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Deutsche Sorgen - Deutsche Freuden

Hajo Steinert: Herr Walser, mit dem Erscheinen einer zwölfbändigen Ausgabe Ihrer Werke sind Sie für viele endgültig zum modernen Klassiker geworden. Wer bestimmt heute eigentlich, was ein Klassiker ist, das Feuilleton, der Verleger oder der Autor selbst?

Hajo Steinert |
    Martin Walser: Der Gebrauch eines Autors macht aus ihm einen Klassiker. Wenn die Gesellschaft oder die Bevölkerung oder das Volk ihn gebraucht, dann ist er ein Klassiker. Das habe ich schon 1974 in dem Aufsatz >>Was ist ein Klassiker?<< begründet. Karl May ist zum Beispiel ein Klassiker. Nicht Akademien und schon gar nicht Kritiker können einen Autor zu einem Klassiker machen. Das ist alles abstrakter Kulturbetrieb, der ist saisonal gebunden, und danach richten sich die Leute nicht. Karl May - für das Feuilleton ist er nur ein TrivialautorDamit wäre auch meine ganze glühende Leseerinnerung vom achten bis zum zwölften Lebensjahr verurteilt ins Trivial-Ghetto. Also, grotesk! Das lasse ich mir meiner Kindheitserinnerung zuliebe nicht gefallen. Karl May ist und bleibt ein Klassiker. Ich habe letztes Jahr>>Winnetou << wieder gelesen. Ein hervorragender Autor! Ich habe meinen Kindern, immer wenn sie krank waren, Karl May vorgelesen. Ein Beweis seiner Brauchbarkeit.

    Hajo Steinert: Und worin besteht die Brauchbarkeit Ihrer Texte?

    Martin Walser: Entschuldigung, ich kann das doch nicht entscheiden. Sie tun jetzt so, als wäre ich auf den Marktplatz gegangen und hätte gesagt: Liebe Leute, ich bin der nächste Klassiker. Das entscheiden die Leute, nicht wir beide, verstehen Sie? Ein Glück!

    Hajo Steinert: Ist es Ihnen peinlich, als Klassiker bezeichnet zu werden?

    Martin Walser: Ach was, nein, um Gottes willen! Nein, ich finde, wenn die Bücher schön sind - und meine Werkausgabe ist schön - dann ist es mir nicht unangenehm, daß das, was ich so geschrieben habe, so beieinander ist. Das mag ich ganz gern, das habe ich auch sonst bei anderen Autoren im Bücherschrank ganz gern, wenn ich ihre Sachen so gesammelt habe. Aber welchen Gebrauch das lesende Publikum davon macht, das ist vollkommen außer meiner Berechenbarkeit. Damit habe ich nichts zu tun, und dem kann ich gelassen entgegen sein. Natürlich freut es mich, wenn die Bücher als als Beschreibung einzelner alltäglicher Schicksale aufgenommen werden. verstehen Sie? Ich erlebe beinahe täglich, durch Leserbriefe begleitet, den Gebrauch, den bescheidenen Gebrauch, den die Leute von meinen Büchern machen.

    Hajo Steinert: Als Geburtstagskind haben Sie Wünsche frei. Haben Sie eine Wunschvorstellung vom idealen Leser, abgesehen davon, daß er Ihre Bücher kauft?

    Martin Walser: Na ja, also, ich könnte da ins Schwärmen geraten. Ich wollte eigentlich ein Buch machen >>Der Leser hat das Wort << und wollte so 500 Seiten Leserbriefe bringen. Das ist organisatorisch nicht gelungen.

    Hajo Steinert: Noch nicht?

