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Deutsch-deutscher Teufelskreis aus Vorwurf und Vorurteil

Der Philosoph und Theologe Richard Schröder ist einer derjenigen, die die deutsche Wiedervereinigung geschmiedet hat. Als Fraktionsvorsitzender der SPD saß er in der ersten und letzten frei gewählten DDR-Volkskammer. Mit seinem Buch "Die wichtigsten Irrtümer über die Deutsche Einheit" schaltet sich Schröder in eine Debatte ein, die sehr emotional und oft unter dem Motto "Pleiten, Pech und Pannen" geführt wird. "Das Erfreuliche blenden wir aus", kritisiert Schröder. Eine Rezension von Jacqueline Boysen.

    Irrtum und Lüge seien die Parasiten der Wahrheit, stellt der Theologe Richard Schröder fest. Seit den Jahren nach der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung war es ihm stets Herzensangelegenheit, mit demagogisch verbreiteten halben Wahrheiten oder ganzen Lügen über die Vereinigung von West und Ost in beiden Teilen des mental gespaltenen Landes aufzuräumen. Irrtümer im Vereinigungsprozess seien nun einmal unvermeidlich gewesen, aber um Himmels Willen kein Grund, die Deutsche Einheit für komplett gescheitert zu erklären, so seit langem Richard Schröders persönliches Credo. Dass er diesem nun ein Buch mit 250 Seiten widmet, hat damit zu tun, dass der ostdeutsche Sozialdemokrat immer noch ergrimmt ist darüber, dass sich das mäkelige deutsche Volk auch siebzehn Jahre nach der Einheit so hartnäckig scheut, über den geglückten politischen Weltenwandel der Jahre 1989/90 schlicht einmal Begeisterung zu zeigen.

    "Von der Freude über die Deutsche Einheit ist nicht viel übrig geblieben, wie es scheint. Ostdeutsche beklagen, dass die wirtschaftliche Lage im Osten soviel schlechter sei als die im Westen. Bei genaueren Umfragen allerdings erklärt die Mehrheit der Ostdeutschen, dass sie mit ihrer persönlichen Lage ganz zufrieden sind und sie sich verbessert habe. Also: dem Osten geht´s schlecht, mir aber ganz gut. Westdeutsche beklagen, dass die Ostdeutschen so viel klagen, und dass sie noch immer nicht so sind wie sie: dynamisch, optimistisch, flexibel. Bewegt euch endlich selber, statt weiter Milliarden zu fordern - man kann sich denken, wie die Tonart im Osten ankommt. "

    Diesem deutsch-deutschen Teufelskreis aus Vorwurf und Vorurteil, Unterstellung und Unkenntnis, Selbsttäuschung und Selbstlob möchte Schröder argumentativ beikommen. Das Wunder der friedlich vollzogenen deutschen Einheit dürfte, so meint er nicht zu unrecht, Grund genug sein für Stolz und Zufriedenheit - aber bei uns aber sei es zum Pflichtthema von Sonntagsreden zum 3. Oktober verkommen. Die emotionale Würdigung durch die Bürger, die vermisst er bis heute, klagt Schröder. Als politisch versierter Wissenschaftler fängt er mit großem Aufklärungseifer an zu argumentieren - in einzelnen, recht gefälligen Klein-Kapitelchen widerlegt er gängige Vorurteile und stammtischverdächtige Thesen aus dem unerschöpflichen Repertoire des deutschen Miesmachers.

    Die DDR war kein Unrechtsstaat.
    Die Bundesrepublik trägt Mitschuld an der Mauer und den Mauer-Toten.
    Die Deutschen haben durch Auschwitz das Recht auf einen gemeinsamen Staat verwirkt.
    Die Währungsunion kam zu früh.
    Der Umtauschkurs war falsch.
    Der Osten ist ein Milliardengrab.
    Die Ostdeutschen sind undankbar.


