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Deutsche Besatzung in den Niederlanden
Vom Befreiungstag zum Tag der Freiheit

Die Niederlande haben lange und stark gelitten unter der deutschen Besatzung. Umso größer war der Jubel nach der Kapitulation der Wehrmacht. Der 5. Mai wurde zum Befreiungstag und wird bis heute groß gefeiert – besonders in Wageningen. Doch der Blick richtet sich inzwischen auch nach vorn.

Von Kerstin Schweighöfer | 04.05.2020
Parade zum Tag der Befreiung von den deutschen Besatzern am 5. Mai in Wageningen/ Niederlande
Der Tag der Befreiung von den deutschen Besatzern am 5. Mai wird vor allem in Wageningen groß gefeiert. Dort wurde 1945 die Kapitulation der Wehrmachtseinheiten in dem noch besetzten Teil der Niederlande unterschrieben. (picture alliance/ NurPhoto)
Ein stattlicher Backsteinbau im Zentrum von Wageningen. An der Ostseite sind die Markisen ausgerollt – gelb-weiß gestreift leuchten sie in der Morgensonne. Aber die Fenster sind alle geschlossen. Terrasse und Wintergarten machen einen verlassenen Eindruck. Durch das große Fenster kann man ins Erdgeschoss spähen. Das Fischgrätparkett – ob es noch dasselbe ist wie vor 75 Jahren?
"Das ist der Kapitulationssaal", sagt ein Passant, der stehengeblieben ist. "Schade, dass Sie nicht rein können. Hier wurden wir befreit. Hier fanden die Kapitulationsbesprechungen statt, mit der deutschen Besatzungsmacht."
Doch auch das berühmte "Hotel de Wereld", das Hotel "Die Welt", ist geschlossen. Corona.
Am 5. Mai 1945 war der deutsche General Johannes Blaskowitz in den Speisesaal dieses Hotels beordert worden. Der kanadische General Charles Foulkes wollte mit ihm die Kapitulationsbedingungen durchgehen. Wageningen gilt deshalb als Befreiungsstadt – und darauf sind die Einwohner stolz.
"In diesem Hotel bekamen wir unsere Freiheit zurück", weiß auch die Studentin, die auf dem Weg zu ihrer Wohnung gleich um die Ecke oft hier vorbeikommt.
Das Backsteingebäude in Wageningen, in dem das Hotel "De Wereld" residiert
Das Hotel "De Wereld" in Wageningen - Ort der Kapitulation der deutschen Besatzungsmacht im Jahr 1945 (Deutschlandradio/ Kerstin Schweighöfer)
Leiden unter der deutschen Besatzung
Fast 80 Prozent der niederländischen Juden wurden während der deutschen Besatzungszeit ermordet, mehr als in jedem anderen westlichen Land. Rund 300.000 Niederländer wurden in Deutschland als Zwangsarbeiter eingesetzt, 8.000 kamen ums Leben. Im letzten Kriegswinter brach eine Hungersnot aus, viele Niederländer überlebten nur, weil sie sich von Tulpenzwiebeln ernährten. 18.000 Menschen starben an Unterernährung.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe 75. Jahrestag der Befreiung - Die Niederlande und das Trauma der deutschen Besatzung.
Als General Blaskowitz in Wageningen die Kapitulationsbedingungen unterschrieben hatte, kannte der Jubel keine Grenzen. Der 5. Mai wurde zum Befreiungstag und wird normalerweise ausgelassen im ganzen Land gefeiert – in Wageningen ganz besonders. Hier findet das Befreiungsdefilé der Veteranen statt, erzählt eine Frau, die auf dem Rad vorbeikommt. Prinz Bernhard nahm es bis zu seinem Tod 2004 jedes Jahr ab.
Jubelnde Menschen auf der Straße - aufgenommen am Tag der Befreiung der Niederlande von den deutschen Besatzern am 5. Mai 1945
Jubelnde Menschen auf der Straße - aufgenommen am Tag der Befreiung der Niederlande von den deutschen Besatzern am 5. Mai 1945 (picture alliance/ Ann Ronan Picture Library)
Prinz Bernhard zur Lippe-Biesterfeld mochte deutscher Abstammung sein – aber als Schwiegersohn der niederländischen Königin Wilhelmina hatte er nach dem deutschen Überfall 1940 keinen Zweifel daran gelassen, auf welcher Seite er stand. Bei den Kapitulationsbesprechungen saß er als Oberbefehlshaber der niederländischen Streitkräfte mit am Tisch.