    Martin Walser: Ja, vielleicht schaffen wir das noch. Das wäre wunderbar, weil du auf fünf, sechs Seiten ganz genau erfährst, warum deine Bücher gelesen werden. Man hat das Gefühl, eigentlich hätte der eine oder andere Leser dein Buch schreiben können. Er hat mir die Niederschrift nur überlassen und hat dann mit meinem Text sein eignes Buch in seinem Kopf und in seiner Seele neu inszeniert. Das sind sehr intime Briefe, jedweden Alters, jedweden Berufs. Zum Beispiel mein letztes Buch: >>Finks Krieg<<. Der Roman hat mir Leserbriefschreiber zugetragen, wie ich sie noch nie hatte: Bundeswehroffiziere, Industrieleute, Leute von der Treuhand, aus anderen Behörden und Organisationen. Die eine schreibt: "Ich bin Finks Schwester!" Ein französischer Lehrer schreibt mir, er sei seit sieben Jahren Fink. Sie meinen, ich müßte ihre Geschichte auch schreiben. Auf>>Seelenarbeit<< schreiben wieder ganz andere Leute, und auf>>Das Einhorn << wieder ganz andere.

    Hajo Steinert: Sie lesen tatsächlich jeden einzelnen Brief?

    Martin Walser: O ja, natürlich, ja. Ich kann jetzt nur nicht mehr alle beantworten. Wenn ich es tue, dann meist auf mehreren Seiten.

    Hajo Steinert: Kopieren Sie Ihre Antworten? Falls es mal eine Ausgabe gibt mit Briefen und Antworten

    Martin Walser: Nein, Sie verwechseln mich mit Uwe Johnson. Ich habe irgendwann einmal gemerkt, daß der Uwe von den Sachen, die er mir geschrieben hat, Kopien hatte. Also, das fand ich nicht so gut. Ich lebe jetzt, und nachher nicht mehr.

    Hajo Steinert: Was Uwe Johnson, er starb 1984, nicht mehr erleben konnte: Sie sind der Schriftsteller, der wie kein anderer die deutsche Einheit nicht nur begrüßt, sondern gefeiert hat. Jetzt haben wir sieben Jahre lang diese deutsche Einheit. Wie ist, um einen Ausdruck von Ihnen zu verwenden, Ihr "Geschichtsgefühl" heute?

    Martin Walser: Ich kann mich immer noch jeden Tag darüber freuen, daß das gelungen ist. Ich bin neulich mit einer meiner Töchter Eisenbahn gefahren, und da gibt es so Zugbegleiter, und der Zug fuhr weiter von Konstanz bis nach Berlin, und ich habe gesagt, schau mal, der Zug hält später hier in Erfurt, in Weimar, in Apolda - da habe ich gefragt, weißt Du, wo Apolda liegt? Und Luckenwalde? Schau, und dann kommt er nach Berlin. Und das hat mir gut getan, daß man von Konstanz über Apolda nach Berlin fahren kann mit einem Interregio-Zug, und daß da keine Grenze zu passieren ist. Das ist doch ein angenehmes Gefühl. Würden Sie das teilen können?

    Hajo Steinert: Aber hält sich dieses Gefühl auch über die Jahre hinweg?

    Martin Walser: Die Leute, die jetzt geboren werden, Hajo Steinert, da möchte ich wetten drauf, die wissen in 40 Jahren nicht mehr, worüber wir beide jetzt reden mit sorgenvollem Gesicht. Wer unsere gegenwärtige Misere so instrumentalisiert, als spräche sie gegen die deutsche Einigung - da hört mein Verständnis auf. Das kann ich einfach nicht begreifen. Wenn ich nach Leipzig komme, bin ich einfach froh. Ich meine, daß diese Stunde des Umbruchs vom zügellosen Kapitalisten auf eine frühkalifornische Weise mißbraucht wird, das ist sozusagen systemimmanent. Und da sieht man halt, daß der Kapitalismus auch zu Fehlplanungen und Fehlorganisationen fähig ist. Nur Lafontaine hat für mich als Politiker in der Saison verloren. Wie er da kleinmütig hinter Kohl herrannte und glaubte, er müsse der Realist sein. Da hatte ich das Gefühl, gut, er hat vielleicht den besseren Rechenschieber gehabt als Kohl. Trotzdem hatte ich das Gefühl, er macht immer nur Wahlkampf. Von da ab schreibe ich Lafontaine klein an.

