Das Buch von Wolfgang Herles hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Wer einen neuen Blick auf die deutsche Geschichte von der Nachkriegszeit bis heute ankündigt, darf mit Aufmerksamkeit rechnen, obwohl solche Titel meist mehr versprechen als sie halten. Wer aber gleichzeitig noch kollektivpsychologische Betrachtungen als Instrument zur historischen Wahrheitsfindung einsetzt, hat zumindest die Historiker nicht auf seiner Seite. Dabei klingt manches plausibel, was hier von der neurotischen Persönlichkeit mit ihren Merkmalen der Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Depression und Verletzlichkeit im Analogieschluss auf Gesellschaften, in unserem Fall auf die deutsche Gesellschaft, übertragen wird.
Herles stellt Fragen, über die sich zu diskutieren lohnt, beantwortet sie aber leider spekulativ, wobei er die Schlüsselerklärung für alles, was ihm in der jüngsten Geschichte und heute an der deutschen Gesellschaft missfällt, in deren kollektiver Neurose vermutet.
"Warum ist Freiheit den Deutschen weniger wert als soziale und innere Sicherheit? Weshalb bremst der Sozialstaat Wachstum und Wohlstand? Warum ist Deutschland überreguliert? Warum verachten die Deutschen politischen Streit? Warum macht die Einheit so viele Deutsche gar nicht glücklich?"
An der Beantwortung solcher Fragen hat sich schon manch ein Autor abgearbeitet. Doch mit anderen Erklärungen hält sich Herles nicht erst auf, denn er hat die definitive Antwort ja schon zur Hand: die Deutschen neigen zu abrupten Stimmungsschwankungen. Mal sind sie niedergedrückt und haben Angst, dann sind sie wieder grenzenlos begeistert, zumeist von sich selbst. Zufrieden, so Herles, sind die Deutschen nie wirklich mit ihrem Land. Diese wenig schmeichelhafte Beschreibung des deutschen Volkscharakters wird über einige Seiten fortgesetzt, bis der Autor seine rhetorische Frage, ob die Bundesrepublik neurotisch sei, mit folgenden Belegen endgültig bejaht:
"Lange haben die Deutschen den Niedergang ihres Wohlfahrtsstaats übersehen, und sie wollen ihn immer noch nicht wahrhaben. Die Bonner Republik ist verloren, und erneut leiden die Deutschen an der Unfähigkeit, den Verlust zu verarbeiten. In der Geschichte der Bundesrepublik ist immer wieder zu beobachten, wie unübersehbare Tatbestände und Entwicklungen ausgeblendet, verdrängt, verleugnet werden."
Im letzten Kapitel schließlich, knapp 300 Seiten später, erfahren wir auch den Grund für die vom Autor festgestellte "seelische Störung der Deutschen", die zu allerlei Fehlentwicklungen geführt hat, wie er in seinem Buch darlegt :
"Noch immer sind die Deutschen Romantiker, wenn sie die Mächte der Globalisierung mit wirklichkeitsfremden Vorstellungen bekämpfen. Ein Mangel an politischer Urteilskraft und praktischer Klugheit ist festzustellen ... Sie kommen erst zur Ruhe, wenn die Realität sich ihren Vorstellungen beugen will. Das ist der Kern ihrer Neurose."
Das klingt beunruhigend und wäre einer eigenen Untersuchung wert. Erfreulicherweise bilden diese sozialpsychologischen Überlegungen nur den Rahmen für die eigentliche Geschichtserzählung dieses Buches, das leider beides sein will, historische Darstellung und aktuelle Zeitdiagnose und vielleicht deshalb häufig in einen alarmistischen Ton verfällt. Da wimmelt es nur so von sogenannten "Lebenslügen" der Republik, die der Autor fast in jeder Kanzlerschaft von Adenauer bis Merkel neu entdeckt. Die "Urlüge der Kanzlerschaft Adenauers" - so der von Herles gewählte, dramatische Begriff - sei es zum Beispiel gewesen, dass der Gründungskanzler der Bundesrepublik etwas gegen die Teilung Deutschland einzuwenden gehabt hätte. Gelassener könnte man auch darauf verweisen, dass für Adenauer in der Tat die Freiheit Westdeutschlands wichtiger war als eine politische Einheit Deutschlands um jeden Preis - zumal dabei die westlichen Siegermächte das letzte Wort hatten und die übergroße Mehrheit in dieser Frage auf seiner Seite stand.
