"Fußball, das ist ein Theater - also nicht wie im klassischen bürgerlichen Theater, wie wir es ja heute noch haben, wo das Publikum im dunklen Raum mehr oder weniger ruhig sitzt, was sich von Theater wesentlich unterscheidet, ist, dass beim Fußball beide beteiligten Seiten, die Spieler auf dem Rasen, also die Darsteller, und die Zuschauer, gleichermaßen aktiv sind."
Doktor Erhard Ertel von der FU Berlin betrachtet die Darbietungen auf grünem Rasen nicht nur als Sportfan, sondern auch als Theaterwissenschaftler.
"Es ist ein Theater, das auf der einen Seite großes Unterhaltungstheater ist, und auf der anderen Seite Ritualtheater, und an diesem Ritualtheater sind alle beteiligt, und da es sich auf einer sehr emotionalen Ebene abspielt, spielen zwei Sachen eine wichtige Rolle: das Singen und das choreografische sich Bewegen."
Auch wenn sie oft archaisch anmuten: Fangesänge im Fußballstadion gibt es erstaunlicherweise erst ab Mitte der 60er-Jahre, jedenfalls in Europa. Die Urhymne, den Hit "You'll never walk alone", sangen die Fans des FC Liverpool1963 zum ersten Mal - angeblich um ein bisschen Stimmung zu machen, als die Stadionmusikanlage ausgefallen war.
Gemeinsames Singen ist existenziell wichtig, meint Professor Eckart Altenmüller, Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin der Musikhochschule Hannover.
"Durch das Singen können wir uns in dieselbe Stimmung versetzen, wir können uns emotional synchronisieren. Und das ist etwas ganz Wichtiges, weil: Unser Problem als Menschen ist ja die Komplexität unseres Soziallebens, und durch Singen können wir vorübergehend in einem Zustand der Verschmelzung mit der Gruppe kommen, und das kann ein rauschhaftes Glücksgefühl mitbringen."
Aber Fans singen nicht nur aus reiner Freude, erklärt Axel Pannicke. Der Sportwissenschaftler ist Fanprojektebetreuer in Berlin.
"Die Fans versuchen halt durch Gesänge, einerseits sich selbst zu bestätigen in ihrer Gruppe, aber natürlich auch durchaus die gegnerischen Fans, die gegnerische Mannschaft zu verunsichern, möglichst gewaltig, und da gibt es verschiedene Formen. Es gibt ganz kurze Gesänge, die dann noch unterstützt werden durch rhythmisches Klatschen, und das steigert sich dann halt bis zu kompletten Liedern. Fans versuchen auch ein Spiel, was so dahinplätschert, durch Wechselgesänge, durch unterschiedliche Rhythmen irgendwie nach vorne zu treiben. Zumindest bilden sie sich ein, dass ihr Engagement in der Kurve dazu führt, dass die auf dem Platz anders spielen, besser spielen."
Die Choreografie wird meistens durch Chantleader, Vorsänger, bestimmt, die - mit dem Rücken zum Spielfeld - mit Megafon oder Trommel die Ränge dirigieren. Es gibt auch einen Urrhythmus; entnommen dem Lied "Hold tight" von Dave Dee von 1966. Heute kommen, anders als zu den Anfängen, Fangesänge nicht mehr aus der Jugendkultur.
"Ich glaube, dass aktuelle Musik, Hip-Hop, sich wirklich nicht eignet für diese spezielle Choreografie. Auf jeden Fall muss es was Einfaches sein. Es soll ja möglichst vielen leicht gemacht sein, da mitzusingen, und viele der Lieder sind tatsächlich Schlager aus den 60er-, 70er-Jahren, andere kommen aus dem Volksliedgut, nur dass sie andere Texte dafür halt finden im Fußballumfeld."
Neben Schlagern oder Karnevalsliedern als Anfeuerungs- oder Schmähgesang gibt es noch Triumphhymnen, eher aus der Klassik - oder sogar Kirchenmusik. Denn oft haben die Fanrituale fast religiösen Charakter, wie das Schalspannen. Die Arme weit gestreckt über dem Kopf gen Himmel, den Vereins- oder Länderschal in beiden Händen wiegt man sich zur Musik in Verzückung oder auch in tieftraurigem Schmerz.