    Hajo Steinert: Schreiben Sie Helmut Kohl immer noch so groß? Er war in der Tat der Organisator der deutschen Einheit, Aber er hat ja auch andere Aufgaben, in denen er vielleicht nicht so viel Größe zeigt. Wir haben neue Sorgen in Deutschland. Es gibt viele arbeitslose Menschen.

    Martin Walser: Ja, ja, klar. Aber Sie können nicht sagen, daß das die Schuld von irgendeinem einzelnen Politiker ist. Allen in Bonn fällt zu dieser Arbeitslosigkeit zu wenig ein. Ich halte das für insgesamt schwer begreiflich, wie die Politiker das weiterhin dieser Tarifpartnerroutine überlassen. Diese Rollen sind einfach ausgespielt. Vielleicht bin ich ein bißchen hysterisch oder nervös, aber ich kann nicht mehr zuschaue, obwohl ich Gewerkschaftsmitglied bin. Es gefällt mir diese Rollensturheit nicht. Ich habe neulich mal jemandem einen Vorschlag gemacht, wie man das anders machen sollte.

    Hajo Steinert: Wie denn?

    Martin Walser: Die Gewerkschaften sollten die Arbeitskraft, die sie verwalten, verwalten wie Kapital, wie Bankmanager. Sie dürften dann keine Funktionäre mehr sein, sondern Manager. Sie hätten ein riesiges Kapital zu verwalten, und mit dem müßten sie umgehen, als wäre es Geld, Industriegeld. Das müßten sie anbieten zu vertraglichen Bedingungen. Drei oder fünf oder sechs Jahre arbeiten sie an der Grenze des Erträglichen, investieren das wie ein Darlehen unter der Bedingung, und die wird unterschrieben, daß dann keine Arbeitsplätze mehr exportiert werden, daß dann Arbeitsplätze geschaffen werden. Wenn dann das nicht stattfindet, dann ist das ganze Modell ein Schwindel. Wenn man der Industrie und dem Geld und dem Kapital so entgegenkäme, ja? Aber nicht Lohnverzicht, sondern die Arbeiter und Angestellten wüßten dann, daß sie in die Zukunft investieren, und dann würde etwas ganz Wichtiges passieren: es könnte keine flächendeckende Tarifabschlüsse mehr geben, sondern nur noch betriebsangepaßte, wie ein Maßanzug. Für diesen Betrieb arbeiten wir zu diesen Bedingungen so uns so lange, und dann muß das und das dafür passieren. Unsere Computer- und Speichermöglichkeiten erlauben es heute, für jeden Betrieb ein spezielles Arbeitsinvestitionskonzept zu entwickeln, verstehen Sie. Wir müssen nicht mehr Menschen auf die Straße schicken, Erwachsene mit roten Fähnchen mit Prozentzahlen drauf. Das war vor achtzig Jahren, und diese Routine ist erstickend.

    Hajo Steinert: Entschuldigen Sie, ich bin kein Wirtschaftsfachmann. Sind Sie mit Ihren Vorstellungen schon an die Politiker herangetreten?

    Martin Walser: Ich werde nicht aufhören, davon zu reden, bis ich einmal einem gegenüber stehe. Ich werde es vor allem auch den Gewerkschaftsleuten versuchen zu vermitteln.

    Hajo Steinert: Ein wiedkerkehrendes Thema in Ihrem Band >>Ansichten, Einsichten, Aufsätze zur Zeitgeschichte<< - der Band elf Ihrer Werkausgabe - ist Auschwitz, der Holocaust. 1965 erschien Ihr Aufsatz>>Unser Auschwitz <<. Da schrieben Sie anläßlich der Auschwitz-Prozesse: "Je furchtbarer die Auschwitz-Zitate sind, desto deutlicher wird ganz von selbst unsere Distanz zu Auschwitz.” Und weiter sprechen Sie von der " Faszination des Grauens” Sie bemerken, daß unser Interesse an den Opfern geringer sei als das Interesse an den Grausamkeiten, denen sie damals ausgesetzt waren. Nun ist Auschwitz, der Holocaust, immer noch tägliches Thema in den Medien, in den Büchern, in Filmen, und es scheint, wenn ich Ihren Gedanken vielleicht folgen darf, daß diese Faszination des Grauens noch da ist.

