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"Deutschland hat sich gefunden"

Joachim Gauck spricht über falsche Erinnerungskultur, Stasi-Akten, Meinungsfreiheit, das Zusammenwachsen von Ost und West sowie die große Freude über die Wiedervereinigung.

Joachim Gauck im Gespräch mit Stephan Detjen |
    Stephan Detjen: Lassen Sie mich das Gespräch mit einer Frage an den Zeitzeugen Joachim Gauck beginnen. Herr Gauck, Sie waren bis zum 3. Oktober 1990 Abgeordneter der frei gewählten Volkskammer in Ostberlin und haben dort insbesondere das Gesetz zur Sicherung der Stasi-Unterlagen ganz maßgeblich mit geprägt. Mitten während der Feierlichkeiten zur deutschen Einheit wurden Sie dann zum Leiter der neu geschaffenen Stasi-Unterlagenbehörde ernannt, die dann mal Ihren Namen trug als "Gauck-Behörde". Wie geschah das?

    Gauck: Na ja, es war nun nicht mitten in der Veranstaltung, aber jedenfalls doch im Rahmen dieser Veranstaltung – auf einem Flur in der Mitte Berlins am Gendarmenmarkt im Schauspielhaus, das heute Konzerthaus heißt. Ja, da kriegte ich eine Urkunde, und ich fragte mich, was soll denn das jetzt? Ich möchte hier doch Musik hören und mich der feierlichen Stimmung hingeben. Nein, es war eben der Übergang in das einheitliche Deutschland – die Nacht zum 3. Oktober, und am Dritten mussten die Stasi-Unterlagen in einer festen Hand sein.

    Und ich wusste noch nicht, dass man, wenn man die Urkunde in der Hand hat, tatsächlich berufen ist. Und das wussten die Beamten natürlich, die mich gesucht und gefunden haben. Und so schleppte ich dann ein Schriftstück mit mir herum – eine Berufungsurkunde, höchst eigentümlich, denn nicht nur der Bundespräsident, was normal wäre, sondern auch Kanzler und Innenminister hatten unterschrieben. Ja, da war ich nun also Bundesbeauftragter, damals hieß das noch Sonderbeauftragter. Und die Akten hatten nun einen obersten Aufseher. So war das.

    Detjen: Und aus der Stasi-Unterlagenbehörde wurde die Gauck-Behörde, dann wurde sie zur Birthler-Behörde. Im kommenden Jahr geht sie in die dritte Generation, dann endet die Amtszeit von Marianne Birthler. Die Diskussion um die Besetzung des Postens läuft gerade auch in den Medien an. Welches Profil muss ein Leiter oder eine Leiterin dieser Behörde, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, heute noch haben?

    Gauck: Nun, es wird mit 99-prozentiger Sicherheit jemand sein, der aus dem Osten kommt, der eine Biografie hat, die in der Nähe dieser Akten gelebt wurde. Ich will ganz bewusst keine Namen nennen, aber er sollte jedenfalls zur Demokratiebewegung gehört haben, sagen wir's mal so. Der Kreis der Bürgerrechtler ist ein sehr enger, und es gibt hoch ehrenwerte Leute, die für die Revolution äußerst wichtig waren, aber denen die Gabe, eine Behörde zu leiten, nun vielleicht fehlt. Das muss man nun auch ganz deutlich sehen. Deshalb sollte es jemand sein, der nach Möglichkeit auch schon Erfahrung hat mit rechtsstaatlichem Verwaltungshandeln, der vielleicht auch eine Behörde schon erlebt hat. Das ist nicht zwingend, aber das wäre hilfreich. Ja, da muss man sehen, ob es nun ein Mensch ist, der schon juristische Qualifikationen hat oder Behördenqualifikationen, oder dem man jedenfalls zutraut, eine große Bundesbehörde zu leiten und auch die Fähigkeit hat, dann zu kommunizieren.

    Detjen: Die Behörde verwaltet die Akten ja nicht nur, sie betreibt auch selbst aktiv zeithistorische Forschung. Sie hat eine große Forschungsabteilung, sie arbeitet also die Geschichte der SED-Diktatur auch mit auf. Was ist da aus Ihrer Sicht und was bleibt da aus Ihrer Sicht in Zukunft noch zu tun?