Gelassenheit, die abwägende Analyse ist aber des Autors Sache nicht. Er liebt die Zuspitzung und die Pointen. Die Meinungsfreudigkeit hat immer Vorfahrt. Die Empirie bleibt dabei manchmal auf der Strecke. Beispielsweise hier, ein noch vergleichsweise harmloses Beispiel unter der Überschrift "Das Unbehagen an der Freiheit":
"Von Anfang an misstrauen die Westdeutschen der Freiheit. Sie trauen sich selbst nicht ganz über den Weg, legen sich selbst Fesseln an. Es sind die komfortabelsten Fesseln, die sie sich denken können, kaum zu spüren, solange man sich nicht bewegt. Diese Fesseln wollen die Deutschen nicht missen. Das wiederum ist misslich, weil sie sich bewegen müssen. Diese Fesseln finden wir im Sozialstaat, im Steuerdickicht, in der Bürokratie, im politischen System der Bundesrepublik."
Die Metaphern verdrängen die konkrete Analyse. Dass der Sozialstaat, der dem Autor gar nicht gefällt, auch eine erhebliche stabilisierende Wirkung auf die zweite deutsche Demokratie hatte und hat, wird nicht diskutiert, wohl aber seine Auswüchse und Fehlentwicklungen. Diese Diagnose wird dann gleich auch noch auf die Wiedervereinigung übertragen:
"Die Befreiung der Ostdeutschen misslang aus dem Misstrauen der Ost- wie der Westdeutschen davor, ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen zu können, also aus Angst. Die Ostdeutschen sehnten sich nach ein bisschen mehr Freiheit, aber nicht nach der ganzen Freiheit. Und die Westdeutschen glaubten, ihre eigenen alten Fesseln wären genau die richtigen auch für die Ostdeutschen."
Richtige Beobachtungen werden hier wie an vielen anderen Stellen des Buches polemisch überzeichnet, allerdings - und das ist dem Autor positiv anzurechnen - immer gedankenreich und nie langweilig. Auch in den anderen Kapiteln, die der Autor zumeist chronologisch entfaltet, von Adenauer bis Merkel, finden sich immer wieder überraschende Einsichten, originelle Betrachtungen, amüsante Zuspitzungen. Das Buch ist gut geschrieben, im Stil des Feuilletons freilich. Liebhaber einer eher sachlichen Prosa, die vor allem informieren und nicht provozieren will, kommen nicht auf ihre Kosten. Das gilt auch für den Leser, der vor allem etwas über die Hintergründe historischer Vorgänge und Entwicklungen erfahren will und sich weniger für die Meinung des Autors interessiert, was alles hätte anders und vor allem besser gemacht werden müssen.
Der Autor urteilt über alles und jeden. Sich primär mit den Fakten zu beschäftigen und es dem Leser zu überlassen, sich einen Reim darauf zu machen, ist ihm zu riskant. Das ist vielleicht das "Andere" an diesem Geschichtsbuch.
Vielleicht hätte er den Lesern, die er mit seinem Buch ansprechen will, ganz einfach Folgendes sagen sollen: über die Geschichte der Bundesrepublik geistern in den Köpfen mancher Zeitgenossen falsche Vorstellungen über Personen und Ereignisse, die von den Fachhistorikern längst zurecht gerückt worden sind, aber von der Öffentlichkeit leider nicht zur Kenntnis genommen werden. Damit sich das ändert, habe ich dieses Buch geschrieben. Das wäre dann ein etwas bescheideneres Ziel gewesen, aber ein sinnvolles Unterfangen allemal.