    Martin Walser: Na, ich glaube, die Art, wie man darüber spricht, hat sich geändert und mußte sich ändern, denn ich habe damals reagiert auf auf die Schlagzeilen, die Schlagzeilen, die von den Prozeßberichterstattern stammten, und die waren so knallig, als handelte es sich um riesige Verkehrsunfälle oder Mordtaten anderer Art In den Schlagzeilen fehlte immer alles Politische und alles Historische, und es blieb nur die nackte, extreme Brutalität übrig.

    Hajo Steinert: 1979 erschien Ihr Aufsatz >>Auschwitz und kein Ende <<. Darin hieß es: "Wir alle sind in Versuchung, uns gegen Auschwitz zu wehren. Wir schauen hin und gleich wieder weg. Leben kann man mit solchen Bildern nicht. Auschwitz ist nicht zu bewältigen.”

    Martin Walser: Wenn Auschwitz im Fernsehen kommt - und das kommt ja sozusagen immer häufiger - ist das bei mir schon ein bedingter Reflex: ich schau sofort weg. Ich habe eine Stelle im Zimmer, wo ich dann sofort hinschaue, weil ich das nicht sehen kann. Ich kann diese Bilder nicht mehr sehen. Ich kann mit diesen Bildern nicht schlafen gehen.

    Hajo Steinert: Verdrängung?

    Martin Walser: Ich muß wegschauen. Ich habe dafür keine abstrakte Bezeichnung, ich nenne es nicht " verdrängen”, denn ich habe mit Auschwitz schon am Vormittag sozusagen zu tun. Es liegt an meiner Generation und Arbeitsart und Denkart, was auch immer. Ich kann jeden verstehen, der mit '33 bis ' 45 und Auschwitz nichts mehr zu tun haben will, und ich kann jeden genauso gut den verstehen, der sein Leben lang davon nicht wegkommt und ununterbrochen an '33 bis ' 45 hängenbleibt. Nur: ich habe bis jetzt keinem vorgeschlagen, was er damit zu tun haben muß und wie er damit umgehen sollte. Dagegen habe ich diesen Eindruck des öfteren gehabt, daß es Leute gibt, die vorschreiben wollen, wie man mit Auschwitz umzugehen habe. Auch mir ist da schon vorgehalten worden, daß ich etwas falsch mache, aber keiner von denen sagt mir, wie er damit umgeht. Das wundert mich immer dabei.

    Hajo Steinert: Es fällt auf, daß in jüngster Zeit immer mehr Bücher erschienen sind in deutschen Übersetzungen zum Thema Holocaust, von Autoren wie Imre Kertesz zum Beispiel, >>Roman eines Schicksallosen<<, oder Roman Frister,>>Die Mütze oder der Preis des Lebens <<. Das sind Autoren, die über ihre eigenen Erfahrungen mit dem Holocaust schreiben, die im Konzentrationslager waren, die überlebt haben und mit einer zeitlichen Distanz darüber schreiben. Haben Sie Daniel Goldhagen gelesen?

    Martin Walser: Nein, ich habe Ruth Klüger fasziniert gelesen und dieTagebücher von Viktor Klemperer. Ich war ein Leser der >>Ermittlung << von Peter Weiss, auch ein Text ganz nah am Dokumentarischen.

    Hajo Steinert: Ist der Holocaust ein Romanstoff?

    Martin Walser: Da schaue ich eher weg. Ich kann das nicht lesen. Gut, das ist meine Beschränktheit.

    Hajo Steinert: Was halten Sie von Ausstellungen wie die in Münchener Rathaus zur Zeit: "Kriegsverbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944"?

