrieg, um Torpedos zu entwickeln und im See zu testen, in der DDR wurden auf dem Gelände Panzer repariert, Tausende Neubrandenburger waren in dem Rüstungsbetrieb beschäftigt. Heute betreibt der US-amerikanische Panzerhersteller General Dynamics ein Werk im Landkreis, Kunden sind internationale Streitkräfte und die Bundeswehr.
    Umso wichtiger, dass die Hallen am Tollensesee friedlich genutzt und zugänglich werden. Ein Eigentümer öffnete seine Halle großzügig für Orchesterproben inmitten einer Oldtimer-Sammlung, in einer anderen betreibt ein Verein eine Galerie für moderne Kunst. In der Haupthalle auf dem Festivalgelände stehen sonst Boote. Die klassische Bühne mit schwarzen Vorhängen und die Skulpturen aus bunten Stoffen und Holz oder die Lichterketten und Girlanden aus Krawatten vor der Halle verbinden Verspieltheit mit den bestmöglichen Bedingungen für die musikalische Praxis. Außerdem gab es ein Kino mit ikonischen Szenen der Filmgeschichte, die mit klassischer Musik untermalt sind.
    Die Qualität des Festivalprogramms mit elektronischer Musik reichte noch nicht an das Niveau der Jungen Norddeutschen Philharmonie, des Stegreif Orchesters und des Ensembles Reflektor heran. Techno kann zwar direkt tanzbar und, mit akustischen Instrumenten gespielt, auch wahrhaftig sein. Doch Musiker, und vor allem Musikerinnen, die experimentell und raffiniert elektronische Konzerte gestalten, waren bei Detect Classic eher noch nicht vertreten.
    Die Grundrichtung aber stimmt und mit etwa 1.000 Besucherinnen und Besuchern kann sich das Festival deutschlandweit sehen lassen. Wo sonst treffen Klassik-Liebhaber und kreative Freigeister aufeinander? Detect Classic ist dank der Fördermittel aus dem Etat der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und anderer Partner für weitere zwei Jahre gesichert. Am letzten Juli-Wochenende steht also fortan Neubrandenburg im Festivalkalender.