    Gauck: Das Mit-Aufarbeiten war wichtig, denn die Behörde steht neben anderen staatlichen Institutionen, die auch diese Aufgabe haben, wie Bundeszentrale für politische Bildung oder Landeszentrale oder Museen und Gedenkstätten, aber auch Institutionen, die eigentlich Bürgereinrichtungen sind, wo Vereine sich verbünden mit denen, die einen staatlichen Auftrag haben – die spezielle Aufgabe der Wissenschaftsabteilung dieser Behörde besteht darin, möglichst umfassend die Struktur der Staatssicherheit der Bevölkerung zu erklären und alles, was mit dem Stasi-Thema zusammenhängt, unter die Bevölkerung zu bringen.

    Das Besondere der Mitarbeiter im Hause ist, dass sie Zugang haben zu jeder Akte und die ungeschwärzt lesen können, was normale Wissenschaftler nicht können. Die können zwar auch mit diesen Akten arbeiten, sofern es Akten von Mitarbeitern oder Offiziellen der Staatssicherheit sind, aber sie müssen damit zufrieden sein, dass eben solche Inhalte, die sich nicht ganz konkret jetzt auf den Forschungsgegenstand beziehen, geschwärzt werden. Dadurch entstand viel Misstrauen, auch bei der Forschung draußen. Und sie haben sich gewünscht, man könnte die Akten genau so lesen, wie die Behördenforscher auch. Das hat der Gesetzgeber aber nicht gewollt.

    Detjen: Herr Gauck, Sie haben auch nach dem Ende Ihrer Amtszeit als Leiter dieser Behörde, als ehemaliger Leiter der Gauck-Behörde, immer noch eine aktive Rolle gespielt. Nun springen wir in die Gegenwart. In diesem Jahr hat Ihre Karriere noch einmal eine für viele, wahrscheinlich auch für Sie selbst, ganz überraschende Wendung genommen – mit der Kandidatur zum Amt des Bundespräsidenten. Wenn Sie heute sehen, mit welchen Problemen Christian Wulff in dem Amt konfrontiert ist, ist dann der Kelch an Ihnen vorbei gegangen?

    Gauck: Ja, das kann man auch sehen. Aber ich bin nun nicht der Typ, der sich vor Schwierigkeiten so fürchtet, dass er dann am liebsten weggeht, dann hätte ich auch das Amt eines Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen nicht annehmen dürfen, denn das war mit erheblichen Konflikten verbunden und es war Neuland – diese Form der Aufarbeitung, auch für den Westen. Da musste viel gearbeitet und auch gekämpft werden und manche Anfeindungen übrigens auch ausgehalten werden.

    Christian Wulff ist natürlich nicht zu beneiden in dieser ersten Phase, was ihm da an Problemen auf den Tisch kamen – oder was er sich vielleicht auch selber auf den Tisch gezogen hat. Er hat eine wichtige Bewährungsphase zu durchlaufen, und wir wünschen ihm alle, dass das gut gelingt. Und ich bin ganz zuversichtlich, dass er das packen wird.

    Detjen: Er steht wegen seiner Rolle bei der – wenn man will – "Verbannung" von Thilo Sarrazin aus dem Vorstand der Bundesbank in der Kritik, da hat er eine Vermittlerrolle angenommen. Das hätte Ihnen auch gelegen.

    Gauck: Nun, Sie werden jetzt doch nicht von mir erwarten, dass ich die Amtsführung von Christian Wulf hier zensiere oder kommentiere. Das wäre ja nun wirklich sehr merkwürdig, da möchte ich mich gern zurückhalten.

    Detjen: Zu den Problemen, die Sie eben benannt haben, die haben einen Namen: Thilo Sarrazin. Haben Sie das Buch von Thilo Sarrazin gelesen?