    Martin Walser: Ich bin kein Ausstellungspädagoge. Ich habe die Ausstellung nicht gesehen."Verbrechen in der deutschen Wehrmacht”, also, daß man den ganzen Verein so generell kriminalisiert, ich weiß nicht . . "Die Wehrmacht": das geht mir total gegen den Strich. Es gibt einen Satz, den ich damals zum Historikerstreit gehört habe, der mir auch nicht einleuchtet. Da wurde die Wehrmacht angegriffen, weil durch ihren Einsatz der Betrieb von Auschwitz weiterhin möglich geworden sei. Verstehen Sie, diesen Zusammenhang herzustellen. Die Soldaten, die sich haben erschießen lassen, die haben doch gar nicht gewußt, daß es Auschwitz gibt, die haben doch nicht das Gefühl gehabt, daß sie Auschwitz verteidigen sollen. Denen hat man beigebracht, daß sie ihre Familien gegen Russen oder Sowjets oder Kommunisten oder Bolschewisten verteidigen. Nicht wahr, es gab auch fürchterliche Propaganda, die die Leute erreicht hat. Und so haben sie von Auschwitz nichts gewußt. Deswegen darf man nicht nachträglich sagen: die haben Auschwitz ermöglicht!

    Hajo Steinert: Es hat sich eine Schweizerische Stiftung für Solidarität gegründet; ein dreistelliger Millionenbetrag soll Opfern des Holocaust zugänglich gemacht werden,

    Martin Walser: Ich habe nichts mit Milliarden zu tun oder mit hundert Millionen. Das ist eine Sache. Ob die Appelle an das Gewissen tatsächlich das Gewissen erreichen, oder ob die Appelle nicht doch hauptsächlich nur Bekenntnisse der Appellierenden sind, die keine Chance haben, irgend etwas bei einem anderen zu erreichen: das ist hier die entscheidende Frage. Ob da dieser Fonds etwas erreicht. darüber bin ich sehr skeptisch.

    Hajo Steinert: Kommen wir zu den "deutschen Sorgen" zurück. Das Wort "Nation” in die intellektuelle Debatte zurückgeholt zu haben, das ist Ihr Verdienst. Aber Sie haben auch viel Prügel dafür erhalten. Haben diese Prügel Wunden hinterlassen?

    Martin Walser: Ja, vor allem habe ich gemerkt, daß ich mich nicht ausdrücken kann, und daß ich keine Chance habe, richtig verstanden zu werden, weil die schlichtesten Sätze offenbar einfach nicht wahrnehmbar sind. Ich habe neulich mit Studenten in Hildesheim eine Diskussion gehabt, die haben mir Thesen geschickt, und da stand alles drin, was ich auch behaupte, was sie aber hier gegen mich formulierten. Da haben sie in der ersten These festgestellt, die Nation sei eben eine menschliche, geschichtliche Organisation, und deswegen gäbe es grundsätzlich kein Nationalgefühl und so weiter. Ich habe nie etwas anderes behauptet, ich habe immer schon gesagt, daß die Nation eine Stufe der Geschichte ist, und daß sie überwunden werden wird und so weiter. Ich sage Ihnen nur: ich will mich aus diesem Sprach-, Sprech- und Äußerungsbereich ausblenden, zurückziehen, ich habe es wirklich satt. Wie schön ist es dagegen, einen Roman zu schreiben. Selbst wenn er mißverstanden wird, führt das Mißverständnis nicht zu solchen diffamierenden Fixierungen, wie bei dem Bereich, über den wir jetzt reden. Also, vielleicht ist das die schmerzlichste Erfahrung in diesem Öffentlichkeitsberuf, daß da solche Vorverurteilungen entstehen, weitergemeldet werden und daß sie alle da zusammenhelfen. Simpler strukturierte Studenten in Hildesheim bis zu dem überaus strukturierten Peter Glotz. Sie sind sich alle ganz einig und kommen zu grauenhaften Feststellungen über mich. Und da frage ich mich dann, wie kommt es dazu?

    Hajo Steinert: Ein anderer deutscher Intellektueller, zu dem Sie wegen Ihrer gänzlich unterschiedlichen Einstellungen zur deutschen Einheit, quer stehen, ist Günter Grass.