Große Gesten und Hymnen gehören zum Ritualtheater Fußball - und vor allem auch Nationalhymnen, denn Fußball ist Nationaltheater, behauptet Erhard Ertel.
"Diese These, die basiert darauf, dass in Europa seit dem 17., 18. Jahrhundert das Bemühen da ist, staatliche Einheiten zu konstruieren, die aber alle ein Problem haben: keine wirkliche Basis, auf der Gemeinschaften gebildet und strukturiert werden. Das heißt, man muss mehr oder weniger künstlich auf der Basis von Ideen zunächst Gemeinsamkeiten postulieren, und die muss ja irgendjemand vertreten. Das hat zunächst damals das Nationaltheater, also zu Lessings Zeiten, gemacht, und diese Funktion hat im 20. Jahrhundert nach meiner Meinung der Sport und der Fußball im Besonderen übernommen."
Eine Weltmeisterschaft wie die in Südafrika wäre also ein großes Theatertreffen, bei dem jede Nation ihr eigenes Stück aufführt - und Hauptrequisit ist eben die Nationalhymne. Sie gehört neben Flagge und Feiertag zu den klassischen Staatssymbolen, zu den emotionalen Identitätselementen. Fast alle stammen aus europäischer Musiktradition, sogar die japanische Melodie, und sie lassen sich zumindest grob kategorisieren. Professor Albrecht Riethmüller, Musikwissenschaftler an der FU Berlin:
"Nämlich einmal die getragene, eher sakral konnotierte und auf der andere Seite die agitierende, die kampfeslustige; zur ersteren würden als Klassiker, wenn man so sagen darf, die Urmutter aller Hymnen zählen, nämlich 'God save great George, our king', übrigens ist ja auch die deutsche lange genug gewesen. Und die Inkarnation des anderen Typus wäre die Marseillaise. Es gibt ja gerade in Südamerika einen dritten Typus von Nationalhymnen, der ja an so leichte Opernmusik italienischer Provenienz erinnert."
Nationalhymnen enthalten erstaunlicherweise kaum musikalische Folklore; so findet man in der brasilianischen beispielsweise keine Sambaklänge. Manche haben sogar die gleiche Melodie: Liechtensteins Hymne und die Großbritanniens etwa, ebenso die von Polen und Serbien-Montenegro. Deshalb lässt sich das Nationale der Hymnen nicht ohne den Text verstehen.
"Aber die politischen Konnotationen der Hymnen, die liegen im jeweiligen Staatsverständnis, liegen in der jeweiligen Verfassung eines Landes, und da muss man natürlich mit allen Kuriositäten rechnen."
"Last uns die Reihen schließen! Wir sind bereit zum Tod, wir sind bereit zum Tod!"
... singen zum Beispiel die Italiener. Es gibt zwar auch ein paar friedliche Hymnen. Die Schweden preisen ihre Heimat als "das lieblichste Land der Erde", Saudi-Arabien lobt seinen König. Aber mehrheitlich sind Nationalhymnen Aufrufe zu Revolution und Gewalt.
"Mexikaner zum Kriegsgeschrei, den Stahl fest in der Hand. Auf dass die Erde in ihrem Innersten erbebe, zum Donnergrollen der Kanonen."
Mit diesen Worten im Ohr und auf den Lippen treten die Mexikaner beim WM-Eröffnungsspiel gegen die Fußballer Südafrikas an. Sehen wir dort also zwei Nationen spielerisch miteinander kämpfen?
Beim Abspielen der Hymnen sind die Mannschaften noch Teil jenes Nationaltheaters, von dem Erhard Ertel spricht: Stolz aufrecht stehend - alle Spieler in einer Reihe übrigens, nicht gegenüber - fassen sich manche an den Händen oder stehen Arm in Arm, andere legen die Hand aufs Herz; viele singen voller Inbrunst mit, manche schweigen andächtig. Nach dem Anpfiff allerdings sind die Spieler keine Hauptdarsteller mehr.