    Gauck: Nein, wann soll ich denn das tun? Ich bin ja jeden Tag in einer oder zwei oder drei anderen Städten, und das ist also eine Zeit für mich – seit dem Juni –, die ich mir überhaupt nicht habe vorstellen können. Ich bin 70 und dachte eigentlich, irgendwo ab und zu auch mal auf einer Bank zu sitzen oder friedlich durch einen Park zu fahren. Und stattdessen hetze ich von morgens bis nachts durch die Landschaft und halte Reden. Manchmal kriege ich auch einen Preis, manchmal ist es ruhig, dann lese ich aus meinem Buch vor, meinem Erinnerungsbuch. Und das ist ja fast so eine Erholung, aber ich komme nicht dazu, dicke Bücher zu lesen. Natürlich lese ich manchmal Zeitung und höre Radio.

    Detjen: Da haben Sie die Debatte über Sarrazin sicher verfolgt . . .

    Gauck: . . . aber klar . . .

    Detjen: Dass Sie das Buch nicht gelesen haben, eint Sie mit der Bundeskanzlerin. Wie haben Sie diese Debatte beobachtet? Es ist ja auch ein Spiegel: Dieses Land, 20 Jahre lang wiedervereinigt, diskutiert über seine multikulturell, komplexer und differenzierter gewordene Gesellschaft.
    Gauck: Nun, wenn man sagt, das Thema existiert nicht, dann muss man ja taub und blind sein ...

    Detjen: Welches Thema?

    Gauck: Das Thema Integration und Fehler bei der Integration und Mängel bei der Integration. Sonst gehen nicht annähernd 700.000 Menschen hin und kaufen ein dickes Buch. Also, da muss schon etwas im Argen sein, und wo es jetzt wirklich stärker im Argen liegt – bei dem tatsächlichen Problem mangelhafter Integration oder bei der Vermittlung der Leistung und der Politik auf diesem Gebiet oder der Entscheidung der Politik auf diesem Gebiet –, das vermag ich gar nicht so zu entscheiden. Ich denke, Sarrazin hat mit großem Recht Defizite angesprochen. Und wenn wir das nicht mehr debattieren können – mein Gott, wo leben wir?

    Also, die Meinungsfreiheit ist eines der höchsten Güter, die uns unsere freiheitliche Verfassung anbietet. Und jetzt eben voreilig den Finger zu heben und sagen, das darf der nun mal gar nicht tun, davon halte ich gar nichts. Aber natürlich soll er auch Kritik einstecken und Kritik ertragen . . .

    Detjen: . . . das ist ja nicht nur kritisiert worden; er hat einen hohen beruflichen und persönlichen Preis bezahlt, das ist das Ende seiner Karriere gewesen, die SPD will ihn aus der Partei ausschließen. Sie haben vor etwas mehr als drei Wochen an der Seite von Angela Merkel den dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard als Vorkämpfer für das Recht auf freie Meinungsäußerung mit einem Preis ausgezeichnet. Kurt Westergaard ist der Mann, der in Dänemark Karikaturen des Mohammed veröffentlicht hat und seitdem in seinem Leben bedroht ist und schwer bewacht werden muss. Also, wie verträgt sich das mit der Sanktionierung von Thilo Sarrazin, der vielleicht provokative, vielleicht unzutreffende, aber eben keineswegs verbotenen Thesen zur Diskussion gestellt hat?

    Gauck: Es ist so, dass ich erstens dem Herrn Westergaard nicht den Preis verliehen habe, sondern ich habe laudatiert, als andere ihm einen Preis gegeben haben. Das ist ein kleiner Unterschied. Zweitens habe ich das ganz bewusst auch angenommen und mit tiefer innerer Überzeugung getan. Ich bin ein religiöser Mensch und habe Probleme damit, wenn religiöse Symbole durch den Kakao gezogen werden. Ich mag das nicht, weder im Kabarett noch in der Karikatur, das entspricht nicht meinem Stil. Aber es muss Menschen geben, die anders als meine Stilerwartungen sind und gegen meine kulturellen Erwartungen ihre Meinung ausdrücken können. Und das hat er getan, und man muss seine Meinung vielleicht nicht teilen und kann ihm trotzdem die Freiheit, seine Karikaturen zu machen, lassen.