    Martin Walser: Ich hatte mit ihm ein Gespräch im Radio, Die meisten haben gesagt, daß der Grass sozusagen viel wuchtiger oder präsenter oder dominanter gewesen wäre und daß ich da also Mühe gehabt hätte, zu Wort zu kommen. Das kann ja auch sein. Aber ich habe was anderes mitgenommen von diesem Gespräch. Am Anfang hat er gesagt "Auf dieser deutschen Einheit liegt kein Segen”, und am Schluß habe ich es erreicht, daß er gesagt hat "liegt noch kein Segen”. Und da war ich sehr glücklich. Aber ich bin auch gegen einen Zwiespalt mit Günter Grass, weil ich immer, wenn ich ihn getroffen habe, von ihm beeindruckt war, faszinierbar. Ich mag den Kerl, wie er ist, wie er schnauft und raucht und leibt und lebt. Und daß man, bedingt durch unsere Berufs- und Wohnart, einander so selten sieht, und dann nur über Statements ins Feld geschickt wird oder sich schickt, ist bedauerlich

    Hajo Steinert: Ich war gerade in Dänemark, da hat Grass weitaus größere Chancen als Sie.

    Martin Walser: Das ist klar, die hat er immer im Ausland. Entschuldigung, wenn ich das so sage: Je kritischer du gegen Deutschland bist, desto größer sind deine Chancen im Ausland. Das ist einfach so. Das kommt natürlich von unserer Vergangenheit. Das habe ich frühzeitig erlebt. Also, ich habe einmal ein Stück in Paris gehabt >>Eiche und Angora <<, das lief da ein Jahr lang, und dann war ich mal dort, und da wurde ich von Journalisten nacheinander vernommen, und dann habe ich gemerkt, dieses "Eiche und Angora” ist sozusagen ein kritisches Stück, und wurde dort noch kritischer gespielt. Es wurde hervorragend gespielt, aber im Stil wie im Krieg Propagandafilme gemacht wurden, es spielte auch ein bißchen noch im Krieg. Und beim zweiten Interview habe ich dann gesagt: " Ich glaube, ich muß nur noch "Ja” sagen, Sie wissen alles schon, Sie wissen schon alles besser, und das muß ich nur noch bestätigen, Sie wollen eigentlich nur, daß ich das bestätige, was Sie schon wissen."

    Hajo Steinert: Stichwort Verleger. Machen Sie sich Sorgen über die Zukunft des Suhrkamp-Verlages? Wird es einen Nachfolger geben für Siegfried Unseld?

    Martin Walser: Ja, also, da müßte man ihn fragen.

    Hajo Steinert: Ja, natürlich, aber Sie sind befreundet und spielen gemeinsam Schach und

    Martin Walser: Ich habe an diesem 1. Januar oder Silvester gedacht, also 97 muß ich den Siegfried einmal fragen, wie steht es eigentlich nach unser beider Tod. Das will ich ihn im Lauf des Jahres auch noch fragen. Bis jetzt habe ich diesen Tod einfach noch nicht ernstgenommen und - das wissen Sie aber auch selber - der Siegfried Unseld hat sich so entwickelt, daß man das Wort Nachfolger eigentlich gar nicht richtig gebrauchen kann.

    Hajo Steinert: Das kann man auch nicht, wenn nacheinander die vermeintlichen Nachfolger, erst der eigene Sohn und dann noch Gottfried Honnefelder, der vermeintliche Nachfolger, nicht mehr für den Verlag tätig sind..

    Martin Walser: Es gab Zeiten, in denen ich mit dem Verlag aktueller verbunden war als jetzt.

    Hajo Steinert: Was heißt "aktueller verbunden als jetzt”?