"Es war mal so, dass sich nationale Besonderheiten in der Spielweise, sowohl im Spielansatz, also in der Spielstrategie, aber auch im körperlichen Umgang, mit dem Ball, mit dem anderen Spieler et cetera zeigte. Manche sind inzwischen klischeehaft erstarrt, also der deutsche Arbeiter oder diese leichtfüßig spielerischen ballverliebten Südamerikaner. Das ist leider etwas verloren gegangen, seit ein unglaublich starker kommerzieller Markt den Fußball bestimmt. Da aber Fußball als Nationaltheater weiterhin eine große Rolle spielt, ist diese Darstellung des Nationalen gewandert von der Rasenfläche mehr auf die Ränge."
Hier spielen die Zuschauer ihre ureigenen Instrumente, schwenken ihre Nationalflaggen, hüllen sich darin ein oder malen sich die Landesfarben ins Gesicht; und sie führen typische Gesänge oder Tänze auf. Nicht ohne Grund werden die Fernsehkameras bei Spielen der brasilianischen Mannschaft besonders gern auf die Ränge gerichtet mit den leichtbekleideten weiblichen Fans.
Inzwischen, spätestens seit der WM 2006, schwelgt man auch in Deutschland in Länderspielzeiten recht ungehemmt in nationalen Gefühlen - was manchem immer noch ein wenig Bauchschmerzen bereitet. Erhard Ertel:
"Das Problem liegt aber nicht darin, sich zur Nation zur bekennen, sondern das Problem liegt darin, angemessene Formen zu finden, mit der dieses Bekenntnis dargestellt werden kann. Da in den letzten, sagen wir mal, 100 Jahren die meisten Symbole verbraucht oder diskriminiert wurden, und teilweise auf eine verheerende Art und Weise, hatte man quasi keinen Fundus mehr, dieses Nationalgefühl darzustellen."
Und ein ritueller Neuanfang, mit neuer Hymne und neuer Flagge, der ist nicht gemacht worden: 1945 nicht; und ebenso wenig 1989.
"Und von daher ist es dann immer nur der Griff in die Kiste der alten Symbole, halt. Und dann wird es immer zweischneidig."
Gerade auch im deutschen Fußballtheater-Alltag zeigt sich mitunter diese Zweischneidigkeit im Umgang mit nationalen Symbolen. Fanprojektebetreuer Axel Pannicke:
"Es gibt in letzter Zeit immer wieder Leute, die teilweise eben im Stadion stehen und den rechten Arm dabei heben oder eben die erste Strophe der Nationalhymne anstimmen. Gibt es auch noch."
Fußballtheater ist keine leichte Kost: Der britische Zoologe Desmond Morris verglich die Fanrituale mit ethnischen Stammesriten, die vor allem zur Jagd oder vor einem Krieg zelebriert wurden. Dazu gehören das Nach-vorne-Strecken der Arme und das Hüpfen auf der Stelle, womit man sich in eine Art Trance bringen kann, ebenso wie die Kostümierung und Maskierung oder Gesichtsbemalung - alles begleitet von Schlachtgesängen.
"Wir haben ja beim Sporttheater einen wesentlichen Unterschied zum klassischen Theater, die Darstellergruppe ist in sich gespalten, es gibt ja zwei Mannschaften, und das Publikum ist auch von vornherein gespalten. Das heißt, man verkörpert die eigene Macht, laut und stark auf der einen Seite, macht sich damit selbst Mut. Auf der anderen Seite dient dieses laute Machtvolle dazu, den Gegner, die Spieler wie das andere Publikum zu beeindrucken, einzuschüchtern, ja in gewisser Weise auch Angst zu verbreiten, und es gibt in Europa, sicher in Südamerika erst Recht, Stadien, die für ihre Gewalt, mit der sie akustisch und auch choreografisch daherkommen, berühmt sind."
Vielen Menschen, nicht nur gegnerischen Fans, wird es mulmig, wenn sie die Stadionmassen singen hören. Dazu der Musikwissenschaftler Professor Eckart Altenmüller:
"Dass das gemeinsame Singen in großen Chören auch etwas Beunruhigendes hat, das ist ja bei allen Massenversammlungen - und wir haben das ja in unserer Geschichte erlebt, was damit ausgelöst werden kann. Und auch das ist einer der Gründe, warum nach dem Zweiten Weltkrieg uns, zum Beispiel meiner Generation, ich komm aus der Generation kurz nach '68, das Singen gleich suspekt war."