Jürgen Weber besprach das Buch von Wolfgang Herles: "Neurose D - eine andere Geschichte Deutschlands", erschienen im Piper Verlag, 300 Seiten, 19,90 Euro.
Herles stellt Fragen, über die sich zu diskutieren lohnt, beantwortet sie aber leider spekulativ, wobei er die Schlüsselerklärung für alles, was ihm in der jüngsten Geschichte und heute an der deutschen Gesellschaft missfällt, in deren kollektiver Neurose vermutet.
"Warum ist Freiheit den Deutschen weniger wert als soziale und innere Sicherheit? Weshalb bremst der Sozialstaat Wachstum und Wohlstand? Warum ist Deutschland überreguliert? Warum verachten die Deutschen politischen Streit? Warum macht die Einheit so viele Deutsche gar nicht glücklich?"
An der Beantwortung solcher Fragen hat sich schon manch ein Autor abgearbeitet. Doch mit anderen Erklärungen hält sich Herles nicht erst auf, denn er hat die definitive Antwort ja schon zur Hand: die Deutschen neigen zu abrupten Stimmungsschwankungen. Mal sind sie niedergedrückt und haben Angst, dann sind sie wieder grenzenlos begeistert, zumeist von sich selbst. Zufrieden, so Herles, sind die Deutschen nie wirklich mit ihrem Land. Diese wenig schmeichelhafte Beschreibung des deutschen Volkscharakters wird über einige Seiten fortgesetzt, bis der Autor seine rhetorische Frage, ob die Bundesrepublik neurotisch sei, mit folgenden Belegen endgültig bejaht:
"Lange haben die Deutschen den Niedergang ihres Wohlfahrtsstaats übersehen, und sie wollen ihn immer noch nicht wahrhaben. Die Bonner Republik ist verloren, und erneut leiden die Deutschen an der Unfähigkeit, den Verlust zu verarbeiten. In der Geschichte der Bundesrepublik ist immer wieder zu beobachten, wie unübersehbare Tatbestände und Entwicklungen ausgeblendet, verdrängt, verleugnet werden."
Im letzten Kapitel schließlich, knapp 300 Seiten später, erfahren wir auch den Grund für die vom Autor festgestellte "seelische Störung der Deutschen", die zu allerlei Fehlentwicklungen geführt hat, wie er in seinem Buch darlegt :
"Noch immer sind die Deutschen Romantiker, wenn sie die Mächte der Globalisierung mit wirklichkeitsfremden Vorstellungen bekämpfen. Ein Mangel an politischer Urteilskraft und praktischer Klugheit ist festzustellen ... Sie kommen erst zur Ruhe, wenn die Realität sich ihren Vorstellungen beugen will. Das ist der Kern ihrer Neurose."
Das klingt beunruhigend und wäre einer eigenen Untersuchung wert. Erfreulicherweise bilden diese sozialpsychologischen Überlegungen nur den Rahmen für die eigentliche Geschichtserzählung dieses Buches, das leider beides sein will, historische Darstellung und aktuelle Zeitdiagnose und vielleicht deshalb häufig in einen alarmistischen Ton verfällt. Da wimmelt es nur so von sogenannten "Lebenslügen" der Republik, die der Autor fast in jeder Kanzlerschaft von Adenauer bis Merkel neu entdeckt. Die "Urlüge der Kanzlerschaft Adenauers" - so der von Herles gewählte, dramatische Begriff - sei es zum Beispiel gewesen, dass der Gründungskanzler der Bundesrepublik etwas gegen die Teilung Deutschland einzuwenden gehabt hätte. Gelassener könnte man auch darauf verweisen, dass für Adenauer in der Tat die Freiheit Westdeutschlands wichtiger war als eine politische Einheit Deutschlands um jeden Preis - zumal dabei die westlichen Siegermächte das letzte Wort hatten und die übergroße Mehrheit in dieser Frage auf seiner Seite stand.