    Es hat mich auch sehr verwirrt, dass im freien Dänemark eine Zeitung auf die Idee kommen musste, mal zu versuchen, wie viel Zivilcourage haben wir denn unter unseren Künstlern. Gibt es da eine Furcht, die sie bannt, frei von der Leber weg zu zeichnen und zu sprechen. Und so ist ja überhaupt diese ganze Westergaard-Karikatur entstanden.

    Aber Sarrazin soll in diesem freien Land frei seine Meinung sagen. Er hat auch übrigens das Recht auf Irrtum. Es gibt nicht nur bei ihm, sondern bei 1000 anderen Menschen Fehlgriffe bei der Argumentation, allein bei Argumentationsstützen, die gar nicht helfen. Und das scheint mir hier von dem, was ich gelesen habe, doch relativ überzeugend, dass sein genetischer Ansatz fragwürdig ist. Ich halte übrigens auch den religiösen Ansatz für debattenwürdig, denn ich kenne Muslime. Sie begegnen mir als Taxifahrer und Unternehmer, die kommen aus dem Iran. Und die sind wunderbar integriert.

    Detjen: Viele von denen, die Thilo Sarrazin in der jetzigen Debatte in Schutz nehmen, sagen, dass die schärfsten, die wirksamsten Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch ungeschriebene Gesetze etabliert werden, also durch Regelungen der politischen Korrektnis, durch einen Mainstream in der öffentlichen Meinung. Teilen Sie diese Beobachtung, gibt es möglicherweise zu viele Tabus in Deutschland?

    Gauck: Na ja, man kann schon sehr leicht in eine Ecke geraten, in der man dann plötzlich nicht mehr in Studios eingeladen wird oder auch nicht mehr um Debattenbeiträge gebeten wird. Das begrüße ich zum Teil, weil wir geprägt sind von einer Nachkriegssorge um den Verlust von Demokratie, um den Verlust von Freiheit. Diese deutsche Überängstlichkeit und politische Korrektheit ist ja nicht entstanden, weil es ein irgendwie konservatives Königtum gibt, das sich wünscht, dass alles in seinem Geschmack bleibt, sondern in einem tiefen Fall dieser Nation.

    Nur wir bedenken manchmal nicht, dass wir 60 Jahre entfernt sind von der Niederlage dieser verbrecherischen Ideologie und dass sich Deutschland gefunden hat. Deutschland hat sich gefunden. Es hat eine Zeit gestaltet von 60 Jahren Herrschaft des Rechts, 60 Jahren Geltung der Bürgerrechte und der Menschenrechte. Und diese starke Phase der deutschen Geschichte löscht nicht das, was wir in der Nazizeit oder auch in der kommunistischen Zeit veranstaltet haben in Deutschland, aber es zeigt doch, dass wir verlässliche Rechtsstaatler sind. Und deshalb müssen wir uns nicht fürchten, wenn in Meinungsumfragen oder auch in Volksbefragungen oder Bürgerabstimmungen das mal etwas populistisch zugeht. Das gehört zur Meinungsfreiheit.

    Und Deutschland verliert sich nicht gleich wieder in einer Diktatur, wenn einer Thesen verbreitet, die kritikwürdig sind. Wir haben starke intellektuelle Kräfte und starke institutionelle Kräfte, um die Debatte dann wieder zurechtzurücken. Und ich finde, die Bundeskanzlerin übrigens nicht besonders kritikwürdig, wenn sie sehr deutlich macht, wie sie dieses Land definiert, als Einwanderungsland. Und das muss ihr zustehen, genau wie einem Intellektuellen zustehen muss, eben hyperkritische Meinungen zu formulieren.

    Detjen: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk am 3. Oktober, dem 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, mit Joachim Gauck. Herr Gauck, auch die Diskussion zwischen Ost- und Westdeutschen war in den letzten 20 Jahren immer wieder von Empfindlichkeiten, von Rücksichtnahmen, auch von Tabus wahrscheinlich begleitet. Haben wir uns in diesen zwei Jahrzehnten alles gesagt, was zwischen Ost- und Westdeutschen zu besprechen ist, oder gärt da noch viel Ungesprochenes in der kollektiven gesamtdeutschen Küche?

