Samstag, 18. Mai 2024

Archiv


Deutsche Innenansichten eines Spaniers

Eugeni Xammar wird zu den bedeutendsten spanischen Journalisten des 20. Jahrhunderts gezählt. "Der intelligenteste Mann, den ich kenne", sagte der katalanische Schriftsteller Josep Pla einst über ihn. "Er hat mich mehr gelehrt als alle Bücher zusammen." Xammars Reportagen aus der Weimarer Republik sind unter dem Titel "Das Schlangenei" erstmals auf Deutsch zugänglich.

Von Wera Reusch | 04.10.2007
    "Man wagt es kaum auszusprechen, dass der Dollar in dem Augenblick, in dem ich diesen Bericht schreibe, 48.000 Mark wert ist. Man wagt kaum, die Wahrheit zu sagen. [...] Ein Wiener Brötchen, wie man es morgens zum Frühstück isst, hat gestern vierzig Mark gekostet. Heute neunzig! [...] Alles wird teurer, Tag um Tag, Stunde um Stunde, und zwar empfindlich. Die Löhne und Gehälter steigen nur jede Woche oder jeden Monat - und zwar kaum. Und der arme deutsche Michel gähnt, und er gähnt jeden Tag kraftloser."

    Der hier einem spanischen Publikum die Befindlichkeit des deutschen Michels im Jahr 1923 erklärt, ist Eugeni Xammar. Als der katalanische Journalist Ende 1922 nach Berlin kam, konnte er nicht ahnen, dass er bis 1936 in Deutschland bleiben und als Korrespondent den Aufstieg der Nazis mitverfolgen würde. Zunächst standen andere Themen im Vordergrund seiner Berichte, die er regelmäßig, manchmal mehrmals pro Woche, an katalanische Zeitungen schickte: Zu Beginn der 20er Jahre schilderte Xammar die dramatische Inflation, die endlose Debatte über die Reparationszahlungen des Ersten Weltkriegs sowie die Besetzung des Rheinlands durch französische Truppen. Seine Reportage aus Essen vom 15. Februar 1923 ist auch deshalb interessant, weil Xammar in einem Postscriptum an die Leser sein journalistisches Vorgehen erklärt.
    "Ich habe nach der französischen Besetzung absichtlich mehr als einen Monat verstreichen lassen, bevor ich ins Ruhrgebiet reiste. Ich wollte weniger die unmittelbaren, sensationellen Eindrücke schildern - was eher Nachrichten im Telegrammstil erfordert hätte - als vielmehr vor Ort die Meinungen und Urteile der einen wie der anderen Seite über den Stand der Dinge und die Entwicklung einer schwierigen, komplexen Lage einholen. [...] Nach meiner Rückkehr nach Berlin werde ich sehen, ob der Kontakt mit den Menschen und den Tatsachen mir erlaubt, Rückschlüsse zu ziehen."

    Die Bemerkung zeigt, dass Eugeni Xammar sich einem sehr modernen Verständnis von Journalismus verpflichtet fühlte: empirisch, also im "Kontakt mit den Menschen und den Tatsachen", aber auf Distanz bedacht, wenn es um Einschätzungen ging -eine Berufsauffassung, wie sie damals vor allem von den Briten gepflegt wurde. Tatsächlich hatte der 1888 in Barcelona geborene Journalist sein Handwerk in London gelernt. Während des Ersten Weltkriegs berichtete er von der französischen Westfront, anschließend arbeitete Xammar in der Presseabteilung des Völkerbunds in Genf. Seine Zeitgenossen beschrieben ihn als sehr gebildeten, eleganten und polyglotten Kosmopoliten, als manischen Zeitungsleser, Musikliebhaber und Gourmet. Britisch war auch der Stil seiner Reportagen: Er liebte die Ironie, je nach Gegenstand konnte seine Schilderung auch in süffisanten Spott ausarten, so zum Beispiel in einer Reportage vom 9. Oktober 1923 mit dem Titel "Bayern: Eine Bildergalerie":

    "Kürzlich ist er auf die Idee gekommen, sich malen zu lassen und dieses Bild dann überall in Deutschland zu verteilen. Ich habe von ihm nur dieses Bild gesehen, und doch ist mir, als würde ich ihn schon ein Leben lang kennen. Er trägt einen Gabardinemantel mit Gürtel (ich glaube, damit ist schon alles gesagt), einen Seitenscheitel und einen Schnurrbart, der so gestutzt ist, dass er höher ist als breit. Er hat den Kopf hochgereckt, den Mund offen stehen, und sein Blick geht ins Leere, alles in allem eine zufriedene Pose, wie sie für diktatorische Gemüter typisch und der Betrachtung wert ist."