Die akustischen Darbietungen im Fußballstadion führen zunehmend auch zu internationalen Affären - dann nämlich, wenn die gegnerischen Fans die Nationalhymne nicht respektvoll anhören; so geschehen etwa beim Länderspiel Tunesien gegen Frankreich im Oktober 2008 in Paris, als die Marseillaise mit Buhrufen und Pfiffen begleitet wurde; oder beim WM-Qualifikationsspiel zwischen der Schweiz und der Türkei 2006, als beide Nationalhymnen ausgepfiffen wurden und es zu schweren Tumulten im Stadion kam.
Der Präsident des Weltfußballverbandes Joseph Blatter regte deshalb vor ein paar Jahren eine Diskussion über die Abschaffung der Nationalhymnen bei Länderspielen an: Ohne das Absingen der Hymne käme es zu weniger zu nationalistischen Aggressionen, meinte er. Der Sportwissenschaftler und Fanprojektebetreuer Axel Pannicke ist da eher skeptisch.
"Ich glaube nicht, dass das der Weg ist. Also der Weg ist tatsächlich der, diese Gespräche mit den Fangruppen zu suchen. Unabhängig davon können wir sicherlich ethnische Problematiken, die in einzelnen Ländern sind, jetzt nicht wirklich vom Tisch wischen. Die zeigen sich dort in der Alltagskultur, natürlich dann auch im Fußballstadion."
Und auch Doktor Erhard Ertel meint, man sollte auf das wichtige Element Hymne im "Nationaltheater Fußball" keinesfalls verzichten.
"Alle Länder haben Defizite aufzuweisen, die eben die Menschen unmittelbar spüren, und nun, mit solchen Ereignissen wie der Fußball-WM die Gelegenheit bekommen, das zu kompensieren. Man darf Kompensation nicht nur negativ sehen, sondern es ist auch eine Form von Überlebensstrategie. Es ist nur ein Phantom, aber sie brauchen das, um diesen Halt zu finden, der ihnen wirtschaftlich, politisch et cetera nicht mehr gegeben ist."
Doktor Erhard Ertel von der FU Berlin betrachtet die Darbietungen auf grünem Rasen nicht nur als Sportfan, sondern auch als Theaterwissenschaftler.
"Es ist ein Theater, das auf der einen Seite großes Unterhaltungstheater ist, und auf der anderen Seite Ritualtheater, und an diesem Ritualtheater sind alle beteiligt, und da es sich auf einer sehr emotionalen Ebene abspielt, spielen zwei Sachen eine wichtige Rolle: das Singen und das choreografische sich Bewegen."
Auch wenn sie oft archaisch anmuten: Fangesänge im Fußballstadion gibt es erstaunlicherweise erst ab Mitte der 60er-Jahre, jedenfalls in Europa. Die Urhymne, den Hit "You'll never walk alone", sangen die Fans des FC Liverpool1963 zum ersten Mal - angeblich um ein bisschen Stimmung zu machen, als die Stadionmusikanlage ausgefallen war.
Gemeinsames Singen ist existenziell wichtig, meint Professor Eckart Altenmüller, Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin der Musikhochschule Hannover.
"Durch das Singen können wir uns in dieselbe Stimmung versetzen, wir können uns emotional synchronisieren. Und das ist etwas ganz Wichtiges, weil: Unser Problem als Menschen ist ja die Komplexität unseres Soziallebens, und durch Singen können wir vorübergehend in einem Zustand der Verschmelzung mit der Gruppe kommen, und das kann ein rauschhaftes Glücksgefühl mitbringen."
Aber Fans singen nicht nur aus reiner Freude, erklärt Axel Pannicke. Der Sportwissenschaftler ist Fanprojektebetreuer in Berlin.
