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Deutschland und Israel unterhalten freundschaftliche Beziehungen

Margarete Limberg: Herr Spiegel, aus Anlass des 40. Jahrestages der deutsch-israelischen Beziehungen wird Bundespräsident Köhler in Kürze Israel besuchen. Er wird im israelischen Parlament, der Knesset, reden und will dies auf deutsch tun, so wie sein Vorgänger Johannes Rau vor fünf Jahren. Damals boykottierten aus Protest eine Reihe von Abgeordneten die Rede, und auch jetzt gibt es heftige Auseinandersetzungen - auf der einen Seite wieder massive Proteste gegen eine deutsch gehaltene Rede in der Knesset, auf der anderen Seite der dem Likud angehörende Parlamentspräsident, der sich klar geäußert hat: Deutschland sei ein großer Freund Israels, und es sei undenkbar, dass der Bundespräsident als Gast Israels nicht in seiner Landessprache reden dürfe. Soll Köhler seine Rede Ihrer Meinung nach auf deutsch halten, oder zur Entschärfung des Konflikts auf englisch?

Moderation: Margarete Limberg |
    Paul Spiegel: Bundespräsident Köhler kommt als Repräsentant Deutschlands, und es muss ihm überlassen werden, in welcher Sprache er spricht. Allerdings muss man auch Verständnis dafür haben, dass es in Israel immer noch Menschen gibt, die das nicht ertragen können, wenn im israelischen Parlament auf deutsch gesprochen wird. Für die ist das immer noch die Sprache der Nazis. Darüber kann man nicht diskutieren, wie man eben über Emotionen nicht diskutieren kann.

    Limberg: Diese Auseinandersetzung zeigt ja auch, dass von Normalität in den deutsch-israelischen Beziehungen noch keine Rede sein kann. Wie weit sind wir von dieser Normalität entfernt, oder kann es sie überhaupt vor dem Hintergrund der Geschichte geben?

    Spiegel: Was ist eigentlich Normalität, was versteht man darunter? Allerdings, ohne mich mit diesem Thema sehr intensiv zu befassen, weil ich doch gar nicht weiß, was wir damit zu sagen haben: Ich nehme die Aussagen von Israelis, besonders von Regierungsseite, sehr ernst, die seit Jahren schon darauf hinweisen, dass die Beziehungen zu Deutschland sehr partnerschaftlich, sehr freundschaftlich und sehr fest sind. Und viele sagen – und zuletzt auch der israelische Botschafter in Deutschland sagt, dass Deutschland der zweitverlässlichste Partner ist nach den USA. Und das sagt doch schon sehr viel. Und wenn man heute schon darauf hinweist und feststellt, dass es zwischen Deutschland und Israel freundschaftliche Beziehungen gibt, so sind wir doch schon sehr, sehr weit.

    Limberg: Aber es gibt immer noch eine besondere Sensibilität gegenüber den Vorgängen hier im
    Lande, Rechtsextremismus, Antisemitismus, auch die Diskussion hier über den Nahostkonflikt.

    Spiegel: Aber wir haben auch Probleme damit, wenn in Deutschland festgestellt wird, dass es Antisemitismus gibt, dass 15 Prozent der Bevölkerung zumindest latent antisemitisch eingestellt ist, wenn hier fast täglich – und ich weiß, wovon ich spreche – fast täglich Schändungen jüdischer Friedhöfe stattfinden, wenn jüdische Einrichtungen, jüdische Personen beschützt werden müssen, unabhängig davon, ob gegen rechtsradikale Angriffe oder islamistische Angriffe. Das ist eine Tatsache, der wir uns nicht verschließen können, es ist eine Tatsache, mit der wir konfrontiert sind. Und das hat in Israel auch entsprechenden Niederschlag.

    Limberg: Glauben Sie denn, dass man hier entschlossen genug gegen diese Tendenzen vorgeht?