Prinz Bernhard im Alter von 91 Jahren bei der Parade zum Tag der Befreiung in Wageningen
Prinz Bernhard zur Lippe-Biesterfeld, Schwiegersohn der niederländischen Königin Wilhelmina, im Alter von 91 Jahren bei der Parade zum Tag der Befreiung in Wageningen (picture alliance/ dpa / Benelux-Press/ ANP Foto/ Jasper Juinen)
Verhandlungstisch steht heute im Museum
Diesen Tisch gibt es heute noch. Er steht allerdings nicht mehr im "Hotel de Wereld", sondern ein paar Straßen weiter im historischen Museum von Wageningen, im Casteelse Poort.
Theo Guiking ist einer von 60 ehrenamtlichen Mitarbeitern, die das Museum führen. Die meisten kämen wegen des berühmten Tisches.
Er steht oben im ersten Stock. Schwarzweiß-Fotos zeigen ihn mit den beiden Generälen, ihren Dolmetschern und Prinz Bernhard - umringt von rund 50 Journalisten und Fotografen. Auch Audioaufzeichnungen der Kapitulationsbesprechungen sind erhalten geblieben.
Die Dolmetscher hätten sich eigentlich erübrigt. Aber Bernhard soll sich geweigert haben, mit General Blaskowitz Deutsch zu reden. Für Zwischentöne war nach Kriegsende kein Raum. Als guter Niederländer, das wurde der Nachkriegsgeneration eingeimpft, hatte man die Deutschen nicht zu mögen.
Krawalle bei der royalen Hochzeit mit einem Deutschen
Als Kronprinzessin Beatrix 1965 händchenhaltend im Schlosspark mit einem unbekannten Mann erwischt wurde, einem Deutschen, dem Diplomaten Claus von Amsberg, kannte die Empörung keine Grenzen: "Claus raus!" schallte es durchs Land. Bei der Hochzeit 1966 kam es zu Krawallen.
Bis in die 1990er-Jahre hinein war das Deutschlandbild der Niederländer stark vom Zweiten Weltkrieg geprägt. Doch dann habe sich das Verhältnis entkrampft und normalisiert, auch dank der Einführung vieler Austauschprogramme und der Neugestaltung des Geschichtsunterrichts, so Theo Guiking:
"Es wird immer einfacher. Vor allem junge Leute denken bei Deutschland als erstes nicht mehr automatisch an den Krieg. Wenn wir sie darauf ansprechen, fragen sie zurück: Krieg? Welchen Krieg meinst du?"
Und auch die Niederländer setzen sich inzwischen kritischer mit ihrer eigenen Rolle auseinander. Das hat dazu geführt, dass die Niederländer auch Deutschland mit neuen Augen betrachten.
Hochzeit von Prinzessin Beatrix der Niederlande mit dem Deutschen Claus von Amsberg in Amsterdam 1966
Hochzeit von Prinzessin Beatrix der Niederlande mit dem Deutschen Claus von Amsberg in Amsterdam 1966 (Imago/ United Archives International)
Vom "Befreiungstag" zum "Tag der Freiheit"
Als Durchbruch gilt die Rede zum 5. Mai 2012, die der damalige Bundespräsident Joachim Gauck halten durfte. Inzwischen heißt der Tag nicht mehr "Befreiungstag" sondern, neutraler, "Tag der Freiheit".
Theo Guiking weist auf eine mit Briefchen übersäte Wand: Museumsbesucher haben darauf festgehalten, was Freiheit für sie bedeutet: "Freiheit heißt, dass es nie mehr eine Anne Frank zu geben braucht", hat ein Mädchen geschrieben. "Ohne Angst leben zu können, das ist Freiheit", steht auf einem anderen Briefchen.
"Wir dürfen zwar nicht vergessen, was damals passiert ist. Damit es nie wieder passiert. Aber wir dürfen nicht in der Vergangenheit hängenbleiben. Befreiung ist etwas aus der Vergangenheit. Der Freiheit hingegen gehört unsere Zukunft."