"Die Fans versuchen halt durch Gesänge, einerseits sich selbst zu bestätigen in ihrer Gruppe, aber natürlich auch durchaus die gegnerischen Fans, die gegnerische Mannschaft zu verunsichern, möglichst gewaltig, und da gibt es verschiedene Formen. Es gibt ganz kurze Gesänge, die dann noch unterstützt werden durch rhythmisches Klatschen, und das steigert sich dann halt bis zu kompletten Liedern. Fans versuchen auch ein Spiel, was so dahinplätschert, durch Wechselgesänge, durch unterschiedliche Rhythmen irgendwie nach vorne zu treiben. Zumindest bilden sie sich ein, dass ihr Engagement in der Kurve dazu führt, dass die auf dem Platz anders spielen, besser spielen."
Die Choreografie wird meistens durch Chantleader, Vorsänger, bestimmt, die - mit dem Rücken zum Spielfeld - mit Megafon oder Trommel die Ränge dirigieren. Es gibt auch einen Urrhythmus; entnommen dem Lied "Hold tight" von Dave Dee von 1966. Heute kommen, anders als zu den Anfängen, Fangesänge nicht mehr aus der Jugendkultur.
"Ich glaube, dass aktuelle Musik, Hip-Hop, sich wirklich nicht eignet für diese spezielle Choreografie. Auf jeden Fall muss es was Einfaches sein. Es soll ja möglichst vielen leicht gemacht sein, da mitzusingen, und viele der Lieder sind tatsächlich Schlager aus den 60er-, 70er-Jahren, andere kommen aus dem Volksliedgut, nur dass sie andere Texte dafür halt finden im Fußballumfeld."
Neben Schlagern oder Karnevalsliedern als Anfeuerungs- oder Schmähgesang gibt es noch Triumphhymnen, eher aus der Klassik - oder sogar Kirchenmusik. Denn oft haben die Fanrituale fast religiösen Charakter, wie das Schalspannen. Die Arme weit gestreckt über dem Kopf gen Himmel, den Vereins- oder Länderschal in beiden Händen wiegt man sich zur Musik in Verzückung oder auch in tieftraurigem Schmerz.
Große Gesten und Hymnen gehören zum Ritualtheater Fußball - und vor allem auch Nationalhymnen, denn Fußball ist Nationaltheater, behauptet Erhard Ertel.
"Diese These, die basiert darauf, dass in Europa seit dem 17., 18. Jahrhundert das Bemühen da ist, staatliche Einheiten zu konstruieren, die aber alle ein Problem haben: keine wirkliche Basis, auf der Gemeinschaften gebildet und strukturiert werden. Das heißt, man muss mehr oder weniger künstlich auf der Basis von Ideen zunächst Gemeinsamkeiten postulieren, und die muss ja irgendjemand vertreten. Das hat zunächst damals das Nationaltheater, also zu Lessings Zeiten, gemacht, und diese Funktion hat im 20. Jahrhundert nach meiner Meinung der Sport und der Fußball im Besonderen übernommen."
Eine Weltmeisterschaft wie die in Südafrika wäre also ein großes Theatertreffen, bei dem jede Nation ihr eigenes Stück aufführt - und Hauptrequisit ist eben die Nationalhymne. Sie gehört neben Flagge und Feiertag zu den klassischen Staatssymbolen, zu den emotionalen Identitätselementen. Fast alle stammen aus europäischer Musiktradition, sogar die japanische Melodie, und sie lassen sich zumindest grob kategorisieren. Professor Albrecht Riethmüller, Musikwissenschaftler an der FU Berlin:
"Nämlich einmal die getragene, eher sakral konnotierte und auf der andere Seite die agitierende, die kampfeslustige; zur ersteren würden als Klassiker, wenn man so sagen darf, die Urmutter aller Hymnen zählen, nämlich 'God save great George, our king', übrigens ist ja auch die deutsche lange genug gewesen. Und die Inkarnation des anderen Typus wäre die Marseillaise. Es gibt ja gerade in Südamerika einen dritten Typus von Nationalhymnen, der ja an so leichte Opernmusik italienischer Provenienz erinnert."
Nationalhymnen enthalten erstaunlicherweise kaum musikalische Folklore; so findet man in der brasilianischen beispielsweise keine Sambaklänge. Manche haben sogar die gleiche Melodie: Liechtensteins Hymne und die Großbritanniens etwa, ebenso die von Polen und Serbien-Montenegro. Deshalb lässt sich das Nationale der Hymnen nicht ohne den Text verstehen.