    Spiegel: Wenn man die Erfolge der Rechtsradikalen bei den letzten Landtagswahlen in Sachsen und in Brandenburg feststellt, dann können schon Zweifel aufkommen, weil die Frage sich daraus ergibt: Wie ist es möglich, dass vor allem Jungwähler sich rechtsradikalen Parteien zuwenden. Und wie ist es möglich, dass in einem Land wie Sachsen die NPD, also die rechtsradikale NPD fast so viele Stimmen hat wie die SPD. Das sind Fragen, die aufkommen, wenn man sich die Frage stellt: Wird hier genug getan? Es reicht auch nicht, dass man lamentiert und sagt: Es gibt immer noch Antisemitismus. Diese Wahlen waren schrecklich, und wie wird es sein bei den nächsten Landtagswahlen und vor allem bei der Bundestagswahl ?. Nein, man muss sich – und hier spreche ich alle gesellschaftsrelevanten Gruppen sowie die großen Parteien an – endlich mal zusammensetzen und mal überlegen: Was tut man dagegen? Denn einfach den Wählern sagen, wählt nicht die NPD – das reicht nicht, man muss sie überzeugen. Hier muss man Überzeugungsarbeit leisten.

    Limberg: Wo liegen denn die Hauptversäumnisse auf diesem Gebiet?

    Spiegel: Der Schlüssel liegt natürlich in den Schulen, wobei ich weiß, dass schon in den Schulen sehr viel sich beschäftigt wird mit dem Thema Holocaust, mit dem Thema Drittes Reich. Aber ich stelle immer wieder fest, dass trotzdem eine große Unkenntnis da ist. Es stellt sich also die Frage: Ist das richtig vermittelt worden, ist genug vermittelt worden, ist vielleicht zu viel vermittelt worden? Das sind Fragen, mit denen sich Fachleute auseinandersetzen. Und ich habe schon oft appelliert an die Kultusministerkonferenz, sich mit diesem Thema noch intensiver zu befassen und mal darüber nachzudenken, ob man nicht endlich – und das ist nicht eine Forderung oder ein Vorschlag, den ich seit heute mache – endlich den Lehrern Fortbildungsseminare anbietet, in denen die Vermittlung der Geschichte, der jüngsten deutschen Geschichte, also der Geschichte zwischen 33 und 45, den Lehrern etwas nähergebracht wird, wie man damit heute modern umgeht, damit sie von den jungen Leuten auch entsprechend aufgefangen wird.

    Limberg: Und wie ist das Echo der Kultusminister bisher?

    Spiegel: Ich habe kein Echo bisher gefunden.

    Limberg: Ein relativ neues Phänomen ist ja der Antisemitismus islamischer Zuwanderer. Vor allem unter islamischen Jugendlichen haben die Straftaten mit antisemitischem und antiisraelischem Hintergrund zugenommen. Muss man dagegen mit anderen Instrumenten vorgehen als gegen den – in Anführungsstrichen – "traditionellen Antisemitismus" der Rechtsextremisten?

    Spiegel: Wissen Sie, ich werde sehr oft gefragt: Was kann man tun gegen Antisemitismus. Der Antisemitismus – unabhängig, von welcher Seite – ist gegen uns gerichtet, richtig, das trifft zu. Aber seine Lösung ist nicht unser Problem. Wir Juden sind nicht Fachleute zur Bekämpfung des Antisemitismus. So lange der Antisemitismus, also Angriffe gegen Juden, überhaupt gegen Minderheiten oder fremdenfeindliche Aktionen, nicht von dem großen Teil der Bevölkerung als ein Angriff auf diesen Teil der Bevölkerung – auf den großen Teil der Bevölkerung – angesehen wird, sondern nur – in Anführungsstrichen – ‚auf irgendwelche Minderheiten oder andere Gruppen‘, so lange wird die Bekämpfung des Antisemitismus ein Problem bleiben. Und es muss der Allgemeinheit, vor allen Dingen der Jugend, endlich mal klargemacht werden, wohin Antisemitismus, wohin Neonazismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus Deutschland einst geführt hat.

    Limberg: Der Antisemitismus islamistischer Kreise ist ja vor dem Hintergrund zu sehen des Nahostkonflikts. Nun wird immer gesagt, Kritik an Israel ist berechtigt, hat mit Antisemitismus nichts zu tun. Aber es gibt manche Formen, die diese Grenze überschreiten. Wo ist für Sie diese Grenze, wo Kritik an Israel in Antisemitismus umschlägt?