    Gauck: Herr Detjen, Sie könnten mich ja was Feierlicheres fragen an diesem feierlichen Tage ...

    Detjen: ... das kommt noch.

    Gauck: Hier muss ich sagen, es ist manchmal so, auch hier gibt es einen schonungsvollen Diskurs, wo der eine dem anderen nicht wirklich sagt, was er von ihm denkt. Die Redakteure und die Politiker, die wissen schon, wo die Sprachgrenzen da auch sind.

    Detjen: Wo sehen Sie diese konkret? Was sind diese Themen?

    Gauck: Ja, wissen Sie, es ist manchmal so, eine bestimmte Art von Unfug muss man dann auch Unfug nennen. Und man muss eine Nostalgie auch Nostalgie nennen dürfen und dann nicht so verschämt da rum sprechen "Jeder hat so seine Sicht" und "Jeder hat seine Biografie". Freilich hat jeder seine Biografie.

    Detjen: Sie sprechen über den Umgang mit der Linkspartei.

    Gauck: Ja, selbstverständlich. Und hier muss man auch manchmal sagen, Biografie ist nicht gleich Biografie. Ich möchte nicht, dass die Biografien der Unterdrücker und ihrer Verteidiger, die es auch heute noch gibt, genau so zählen wie die Biografien der Unterdrückten. Ich möchte, dass sie die selben Rechte haben, damit ich nicht missverstanden werde. Ich will keine rechtliche Diskriminierung. Aber in unserem Urteil müssen wir doch imstande sein, diejenigen anders zu bewerten, die für die freiheitlichen Werte gestanden haben und diejenigen, die sie uns geraubt haben. Und deshalb entsteht manchmal so ein milder Blick, den einige noch aus den alten Zeiten mitgebracht haben, einige Westler, als sie nicht imstande waren, den Kommunismus als Diktatur zu definieren. Und das gibt es auch heute noch.

    Und dann gibt es im Osten diese merkwürdige Haltung, die mir als Älterem ja schon nach dem Krieg begegnet ist, eine Art, sich zu erinnern an die Vergangenheit, wo immer nur Positives vorkommt. Nach dem Krieg mochte Oma vielleicht sagen, es war auch nicht alles schlecht beim Führer, und dann kam sie mit den Autobahnen und mit der Vollbeschäftigung. Und heute hörst du in den selben Familien oft – ja, Autobahnen nicht so oft natürlich, du musst nur Autobahnen durch Kindergärten und Kinderkrippen ersetzen und Vollbeschäftigung dazu stellen, und dann hast du wieder diesen Rückzug auf ein Erinnerungsgut. Das ist nicht erfunden.

    Aber daneben gibt es halt anderes zu erinnern, den Verlust der Grundwerte, die Unfreiheit, dass wir nie wählen durften, keine freien Gewerkschaften und keine freien Medien hatten. Und so merkwürdig es ist, aber es kommt immer wieder eine Menschengruppe, die da sagt: Also, es war auch nicht alles schlecht. Und dann lächeln sie dich fröhlich an. Und der Verständniswessi, der sagt dann: Na ja, wir wollen euch ja nicht die Biografien wegnehmen. Also, da wäre etwas mehr Deutlichkeit schon hilfreich.

    Detjen: Das ist natürlich auch eine generationell geprägte Perspektive des ehemaligen Bürgerrechtlers Joachim Gauck. Wir haben hier im Deutschlandfunk in den letzten Wochen hinlaufend auf diesen Tag der Deutschen Einheit junge Deutsche, 20-Jährige, die im Jahr 1990 geboren wurden, gefragt, was sie heute von ihrem Heimatland denken, was sie über die DDR wissen, was sie über die DDR an der Schule lernen. Und da ist ein Bild einer Generation entstanden, die zwar sehr sensibel regionale Unterschiede auch zwischen Ost und West in Deutschland wahrnimmt, schildern kann, aber die jedenfalls auf keinen Fall durch eine Ost-West-Kluft geteilt ist. Teilen Sie diese Beobachtung?