Gelassenheit, die abwägende Analyse ist aber des Autors Sache nicht. Er liebt die Zuspitzung und die Pointen. Die Meinungsfreudigkeit hat immer Vorfahrt. Die Empirie bleibt dabei manchmal auf der Strecke. Beispielsweise hier, ein noch vergleichsweise harmloses Beispiel unter der Überschrift "Das Unbehagen an der Freiheit":
"Von Anfang an misstrauen die Westdeutschen der Freiheit. Sie trauen sich selbst nicht ganz über den Weg, legen sich selbst Fesseln an. Es sind die komfortabelsten Fesseln, die sie sich denken können, kaum zu spüren, solange man sich nicht bewegt. Diese Fesseln wollen die Deutschen nicht missen. Das wiederum ist misslich, weil sie sich bewegen müssen. Diese Fesseln finden wir im Sozialstaat, im Steuerdickicht, in der Bürokratie, im politischen System der Bundesrepublik."
Die Metaphern verdrängen die konkrete Analyse. Dass der Sozialstaat, der dem Autor gar nicht gefällt, auch eine erhebliche stabilisierende Wirkung auf die zweite deutsche Demokratie hatte und hat, wird nicht diskutiert, wohl aber seine Auswüchse und Fehlentwicklungen. Diese Diagnose wird dann gleich auch noch auf die Wiedervereinigung übertragen:
"Die Befreiung der Ostdeutschen misslang aus dem Misstrauen der Ost- wie der Westdeutschen davor, ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen zu können, also aus Angst. Die Ostdeutschen sehnten sich nach ein bisschen mehr Freiheit, aber nicht nach der ganzen Freiheit. Und die Westdeutschen glaubten, ihre eigenen alten Fesseln wären genau die richtigen auch für die Ostdeutschen."
Richtige Beobachtungen werden hier wie an vielen anderen Stellen des Buches polemisch überzeichnet, allerdings - und das ist dem Autor positiv anzurechnen - immer gedankenreich und nie langweilig. Auch in den anderen Kapiteln, die der Autor zumeist chronologisch entfaltet, von Adenauer bis Merkel, finden sich immer wieder überraschende Einsichten, originelle Betrachtungen, amüsante Zuspitzungen. Das Buch ist gut geschrieben, im Stil des Feuilletons freilich. Liebhaber einer eher sachlichen Prosa, die vor allem informieren und nicht provozieren will, kommen nicht auf ihre Kosten. Das gilt auch für den Leser, der vor allem etwas über die Hintergründe historischer Vorgänge und Entwicklungen erfahren will und sich weniger für die Meinung des Autors interessiert, was alles hätte anders und vor allem besser gemacht werden müssen.
Der Autor urteilt über alles und jeden. Sich primär mit den Fakten zu beschäftigen und es dem Leser zu überlassen, sich einen Reim darauf zu machen, ist ihm zu riskant. Das ist vielleicht das "Andere" an diesem Geschichtsbuch.
Vielleicht hätte er den Lesern, die er mit seinem Buch ansprechen will, ganz einfach Folgendes sagen sollen: über die Geschichte der Bundesrepublik geistern in den Köpfen mancher Zeitgenossen falsche Vorstellungen über Personen und Ereignisse, die von den Fachhistorikern längst zurecht gerückt worden sind, aber von der Öffentlichkeit leider nicht zur Kenntnis genommen werden. Damit sich das ändert, habe ich dieses Buch geschrieben. Das wäre dann ein etwas bescheideneres Ziel gewesen, aber ein sinnvolles Unterfangen allemal.
Jürgen Weber besprach das Buch von Wolfgang Herles: "Neurose D - eine andere Geschichte Deutschlands", erschienen im Piper Verlag, 300 Seiten, 19,90 Euro.