    Spiegel: Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass es auch in Israel Kritik gibt an der israelischen Politik, dass es unter Juden in der ganzen Welt auch Kritik an der Politik Israels gibt. Es ist ein Unterschied, ob man kritisiert oder einseitig verurteilt. Leider müssen wir feststellen, dass auch in Deutschland sogenannte Kritik oder vermeintliche Kritik an Israel antisemitische Tendenzen beinhaltet. Kritik ist etwas sehr Konstruktives, Kritik unter Freunden ist angesagt. Aber noch einmal: Ob ich einseitig verurteile oder kritisiere, da sind die Grenzen natürlich sehr streng gesetzt, aber es gibt dort Grenzen. Und vor allen Dingen, wenn das Existenzrecht Israels in Frage gezogen wird, da bin ich fest von überzeugt, dass das mit Kritik überhaupt nichts mehr zu tun hat.

    Limberg: Herr Spiegel, Sie haben vorhin schon erwähnt den Einzug der NPD in die Landtage von Brandenburg und Sachsen. Nun hat es ja auch früher schon Rechtsextreme in deutschen Landesparlamenten gegeben. Was unterscheidet die jetzige Situation von der früherer Jahre?

    Spiegel: Vor allen Dingen, dass junge Menschen dazu neigen, solchen Tendenzen offen gegenüber zu stehen. Früher hat man gesagt: Das sind noch alte Nazis, die noch in Deutschland sind, die wählen da noch NPD oder erhoffen sich dadurch den Zugang noch zu früheren Zeiten. Es hat eine ganz andere Qualität bekommen, meiner Meinung nach eine sehr gefährliche Qualität. Und da glaube ich, ist es unbedingt erforderlich, sich mit diesem Thema, sich mit diesen Tendenzen sehr intensiv sich mit Fachleuten hinzusetzen und zu überlegen: Was können wir tun. Auch mit Pädagogen, auch mit Leitern von Freizeitstätten, von Jugendfreizeitstätten. Eine große Gefahr ist, dass auch in den neuen Bundesländern vor allen Dingen die Finanzmittel für Jugendfreizeitstätten entzogen worden sind, dass Jugendliche oft allein gelassen werden. Und dann sind sie Slogans gegenüber offen, zumal sie wiederum – und da schließt sich der Kreis – keine Kenntnisse haben oder falsche Kenntnisse haben über das, was zwischen 33 und 45 in Deutschland passiert ist – und vor allen Dingen, wie es dazu kommen konnte, dass überhaupt in Deutschland, in diesem Land, so etwas passierte.

    Limberg: Herr Spiegel, in einigen Tagen jährt sich die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen zum 60. Mal. Es wird zahlreiche Gedenkfeiern geben. Was bedeutet dieser Jahrestag für Sie?

    Spiegel: Das Gleiche, wie es vor zehn Jahren bereits war – einen Gedenktag, der breitestmöglich in Deutschland begangen wird in verschiedener Art und Weise. Aber ich vermisse da die Nachhaltigkeit. Ich habe da so oft das Gefühl, dass so ein Ritual entsteht: ‚Jetzt sind es 60 Jahre, jetzt müssen wir was tun‘. Das schlägt sich nieder auch in den Medien, sowohl in den Print- wie auch in den elektronischen Medien. Und das hat zur Folge, dass durch die Massierung, sich mit diesem Thema so auseinanderzusetzten, dann genau das Gegenteil erreicht wird, was nämlich die Medien wollen. Sie wollen eine Aufmerksamkeit erzielen, aber sie erreichen vielfach, dass die Bevölkerung, der Zuschauer, der Zuhörer sehr abschaltet, weil im das zu viel wird. Also, man hätte – ich habe appelliert an die Öffentlichkeit – mit diesem Thema etwas bewusster umgehen müssen und sich dann nicht nur auf eine Woche zu beschränken. Aber mein Ruf ist wieder verhallt, wie so oft in dieser Hinsicht. Und wir erleben tatsächlich jetzt eine Massierung mit diesem Thema. Und ich fürchte, dass das eben bei vielen Menschen das Gegenteil hervorruft. Die sagen: "Wir wollen nichts mehr hören, wir können es nicht mehr hören, gibt es denn keine anderen Themen?"

    Limberg: Wie kann verhindert werden, dass dieser Gedenktag einfach nur absolviert wird mit einer Massivität von Veranstaltungen, Äußerungen, Reden?