"Aber die politischen Konnotationen der Hymnen, die liegen im jeweiligen Staatsverständnis, liegen in der jeweiligen Verfassung eines Landes, und da muss man natürlich mit allen Kuriositäten rechnen."
"Last uns die Reihen schließen! Wir sind bereit zum Tod, wir sind bereit zum Tod!"
... singen zum Beispiel die Italiener. Es gibt zwar auch ein paar friedliche Hymnen. Die Schweden preisen ihre Heimat als "das lieblichste Land der Erde", Saudi-Arabien lobt seinen König. Aber mehrheitlich sind Nationalhymnen Aufrufe zu Revolution und Gewalt.
"Mexikaner zum Kriegsgeschrei, den Stahl fest in der Hand. Auf dass die Erde in ihrem Innersten erbebe, zum Donnergrollen der Kanonen."
Mit diesen Worten im Ohr und auf den Lippen treten die Mexikaner beim WM-Eröffnungsspiel gegen die Fußballer Südafrikas an. Sehen wir dort also zwei Nationen spielerisch miteinander kämpfen?
Beim Abspielen der Hymnen sind die Mannschaften noch Teil jenes Nationaltheaters, von dem Erhard Ertel spricht: Stolz aufrecht stehend - alle Spieler in einer Reihe übrigens, nicht gegenüber - fassen sich manche an den Händen oder stehen Arm in Arm, andere legen die Hand aufs Herz; viele singen voller Inbrunst mit, manche schweigen andächtig. Nach dem Anpfiff allerdings sind die Spieler keine Hauptdarsteller mehr.
"Es war mal so, dass sich nationale Besonderheiten in der Spielweise, sowohl im Spielansatz, also in der Spielstrategie, aber auch im körperlichen Umgang, mit dem Ball, mit dem anderen Spieler et cetera zeigte. Manche sind inzwischen klischeehaft erstarrt, also der deutsche Arbeiter oder diese leichtfüßig spielerischen ballverliebten Südamerikaner. Das ist leider etwas verloren gegangen, seit ein unglaublich starker kommerzieller Markt den Fußball bestimmt. Da aber Fußball als Nationaltheater weiterhin eine große Rolle spielt, ist diese Darstellung des Nationalen gewandert von der Rasenfläche mehr auf die Ränge."
Hier spielen die Zuschauer ihre ureigenen Instrumente, schwenken ihre Nationalflaggen, hüllen sich darin ein oder malen sich die Landesfarben ins Gesicht; und sie führen typische Gesänge oder Tänze auf. Nicht ohne Grund werden die Fernsehkameras bei Spielen der brasilianischen Mannschaft besonders gern auf die Ränge gerichtet mit den leichtbekleideten weiblichen Fans.
Inzwischen, spätestens seit der WM 2006, schwelgt man auch in Deutschland in Länderspielzeiten recht ungehemmt in nationalen Gefühlen - was manchem immer noch ein wenig Bauchschmerzen bereitet. Erhard Ertel:
"Das Problem liegt aber nicht darin, sich zur Nation zur bekennen, sondern das Problem liegt darin, angemessene Formen zu finden, mit der dieses Bekenntnis dargestellt werden kann. Da in den letzten, sagen wir mal, 100 Jahren die meisten Symbole verbraucht oder diskriminiert wurden, und teilweise auf eine verheerende Art und Weise, hatte man quasi keinen Fundus mehr, dieses Nationalgefühl darzustellen."
Und ein ritueller Neuanfang, mit neuer Hymne und neuer Flagge, der ist nicht gemacht worden: 1945 nicht; und ebenso wenig 1989.
"Und von daher ist es dann immer nur der Griff in die Kiste der alten Symbole, halt. Und dann wird es immer zweischneidig."