    Martin Walser: Ja, also weißt du, daß ich, sagen wir mal, schneller etwas erfahren habe. Man hat häufiger telefoniert oder so. Das ermäßigt sich ja dann auf einen etwas gelinderen Rhythmus, und dann erfährt man nicht mehr alles und erfährt dann vielleicht nur noch die Ergebnisse. Und das scheint jetzt eher so zu sein. Aber wie gesagt, es ist Siegfried Unselds Sorge. Meine muß es sein, daß ich auch erfahre: wer in Zukunft das Sagen über meine Bücher hat, das möchte man natürlich wissen als Autor. Aber wenn Sie selber wirklich wissen wollen, wie es weitergeht, dann müssen Sie, glaube ich, einfach Hans Magnus Enzensberger fragen, der ist, glaube ich, immer der am besten Informierte.

    Hajo Steinert: Was lesen Sie gerade, oder was haben Sie in jüngster Zeit gelesen an jüngerer Literatur?

    Martin Walser: Als letztes gerade, das ist ein wunderbares Buch, >>Die bösen Frauen<< von Joseph von Westfalen, ganz fabelhaft. Also das vorletzte war der neue Roman vom Arno Stadler>>Der Tod und ich, wir zwei <<. Das kann ich nur jedem wünschen - ein schwermütiges und vor lauter Schwermut immer wieder komisch werdendes Buch. Und der Joseph von Westfalen, der vorurteilsloseste Intellektuelle dieser Republik

    Hajo Steinert: Machen Sie noch etwas anderes außer Schreiben und Lesen? Gehen Sie zum Beispiel ins Kino? Der deutsche Film boomt.

    Martin Walser: Nein, ins Kino gehe ich nicht. Da komme ich nicht dazu. Da erfahre ich durch meine Töchter, was ich sehen soll, wenn es dann im Fernsehen kommt. Da würde ich auf dem laufenden gehalten, wenn dann da >>Der Engel an meiner Tafel << kommt oder Peter Greenaway kommt. Dann muß ich sogar Robert Altman anschauen, obwohl ich da eher kleine Reserven habe, obwohl das schon sehr gut gemacht ist. Von Sönke Wortmann habe ich auch schon einen Film gesehen und fand ihn ganz lustig.

    Hajo Steinert: Rolf Hochhuth schlug Sie vor, das Amt des Intendanten am Berliner Ensemble zu übernehmen. Was sagen Sie dazu?

    Martin Walser: Na ja, da sage ich, das ist ein reiner Hochhuth-Einfall, den er einfach macht, weil das eine nicht aus ihm heraus zu diskutierende Idee ist mit diesem Autorentheater. Wobei doch jedem Autor eigentlich seine Zeit zu schade ist, den Intendanten zu spielen. Es gibt für mich nichts, was so abstrus wäre, wie Intendanten zu spielen. Also, diese ganze Händegeberei und Unterschreiberei und Trepp-auf-Trepp-ab präsent sein, das ist also absurd.

    Hajo Steinert: Die Veteranen der Gruppe 47 geben sich derzeit die Hände. Es gibt Runden, in Berlin zum Beispiel war kürzlich eine. Da hatte Günter Grass die Notwendigkeit zumindest angedeutet, daß es diese Gruppe wieder geben könnte. Er sucht sozusagen die alte Behaglichkeit wieder, die es da gab bis zu dem Zeitpunkt, als die bösen Kritiker dann das Wort übernahmen. Sie haben der Gruppe 47 ja selbst einen frühen Literaturpreis zu verdanken, 1955.

    Martin Walser: Ich habe da den Uwe Johnson gefunden. Ich meine, es war dann schwierig, aber zuerst ließ es sich doch gut an und war sehr schön. Also, die Abende waren behaltenswert. Das Vorlese- und Kritikritual war schlimm. Das war im Grunde genommen auch eine Form der Machtausübung. Aber die Abende waren wunderbar, und als ganz junger Schriftsteller, das weiß ich noch sehr genau, da habe ich gerne zugehört, wenn die abends diskutiert haben, der Heinrich Böll und der Alfred Anderschä und der Hans Werner Richter über die Restauration und Adenauer Mich hat Politik überhaupt nicht interessiert, kein bißchen. Aber ich habe den Kollegen gern zugehört. Mich hat auch die Schmucklosigkeitsprosa, auf die sie stolz waren, nicht so interessiert. Mich hat Arno Schmidt wirklich mehr interessiert, von Franz Kafka ganz abgesehen, oder Marcel Proust. Aber bitte

    Hajo Steinert: Wie ist es mit Freundschaften unter Schriftstellern, gleichaltrigen Schriftstellern?

