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Deutsche Familie im Nachkriegsfrankreich

Es ist die ungewöhnliche Geschichte ihrer Familie, die die Kulturmanagerin Anna Tüne in "Von der Wiederherstellung des Glücks" erzählt: aus Polen vertriebene deutsche Bauern, die sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs im südfranzösischen Departement Drôme niederließen.

Von Hans Woller | 21.01.2013
    Dieulefit – Gott hat´s gemacht – heißt wörtlich übersetzt der 3000-Seelen-Ort, in dessen Nähe die fünfköpfige deutsche Familie in einer gottverlassenen Gegend 180 Hektar unfruchtbares Land, eine alte Schafherde und ein verfallenes Bauernhaus zugewiesen bekam. Dem vierjährigen Mädchen aber, der "Kleinen", wie sie sich nennt, sind das neue Licht, die andere Natur und die fremde Sprache ein verheißungsvolles Abenteuer – auch wenn ihr der Dorfnarr und die Kinder auf dem Schulhof "Boche", das Schimpfwort für die Deutschen, entgegen schleudern, der Vater eines von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfers sie brüllend aus seinem verwilderten Obstgarten verjagt, Schulkameraden sie, weil sie Deutsche ist, in die Brennnesseln werfen. Andere jedoch reichen auch die Hand – darunter der, dem das Buch gewidmet ist: Sully.

    "Er war in der schrecklichen Zeit Kundschafter und Partisan gewesen. Er hatte sogar etliche von den Engländern abgeworfene Munitionskisten und Waffen in seinem Keller versteckt. Sullys Mut und Integrität machten ihn über jeden Zweifel erhaben. Listig wird er wie nebenbei gesagt haben: 'Es gibt überall Gute und Böse.' Er sagte es in der Gastwirtschaft und auf dem Feld, dem Briefträger und dem Bäcker, dass sie es weitersagen mochten. Er ging mit der Kleinen ins Dorf, besuchte mit ihr Einzelgehöfte und überall stellte er sie beiläufig vor: 'Das ist die kleine Deutsche, die Jüngste.' Die Kleine sah, wie sich die Augen immer wieder auf sie richteten, prüfend, reserviert und manchmal feindselig. Wenn aber jemand, meist war, es die älteste Frau des Hauses, ein Lächeln wagte und als ersten Schritt die Keksdose aus einem großen alten Schrank holte, wenn die Kleine dann 'merci' sagte, begann der Bann leise zu brechen. Dies reichte Sully jedoch nicht, er behielt seine Hand auf ihrer Schulter, damit sie sich das Bild einprägten, dass er die Kleine aufnahm bei ihnen."

    Die Kleine und ihre Familie hatten trotz aller Schwierigkeiten, trotz Misstrauen und Hass, auch Glück. Denn Dieulefit hatte Erfahrung mit Entwurzelten, Vertriebenen und Geflüchteten, war ein Ort der Gerechten. Rund 1500 politisch Verfolgte und Juden waren während der deutschen Besatzung hier versteckt, ernährt und gerettet worden – unter ihnen ein jüdischer Professor mit Familie aus Heidelberg, der Maler WOLS oder ein KPD-Mitglied aus Stuttgart. Der Historiker Bernard Delpal:

    "Die besondere Form des Widerstands hier bestand darin, so viele Menschen wie möglich der Verfolgung, den Razzien und Aktionen der Vichy-Regierung und den Kräften der Besatzungsmacht zu entziehen. Das hieß: egal welcher politischen Meinung man war, Flüchtlinge zu retten war hier eine moralische Pflicht, der sich keiner entziehen konnte."

    Man spricht vom " Wunder von Dieulefit", weil in all den Jahren kein einziger Verfolgter denunziert worden war. Dies hatte auch mit der protestantischen Kultur des Ortes zu tun – im katholischen Frankreich eine Enklave der religiösen Minderheit, deren Vorfahren Verfolgung am eigenen Leib erlebt hatten. Bis heute gelten Frankreichs Protestanten deswegen als offener gegenüber anderen Minderheiten. Der erste Kirchgang der deutschen Familie jedenfalls sollte damals das erste Eis brechen und ging am Ort in die Annalen ein:

    "Das wurde der große Auftritt der Mutter. Noch Jahrzehnte später hatte keiner der damals Anwesenden diesen Augenblick vergessen: Die Gemeinde hatte ihr altbekanntes 'Oh, douloureux visage!' angestimmt, da hatte es die Mutter auch schon erkannt und intonierte mit ihrer wirklich schönen, sehr reinen hohen Stimme 'O Haupt voll Blut und Wunden'. Es lag sehr viel in dieser Stimme. Über das Lauschen vergaßen viele das Mitsingen, sodass die Stimme der Mutter, tapfer vom Pfarrer eskortiert, fast allein das Lied weiter trug bis zu seinem Ende. Da erhob sich kaum wahrnehmbar ein bewundernd-verwundertes Murmeln. Der Pfarrer lächelte befriedigt, so weit kannte er sie doch, seine Schafe: Ihr Gespür für Schönheit war sicher und verlässlich."

    Eine "hypothetische Autobiografie" hat Tüne ihr Buch genannt, das auch Passagen über die Vertriebenengeschichte ihrer Eltern, historische Exkurse über die deutsche Besatzungszeit in der Region von Dieulefit und einige poetische Einwürfe enthält und an dessen Ende es heißt:

    "Was blieb von dem Abenteuer Frankreich? Denn ein Abenteuer war es zweifellos gewesen, traditionellen 'Erzfeinden' zu begegnen. Es gab einige Ansprachen, man sprach von Freundschaft und Versöhnung. Später erst begriff die Kleine, dass viele jener französischen Nachbarn, Freunde oder Bekannten der deutschen Familie überraschenderweise dankbar waren. Durch die Spiegelung ihres eigenen Selbst im vermeintlichen Feind und durch die Wiedereinsetzung dieses vermeintlichen Feindes in die universelle Bruderschaft der Menschen war etwas in ihnen geheilt worden. Der Gegenstand ihres Hasses hatte sich als des Hasses nicht würdig erwiesen, stattdessen verdiente er Respekt, bisweilen gar Freundschaft."

    Anna Tünes Buch besticht besonders durch die scharf gezeichneten Porträts der Bewohner dieses südfranzösischen Landstriches, wo sie gelebte Versöhnung erfahren durfte. Das Heranwachsen in Dieulefit hat sie später zu einer Grenzgängerin zwischen Frankreich und Deutschland gemacht, für die sich dieser Tage in gewisser Weise ein Kreis schließt. 50. Jahre nach der Unterzeichnung des Elysée-Vertrag eröffnet Anna Tüne in der deutschen Partnerstadt von Dieulefit, im hessischen Lich, eine Ausstellung über den Rettungswiderstand in Dieulefit während der deutschen Besatzung, mit dem Titel: "Topografie der Menschlichkeit".

    Anna Tünes Buch: "Von der Wiederherstellung des Glücks – eine deutsche Jugend in Frankreich"
    Galiani Verlag, 256 Seiten, 16,95 Euro