Gerade auch im deutschen Fußballtheater-Alltag zeigt sich mitunter diese Zweischneidigkeit im Umgang mit nationalen Symbolen. Fanprojektebetreuer Axel Pannicke:
"Es gibt in letzter Zeit immer wieder Leute, die teilweise eben im Stadion stehen und den rechten Arm dabei heben oder eben die erste Strophe der Nationalhymne anstimmen. Gibt es auch noch."
Fußballtheater ist keine leichte Kost: Der britische Zoologe Desmond Morris verglich die Fanrituale mit ethnischen Stammesriten, die vor allem zur Jagd oder vor einem Krieg zelebriert wurden. Dazu gehören das Nach-vorne-Strecken der Arme und das Hüpfen auf der Stelle, womit man sich in eine Art Trance bringen kann, ebenso wie die Kostümierung und Maskierung oder Gesichtsbemalung - alles begleitet von Schlachtgesängen.
"Wir haben ja beim Sporttheater einen wesentlichen Unterschied zum klassischen Theater, die Darstellergruppe ist in sich gespalten, es gibt ja zwei Mannschaften, und das Publikum ist auch von vornherein gespalten. Das heißt, man verkörpert die eigene Macht, laut und stark auf der einen Seite, macht sich damit selbst Mut. Auf der anderen Seite dient dieses laute Machtvolle dazu, den Gegner, die Spieler wie das andere Publikum zu beeindrucken, einzuschüchtern, ja in gewisser Weise auch Angst zu verbreiten, und es gibt in Europa, sicher in Südamerika erst Recht, Stadien, die für ihre Gewalt, mit der sie akustisch und auch choreografisch daherkommen, berühmt sind."
Vielen Menschen, nicht nur gegnerischen Fans, wird es mulmig, wenn sie die Stadionmassen singen hören. Dazu der Musikwissenschaftler Professor Eckart Altenmüller:
"Dass das gemeinsame Singen in großen Chören auch etwas Beunruhigendes hat, das ist ja bei allen Massenversammlungen - und wir haben das ja in unserer Geschichte erlebt, was damit ausgelöst werden kann. Und auch das ist einer der Gründe, warum nach dem Zweiten Weltkrieg uns, zum Beispiel meiner Generation, ich komm aus der Generation kurz nach '68, das Singen gleich suspekt war."
Die akustischen Darbietungen im Fußballstadion führen zunehmend auch zu internationalen Affären - dann nämlich, wenn die gegnerischen Fans die Nationalhymne nicht respektvoll anhören; so geschehen etwa beim Länderspiel Tunesien gegen Frankreich im Oktober 2008 in Paris, als die Marseillaise mit Buhrufen und Pfiffen begleitet wurde; oder beim WM-Qualifikationsspiel zwischen der Schweiz und der Türkei 2006, als beide Nationalhymnen ausgepfiffen wurden und es zu schweren Tumulten im Stadion kam.
Der Präsident des Weltfußballverbandes Joseph Blatter regte deshalb vor ein paar Jahren eine Diskussion über die Abschaffung der Nationalhymnen bei Länderspielen an: Ohne das Absingen der Hymne käme es zu weniger zu nationalistischen Aggressionen, meinte er. Der Sportwissenschaftler und Fanprojektebetreuer Axel Pannicke ist da eher skeptisch.
"Ich glaube nicht, dass das der Weg ist. Also der Weg ist tatsächlich der, diese Gespräche mit den Fangruppen zu suchen. Unabhängig davon können wir sicherlich ethnische Problematiken, die in einzelnen Ländern sind, jetzt nicht wirklich vom Tisch wischen. Die zeigen sich dort in der Alltagskultur, natürlich dann auch im Fußballstadion."
Und auch Doktor Erhard Ertel meint, man sollte auf das wichtige Element Hymne im "Nationaltheater Fußball" keinesfalls verzichten.
"Alle Länder haben Defizite aufzuweisen, die eben die Menschen unmittelbar spüren, und nun, mit solchen Ereignissen wie der Fußball-WM die Gelegenheit bekommen, das zu kompensieren. Man darf Kompensation nicht nur negativ sehen, sondern es ist auch eine Form von Überlebensstrategie. Es ist nur ein Phantom, aber sie brauchen das, um diesen Halt zu finden, der ihnen wirtschaftlich, politisch et cetera nicht mehr gegeben ist."