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Deutscher Herbst als Drama am Kabinettstisch

Über 20 Jahre lang hielt die so genannte "Rote Armee Fraktion" Deutschland in Atem. 34 Menschen wurden von RAF-Terroristen ermordet. Nun versucht das Bonner Schauspielhaus eine Rekonstruktion des Herbstes 1977 an einem authentischen Ort: dem Kabinettstisch im ehemaligen Kanzleramt in Bonn.

Von Hildegard Wenner |
    Schon Wochen vor der Premiere bescherte uns das Presseamt der Stadt Bonn eine klammheimliche Freude – mit einer E-Mail "Betreff: Kulturnachrichten aus der Beethovenstadt, Doppelpunkt: In der Reihe 'Die Bonner Republik' erinnert das Theater Bonn Ende Januar an den blutigen Herbst 77. Im Kabinettssaal des ehemaligen Bonner Kanzleramtes trotzte das Kabinett von Bundeskanzler Helmut Schmidt den Erpressungsversuchen der Terroristen..." Folgen zwei eng beschriebene Seiten, die keinen Zweifel daran lassen, wer hier die Deutungshoheit über Schleyer, Stammheim und Mogadischu für sich reserviert hat. Was sollte das sein? Die Gegendarstellung vor der Darstellung?

    So viel Angst vor dem unberechenbaren Theater, das sich möglicherweise bar jeder politisch korrekten Lesart des Deutschen Herbstes annimmt, war wirklich nicht nötig: Am Ende des Premierenabends gehörten wir alle zum Sympathisantenkreis - von Helmut Schmidt.

    Anderthalb Stunden haben wir an Schmidts langem Kabinettstisch gesessen, in 30 bequemen Ledersesseln, geschützt von schweren Holzwänden, alles gediegen braun, haben seine Entscheidungen in "Abstimmung mit allen demokratischen Kräften des Deutschen Bundestages" abgenickt und uns vorgestellt, wie draußen der Mob tobte. Gottlob ist das Bonner Bundeskanzleramt – heute residiert hier das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – noch immer ein gut bewachter Ort. Passkontrolle am Eingang des Geländes, Sicherheitskräfte an den Stellen, wo man falsch abbiegen und vielleicht konspirativ Joseph Beuys treffen könnte: "Ich führe Baader und Meinhof persönlich durchs Bundeskanzleramt".

    Stattdessen aber führt Michael Neuwirth, Leiter der Werkstatt-Reihe" "Reality Bites". Für diese Ausgabe mit der laufenden Nummer 31 hat er Sitzungsprotokolle, Dokumente der damaligen Bundesregierung, Presseerklärungen usw. auf drei Schauspieler verteilt. Viele Tages- und Uhrzeiten, eine Chronologie jener sechs Wochen zwischen dem 5. September 77, der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und dem 19. Oktober, als er im elsässischen Mülhouse tot gefunden wird.

    " Montag, dritter Oktober: keine Nachricht von den Entführern. Dienstag, vierter Oktober: keine Nachricht von den Entführern, Mittwoch, fünfter Oktober: von den Entführern keine Nachricht. "

    Die bleierne Zeit wird ein wenig aufgelockert durch die launig-lakonischen Erinnerungen Hans-Jürgen Wischnewskis; der Staatsminister im Kanzleramt saß bekanntlich hauptsächlich im Flugzeug, leitete die "Aktion Feuerzauber", die mit Hilfe der GSG 9 die Passagiere der entführten Lufthansamaschine "Landshut" befreite und suchte – jedenfalls nach außen - einen Staat in Nah- oder Fernost, der die RAF-Gefangenen aus Stuttgart-Stammheim aufzunehmen bereit wäre – im Austausch gegen Schleyer: Libyen, Syrien, Libanon, Jemen, Irak oder Vietnam:

    " Die Regierung von Hanoi sei bereit, der Bundesregierung in dieser schwierigen Situation behilflich zu sein. Sie sei nicht bereit, Terroristen aufzunehmen, auch wenn welche dabei sein sollten, die früher schon einmal für sie demonstriert hätten."

    Regisseur Neuwirth reichert die "dokumentarische Lesung" mit Bildern und Tönen aus Heinrich Breloers Film "Todesspiel" an, der nun seit zehn Jahren Aufklärungsarbeit leistet und lässt aus einem Gespräch mit Helmut Schmidt lesen, das die "Zeit" zum 20. Jahrestag des Deutschen Herbstes gedruckt hatte. Bernd Braun ist der Kanzler, ihm verdanken wir eine veritable Helmut-Schmidt-Show inklusive sich zaghaft aufrichtendem Finger, wenn etwas ganz besonders Wichtiges kommt. Nun, nach bald 30 Jahren, spekulierten wir natürlich auf ein paar freche Fragen des Theaters, schließlich ist dieser Bericht aus Bonn nicht der erste Bühnenversuch zum "Baader-Meinhof-Komplex". Andere Produktionen trugen freilich Titel wie "Zeugenstand. Stadtguerilla-Monologe" oder "Stammheim-Proben". Diese Aufführung im Kanzleramt rechtfertigt sich nur durch den "historischen Ort", nur daraus entsteht der Hype. Wen sollte es interessieren, wenn drei Schauspieler auf irgendeinem Podium akribisch und minutiös die Nachrichtenlage herunterbeten, die alle kennen? Nichts also gegen diese Raum-Idee, aber muss das Theater sich gleich in Isolationshaft begeben, in freiwillige Kontaktsperre gegen jede kritische Stimme zum Bonner Maßnahme(n)paket im "Herbst 77"?