    Spiegel: Ich habe vor längerer Zeit bereits einmal vorgeschlagen, dass am 27. Januar nicht nur im Bundestag eine Gedenkstunde durchgeführt wird – wie auch in diesem Jahr, an der ich auch teilnehmen werde –, sondern dass beispielsweise in allen Schulen Deutschlands an diesem Tag in jedem Jahr eine Stunde man sich mit diesem Thema befasst. Und das kann vorbereitet werden jeweils von einer Schulklasse durch eine Projektwoche, und die es dann vorträgt, vorliest, vorspricht, damit wirklich die Jugend dann auch einmal vor Augen geführt bekommt, was dieses Thema bedeutet – nicht nur durch Lehrer, nicht nur durch Bücher, nicht nur durch Medien, sondern erarbeitet von Schülern selber. Ich glaube, das wäre eventuell eine Möglichkeit. Aber wie gesagt, ich habe weder von Schulen, noch von der Kultusministerkonferenz irgendein Echo auf diese Frage bekommen. Ich halte das nach wie vor für eine zumindest überlegenswerte Idee, über die man einmal sich unterhalten sollte.

    Limberg: Höre ich da Resignation heraus aus dem, was Sie sagen?

    Spiegel: In gewissem Sinne schon. Ich komme mir manchmal vor wie ein Prediger, der in der leeren Synagoge oder einer leeren Kirche predigt. Ich will aber nicht resignieren. Ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung weder Antisemitismus will noch Fremdenfeindlichkeit will. Mir geht es darum, dass auch künftig Rechtsradikalismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit in diesem Lande keine Chance hat, dass die Bevölkerung dieses Landes endlich diese Art von Fremdenfeindlichkeit abwehrt, dass der von Bundeskanzler Schröder damals geforderte Aufstand der Anständigen endlich mal sich auf breiter Ebene durchsetzt. Denn ich habe manchmal den Eindruck, dass es höchstens einen Aufstand der Unanständigen gibt, den man ja auch hört. Trotz allem: Es gibt viele Zeichen, es gibt viele Aktivitäten, es gibt viele Aktionen, trotzdem müssen wir leider immer noch über Antisemitismus sprechen. Und ich würde mich freuen, wenn wir irgendwann in absehbarer Zeit einmal dazu übergehen, dass ich sagen kann: Ich weiß nicht, was die Frage soll, es gibt eben keinen Antisemitismus hierzulande, und in Europa auch nicht. Das wäre mein Wunsch. Und ich gebe nicht auf, daran zu denken, dass es doch eines Tages in diesem Lande auch möglich sein wird.

    Limberg: Die Zahl derer, die noch aus eigenem Erleben Zeugnis ablegen können von den Verbrechen, wird ja immer kleiner. Wie kann man die Erinnerung daran wach halten? Sie haben das Problem ja schon angesprochen, gerade auch in der Arbeit mit Jugendlichen. Daten und Zahlen reichen nicht aus, und bei Jugendlichen droht ja der Holocaust in eine weite Ferne zu rücken wie irgend ein anderes historisches Ereignis. Wie kann ihr Interesse geweckt werden, wenn diese Zeitzeugen nicht mehr da sind?

    Spiegel: Ich glaube, dass hier der Schlüssel in der Begegnung liegt. Natürlich, wir haben in Deutschland 104.000 jüdische Gemeindemitglieder, auch Jugendliche – davon ist der Großteil erst in den letzten Jahren zu uns gekommen –, die noch selbst mit der Integration beschäftigt sind und eben noch nicht sich öffnen können nach außen in der Begegnung. Das wäre sehr wichtig, und ich bin davon überzeugt, in ein paar Jahren sind wir auch so weit. Deswegen würde ich es begrüßen, wenn der Austausch zwischen Jugendlichen in Israel und Deutschland intensiviert würde.

    Limberg: Sie sind ja selbst viel unterwegs in Sachen Aufklärung. Sie diskutieren mit Menschen, Sie halten Vorträge. Wie ist denn das Echo auf das, was Sie sagen? Wie ist das Interesse hinsichtlich dieser Thematik, Auschwitz, Holocaust?