    Wenig später sollte Eugeni Xammar unverhofft Gelegenheit haben, Adolf Hitler persönlich zu erleben. Denn der katalanische Reporter war am 8. November 1923 Zeuge der Ereignisse im Münchner Bürgerbräukeller:

    "Es gibt wenig Eindrucksvolleres als einen gut organisierten und inszenierten Putsch, wie den, den mitzuerleben ich das Glück und das Vergnügen hatte, kaum dass ich vierundzwanzig Stunden in München war. Ein solches Ereignis hinterlässt eine bleibende Erinnerung. Ich reise seit nunmehr fünfzehn Jahren durch die Welt und habe alles mögliche gesehen, doch wage ich zu behaupten, dass es nichts Besseres gibt als einen guten Putsch. [...] Sollte einer meiner geschätzten Leser eines Tages nach München reisen und an einem Bierkeller vorbeikommen, in dem gerade ein Putsch stattfindet, so rate ich ihm, hineinzugehen. Ich bin sicher, er wird es nicht bereuen."

    Man kann Heinrich von Berenberg nur beipflichten, wenn er in seinem sehr instruktiven Vorwort zum Buch schreibt, Xammars Reportage über den Hitler-Putsch zähle zum "besten und sarkastischsten", was je darüber geschrieben wurde. Für den scharfsinnigen Katalanen war der Auftritt der Nationalsozialisten im Bürgerbräukeller eine politische Operette, der er nicht übermäßig viel Bedeutung zumaß, doch bemühte er sich um ein Interview mit Hitler: Dies gelang ihm deshalb, weil kurz zuvor Diktator Primo de Rivera in Madrid die Macht übernommen hatte. Spanier waren bei den Nationalsozialisten daher gern gesehen. In diesem Interview, das Xammar in zwei Reportagen wiedergab, erklärte Hitler völlig unverblümt sein politisches Programm, er kündigte darin unter anderem die Vernichtung der Juden und einen Krieg an. Unter dem Titel "Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit" gibt Xammar diese Äußerungen weitgehend unkommentiert wieder. Hitlers "Ansichten über das Judenproblem sind klar und äußerst erheiternd", bemerkt er abschließend.

    Der weltläufige Katalane konnte sich damals offenbar nicht im Traum vorstellen, dass Hitler sein Programm eines Tages umsetzen könnte. Aus heutiger Perspektive mag Xammars Einschätzung leichtsinnig klingen:

    "Der dümmste Mensch, den wir jemals das Vergnügen hatten kennen zu lernen. Ein Dummkopf voller Tatendrang, Vitalität und Energie, ein maßloser, nicht zu bremsender Dummkopf. Ein gewaltiger, großartiger Dummkopf, der zu einer glanzvollen Karriere berufen ist (wovon er noch fester überzeugt ist, als wir es sind)."

    Eugeni Xammar war jedoch nicht der einzige, der Hitler Anfang der 20er Jahre noch völlig unterschätzte, und er sollte seine Ansicht schon bald korrigieren. Seine antifaschistische Gesinnung führte dazu, dass er Deutschland 1936 verließ. Das Ende der freien Presse in Spanien nach dem Sieg Francos 1939 bedeutete auch das Ende seiner journalistischen Karriere. Er arbeitete später als Übersetzer bei den Vereinten Nationen in New York und für die Weltgesundheitsorganisation in Genf. Im Alter entschied Xammar sich schließlich für das innere Exil: Er kehrte nach Katalonien zurück und starb dort 1973.

    Auch in Spanien erschien der Band "Das Schlangenei" erst nach seinem Tod. Doch Xammars Reportagen gehören zu den raren journalistischen Texten, die mühelos Jahrzehnte überdauern. Faszinierend ist nicht nur ihre stilistische Brillanz, sondern auch die spezifische Perspektive Xammars, in der sich eine kenntnisreiche Innenansicht Deutschlands mit dem skeptischen Blick von außen verbindet. Leider enden die Berichte 1924. Es wäre äußerst verdienstvoll, wenn der Berenberg Verlag auch die Berliner Reportagen Xammars aus den Jahren 1930 bis 1936 möglichst bald auf Deutsch veröffentlichen würde.


    Eugeni Xammar: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922-1924
    Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt
    Berenberg Verlag, Berlin 2007
    180 Seiten, 21,50 Euro