    Martin Walser: Wenn ich in Berlin hätte leben können, hätte ich gern mit dem Grass Umgang gehabt, so wie ich mit dem Uwe Johnson Umgang hatte. Es hat sich auch gezeigt, daß es mit dem Uwe Johnson schwierig war, das weiß man, daß er schwierig wurde. Aber trotzdem, das war schon Freundschaft. Und es hat mir bewiesen, daß Freundschaft möglich ist. Nicht alle Freundschaften, die da entstanden sind - es sind ja auch nicht so viele entstanden -, haben sich gehalten. Aber Freundschaften unter Schriftstellern sind möglich. Also zum Beispiel jetzt glaube ich - vielleicht rühme ich mich vorschnell, aber ich betrachte, also ich weiß nicht, ob er da protestieren wird, aber ich betrachte Arno Stadler, der ist so viel jünger als ich - aber gut, soll ich ihn als Sohn oder als Freund Aber ich mag ihn, wenn Sie mir gestatten, und ich mag den Josef von Westfalen. Wenn der in unserer Gegend liest, dann gehe ich hin. J

    Hajo Steinert: Was ist denn mit Botho Strauß und Peter Handke? Sie drei werden ja immer häufiger in einem Atemzug genannt.

    Martin Walser: Den Handke habe ich bei Verlagsveranstaltungen gelegentlich getroffen. Botho Strauß treffe ich nirgends. Also, ich finde, den Handke kann man glaube ich noch leichter treffen als den Botho Strauß. Man darf auch einsam sein, man muß einander nicht unbedingt treffen.

    Hajo Steinert: Sie schreiben zur Zeit über Ihre Kindheit.

    Martin Walser: Es wird ein dreiteiliger Roman, der nicht besonders dick ist. Quantitativ ist er zu 80 Prozent auf dem Papier. 1932/33 - Teil 1, 1938 - Teil 2, 1944/45 - Teil 3. Und der dritte Teil heißt "Vergangenheit als Gegenwart”.

    Hajo Steinert: Ein autobiographischer Roman?

    Martin Walser: Ich schreibe nur autobiographische Romane. Das haben noch nicht alle Kritiker kapiert. Die Kritiker hängen noch an dieser konventionellen Vorstellung, daß ein Autor heute mal über das eine, morgen dann über das andere schreibt, so wie Honoré de Balzac. Aber ich schreibe immer denselben Roman weiter, mit einer anderen Tonart. Ich kann mich mal in C-Dur schreiben, mal in E-moll.

    Hajo Steinert: Ein Roman über Ihre Kindheit läßt auch einen Roman über die Todeserfahrung erwarten. Sie waren zehn oder gerade elf, als Sie Ihren Vater verloren.

    Martin Walser: Ja, und dann meinen Bruder im Krieg, und damit hat das natürlich auch etwas zu tun. Andererseits ist es diese Paradoxie mit unserer deutschen Vergangenheit. Die Frage, ob es eine gemeinsame Vergangenheit gibt, oder ob es deine Vergangenheit und meine Vergangenheit und seine Vergangenheit und ihre Vergangenheit geben darf, ich meine, diese Frage kann ich nicht theoretisch stellen, Die kan ich nur erzählerisch statuieren. Es gibt so viele Vergangenheiten wie es Menschen gibt. Natürlich wäre es schön, wenn man sich über Vergangenheit einigen könnte, aber es ist sehr schwer.

    Hajo Steinert: Wie verbringen Sie Ihren Geburtstag? Empfang, Familie?

    Martin Walser: Kein Empfang. Familie und abends ein paar Leute, die die ganze zeitliche Tiefe darstellen. Also Leute, die ich kenne, seit 1948/49/50/51. Sie können sich vorstellen, das ist kein reiner Jugendclub.

    O-Ton: Martin Walser

    walser.ram