    Gauck: Ja. Das ist eben das Schöne, dass nicht alle so alt sind wie ich und nicht mal so wie Sie, sondern dass da Generationen nachwachsen, die schon eine sehr ähnliche Prägung haben. Und das ist eben ganz wichtig, welche Schule, welchen Kindergarten haben wir erlebt. Und es ist mein Reden seit mindestens 20 Jahren, eine Schule, in der man eine Klassensprecherin wählt anstatt eines FDJ-Sekretärs, ist eine andere. Eine Schule, die einen Fahnenappell hat und einen Wehrkundeunterricht ist eine andere Schule als das, was die 20-Jährigen jetzt erlebt haben. Und darum sind die viel dichter beieinander als die anderen Generationen, die so unterschiedliche Schulerfahrungen, Universitätserfahrungen oder Karrierewege hinter sich haben. Und das andere, das lebt sich so langsam aus einer Gesellschaft raus, diese Unterschiedlichkeit.

    Aber noch haben wir eine andere Kultur im Osten. Es ist noch eine Kultur einer Transformationsgesellschaft, die nicht 60 Jahre lang Zivilgesellschaft hat trainieren können in parteienfreien Vereinen und Gewerkschaften, in Medien. Und das merkt man. Die sind nicht charakterschwächer als die anderen. Es gibt keine Charaktermauer zwischen Ost und West. Aber es gibt diese so unterschiedlichen Trainingsfelder, auf denen wir agiert haben, wenn wir älter sind.

    Und die Jugendlichen, die spielen im selben Spiel, das heißt Demokratie und es heißt Selbstermächtigung, Erziehung zu freier Meinung und zu Eigeninitiative und Eigenverantwortung. Und all das, was ich zuletzt genannt habe, freie Meinung, Eigeninitiative, Eigenverantwortung, das war eher schädlich, wenn du in der DDR aufgewachsen bist. Es war hilfreich, so zu tun, als lebtest du in der vormodernen Gesellschaft der Fürsten. Halt den Mund, sei gehorsam, passe dich an – und dann wirst du erhoben werden.

    Schauen Sie, das lebt sich nicht von jetzt auf gleich aus einer Bevölkerung heraus. Und darum brauchen wir noch etwas Zeit für diesen Mentalitätswandel. In zehn Jahren, wenn wir uns wiedertreffen, und in 20, wenn Sie jemand anders fragen müssen, dann wird sich das vermindert haben. Dann sind die Jungen und nach der Einheit aufgewachsenen eben in der deutlichen Überzahl.

    Detjen: Es gibt natürlich auch Verlierer der Einheit, nicht nur Menschen, sondern auch Institutionen, zum Beispiel die Kirchen. 1989 ging die friedliche Revolution von den Kirchen, insbesondere von evangelischen Kirchen aus. Auch Sie waren damals Pastor in der Bürgerrechtsbewegung. 20 Jahre später stecken beide Kirchen im wiedervereinten Deutschland in einer Krise. Gerade der Osten ist zu einer weitgehend entkonfessionalisierten Region geworden. War das zwangsläufig? Bedauern Sie das?

    Gauck: Das war in der DDR schon so und das folgt einer jahrzehntelangen Entwicklung, wo man dafür belohnt wurde, wenn man nicht in der Kirche war und Schwierigkeiten gewärtigen musste, wenn man in ihr verblieb. Und deshalb ist das nicht eine Erscheinungsform, die wir jetzt nach der Einheit sehen, sondern die Kirche ist marginalisiert worden. Wir haben erlebt, dass in dieser kleiner gewordenen Kirche, in diesen eher bekenntnismäßig geprägten Gemeinden starke Charaktere und eine sehr starke Überzeugungskraft gewachsen ist. Die Kirchen, die sich fürchten, die verlieren. Die Kirchen, die wissen um ihren Wert und um ihre Bedeutung, die gewinnen.