    Richard Schröder unterscheidet in seinem Band zwischen "Irrtümern über die DDR", "Irrtümern über die Vereinigung" und "Irrtümern über das vereinigte Deutschland" - sein Strauß von Themen ist leider etwas wahllos zusammengestellt. Und auch seine Gegenargumente, Rechtfertigungen und Erklärungen erreichen nicht immer die nötige Tiefenschärfe. So hält er der Tatsache, dass nur wenige Ostdeutsche im vereinigten Deutschland wichtige Ämter bekleiden, entgegen, dass in nachrevolutionären Zeiten das Personal immer knapp ist und immerhin die Bundeskanzlerin im Osten aufgewachsen ist.

    Joachim Gauck hat einmal gesagt: Wir träumten, wir kommen ins Paradies und sind in Nordrhein-Westfalen aufgewacht. Das ist aber nicht der schlechteste Ort auf dieser Welt, übrigens auch von Umstrukturierungskrisen betroffen mit Arbeitslosenraten von Ostniveau, ohne dass sich die Nordrhein-Westfalen als Bürger zweiter Klasse verstehen. Ich behaupte gar nicht, dass wir keine Probleme im Osten hätten. Ich habe aber auch nicht den Bevölkerungsrückgang im Osten übersehen. Er beruht aber zu mehr als der Hälfte nicht auf Abwanderung, sondern auf dem Geburtenrückgang seit 1990. Und daran ist weder der Westen noch die Bundesregierung schuld. Die Menschen haben in unsicheren Zeiten den Kinderwunsch verschoben, was ja verständlich ist. So wollten sie es, und so haben wir es jetzt.

    Der Sozialdemokrat Schröder ist ein recht bedächtiger, kluger und gebildeter Mann. Seine Haltung gegenüber dem Unrecht in der DDR, das auch ihm selbst widerfahren ist, bleibt eindeutig: "Die DDR diktatorisch zu nennen," schreibt er, "ist keinesfalls denunziatorisch". Der PDS schreibt er zu recht viel deutsch-deutsche Spaltungskraft zu. Seinen ostdeutschen Landsleuten gegenüber lässt Schröder bisweilen zuviel Milde walten, da obsiegt des Theologen Bedürfnis nach Versöhnung. Dass die Wahlbeteiligung im Osten niedrig ist, scheint Schröder zum Beispiel beschönigend zu übersehen. Erstaunlich - ist er selbst doch ein überzeugter und unerschrockener Demokrat und homo politicus. Schon vergessen?! - Im Jahr 1993, als der glücklose CDU-Kandidat Steffen Heitmann scheiterte, kam Richard Schröder als möglicher Bundespräsident ins Gespräch. Er verzichtete, denn gegen Johannes Rau zu kandidieren, das wäre in vielerlei Hinsicht ungeschickt gewesen. Stets galt Richard Schröders Stimme im vereinigten Deutschland etwas, der einstige Mitgründer der ostdeutschen SDP, der SPD-Vorläuferin, und frühere brandenburgische Verfassungsrichter wird auch heute noch zum Kronzeugen für den Stand der Einheit und zur Lage der Nation befragt. Die sich wiederholenden, zumeist auf das Misslungene zielenden Fragen soll sein Buch beantworten. Zugleich möchte er Ostdeutsche, die sich von den nicht mehr ganz neuen Lebensumständen überfordert fühlen, Mut machen und sie aus ihrer Opferrolle befreien. Leider springt er dabei viel zu oft von Gemeinplatz zu Gemeinplatz. Wirklich gut und erhellend sind kleine Einsprengsel aus seinem persönlichen Erleben - aber den Graben zwischen Ost und West wird Richard Schröder damit nicht zuschaufeln können, und seine eigene Begründung dafür bleibt wohl eine weitere Generation lang gültig:

    "Alle Bereiche des politischern und wirtschaftlichen Lebens haben sich in einem Maß verändert, das sich viele Westdeutsche offenbar nicht vorstellen können, da sich für sie wenig oder nichts geändert hat. Und deshalb können sie diese Leistung offenbar auch nicht anerkennen. Verweigerte Anerkennung aber ist immer eine Kränkung."

    Jacqueline Boysen war das über Richard Schröders neues Buch: Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit. Im Verlag Herder ist es erschienen. 256 Seiten. 16,90 Euro.