    Und deshalb ist das, was wir in vielen Industriestaaten sehen, ein Prozess der Säkularisierung und der Kirchenferne, davon wird die Kirche sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Wenn sie bei ihren Themen bleibt und wenn sie fähig ist, die Menschenliebe wirklich zu vertreten, dann wird sie Zukunft haben und "die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden", wie es im Evangelium heißt.

    Detjen: Auch Sie waren Pfarrer, sind – wie man gerade gehört hat – ein noch immer bibelfester Politiker geworden. Hat sich Ihr Glauben in dem veränderten neuen politischen Kontext des wiedervereinten Deutschlands verändert?

    Gauck: Nein. Es hat sich ein Gefühl verändert, das ich habe, wenn ich Gemeindeglied bin. Ich war in Zeiten der Diktatur noch stärker angewiesen auf den Trost aus meinem Glauben und auf die Gemeinschaft derer, die mit mir geglaubt haben als Minderheit. In unseren Minderheitengemeinden und in unseren Freundeskreisen, auch in den Zirkeln von Künstlern, ist eine Binnenstruktur gewachsen, die deshalb so wichtig für uns war, weil sie uns eine Nahrung gegeben hat, unsere Seelennahrung, gegen die da oben.

    Und diese Intensität eines Lebens gegen unsere Beherrscher hat viele verbunden im Nachhinein mit dem Regime DDR. Aber es war die Gegenkultur der Unterdrückten. Und so etwas verliert sich, wenn die Unterdrückung weicht. Dann wird alles freier und offen und diese Intensität der Binnenstrukturen, die verändert sich da. Und deshalb empfinde selbst ich, der ich Freiheit und Demokratie über alles liebe und mich jeden Tag freue, dass es so gekommen ist, manchmal auch Trauer, weil es eine Intensität nicht mehr gibt, die ich früher in meiner Gemeinde gelebt habe.

    Detjen: Sie haben sich eben eine feierliche Frage gewünscht. Die kriegen Sie jetzt zum Schluss, und zwar mit Blick auf den jetzige Feiertag, auf diesen 3. Oktober. Das Wunderbare an dieser Deutschen Einheit ist ja, dass sie nicht nur von großen Staatsmännern ausgehandelt worden ist, sondern von Menschen, von mutigen Pastoren wie Ihnen, von Bürgerrechtlern, von Demonstranten auf den Straßen von Plauen, Leipzig, Berlin erkämpft und erstritten worden ist. Wäre nicht eines der Daten der ersten Großdemonstration im Oktober oder der Jahrestag des Mauerfalls, der 9. November der bessere Nationalfeiertag als dieser 3. Oktober?

    Gauck: Ja, das haben sehr viele Leute immer wieder gesagt. Die Leipziger wollen natürlich den 9. Oktober, weil das der Tag der ersten wirklich großen Demo war, der schon andere unterdrückte voran gegangen waren. Nun ist es mal so gekommen, und jetzt wollen wir nicht so tun, als könnten wir alle zehn oder 20 Jahre den Termin verschieben. Nun bleiben wir mal hier. Das ist der Tag, an dem ein Vertrag zustande kam, der uns wieder zueinander gebracht hat. Und wir alle wissen, vor diesem Tag war der 9. November '89 mit diesem Mauerfall. Und wir alle wissen auch, davor war Leipzig und Plauen im frühen Oktober. Und vor der Einheit kam die Freiheit. Und das müssen wir immer wieder sagen. So könnten wir auch den 17. Juni wieder zum Nationalfeiertag machen, weil uns, den 89ern, schon mutige Menschen vorangegangen sind mit ihrem Wunsch nach Freiheit und Demokratie.

    Aber wir sind angekommen. Und am 3. Oktober haben wir das gemeinsam gefeiert, sind durch das Brandenburger Tor gegangen und haben die Fahne Schwarz-Rot-Gold, die vom Hambacher Fest her für Demokratie steht, aufgezogen in der Mitte Berlins. Und so soll es nun bleiben und wir wollen uns freuen.

    Detjen: Herr Gauck, am 3. Oktober, am 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, der Wiedervereinigung. Vielen Dank für das Gespräch.

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