    Spiegel: Ich muss feststellen und ich kann feststellen, dass das Interesse groß ist. Ich war vor zwei Wochen bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bonn im alten Bundestag, und es waren 1.300 Menschen dort anwesend. Und es war eine sehr intensive Diskussion, genau wie ich es in Schulen pflege, auch nach den Vorträgen mit den jungen Leuten zu diskutieren, und ich stelle ein großes Interesse fest. Das stelle ich auch fest: Ich habe mein letztes Buch – es ist ein Sachbuch, in dem ich etwas über jüdische Religion geschrieben habe –, das hat eine Auflage gefunden, die mich sehr überrascht hat. Also, es ist ein Interesse da. Das ist grundsätzlich, und das ist sehr, sehr zu begrüßen. Das ist heute mehr als noch vor 20 und 15 Jahren. Nur ich kann alleine ja nicht von montags bis freitags und sonntags mich auf den Weg machen und ausschließlich Vorträge halten und Diskussionen. Dafür brauchen wir mehr Menschen und dafür, glaube ich, haben wir noch nicht diese Menschen, die sich dafür zur Verfügung stellen. Deswegen noch einmal: Ich würde es begrüßen, wenn die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden würden, um den deutsch-israelischen Jugendaustausch viel intensiver durchzuführen.

    Limberg: Welche Bedeutung hat eigentlich dieser Gedenktag, der 27.1., seit 1996 in Deutschland ein offizieller Gedenktag für die Befreiung von Auschwitz, für den Holocaust?

    Spiegel: Seinerzeit hat Roman Herzog diesen Tag als Gedenktag festgelegt. Und ich finde, es ist richtig so, dass gerade der Befreiungstag von Auschwitz als ein offizieller Gedenktag festgelegt wird. Nur, er bleibt ein einziger Gedenktag ohne nachhaltigen Einfluss, wenn da nicht flankierende Maßnahmen, wenn ich das so ein bisschen flapsig sagen darf, erfolgen – in Schulen, in breiten Schichten der Bevölkerung. Und da müssen sich die Fachleute damit auseinandersetzen, wie erreichen wir die Menschen?

    Limberg: Herr Spiegel, Auschwitz steht ja wie kaum ein anderer Name für die Vernichtung der europäischen Juden durch Deutsche, es steht für die Täterschaft Deutscher. Nun beobachtet man seit einiger Zeit, dass es zahlreiche Bücher gibt, in denen die Deutschen als Opfer dargestellt werden, Opfer des Bombenkrieges, Opfer der Vertreibung. Sehen Sie in Deutschland eine Tendenz, die Geschichte umzuschreiben, wie manche in unseren Nachbarländer mutmaßen, oder sind diese Bücher legitimer Teil der Geschichtsschreibung?

    Spiegel: Nein, dass auch Deutsche gelitten haben, dass auch deutsche Städte gelitten haben, ist ja unzweifelhaft. Die Frage ist nur, wenn man das so begreift, dann muss man aber auch sich klar werden, wodurch das entstanden ist. Es ist ja nicht so, dass alliierte Kräfte plötzlich entschieden haben, Deutschland zu erobern, sondern wo ist die Entstehung? Und da kommen wir wieder zurück auf den Nationalsozialismus, der ja praktisch diese Verursachung ausgelöst hat. Wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte, hätte es keinen Holocaust gegeben, hätte es keine Bombardierung der deutschen Städte gegeben, hätte es auch keine Zweiteilung Deutschlands gegeben, keine Wiedervereinigung Deutschlands, keine Problematik durch das Zusammenschmelzen von Ost und West. Man muss die Ursachen immer wieder in Zusammenhang bringen mit dem, was Menschen gelitten haben, was Juden gelitten haben, was Nichtjuden gelitten haben in Deutschland. Die Ursache, wenn die nicht dargestellt wird, dann ist die Tendenz da, dass hier ein Umdenken erfolgen könnte. Ich sehe das zur Zeit nicht.

    Limberg: Im Augenblick gibt es heftige Auseinandersetzungen wegen der Absicht der Innenminister der Länder, die Zuwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zu begrenzen. Lange hat man es ja ein Glück, ja ein Wunder genannt, dass sich Juden wieder in Deutschland niederlassen. Nun zeigen sich Mitglieder des Zentralrates wie Charlotte Knobloch äußerst irritiert und die Grüne Claudia Roth spricht von Schande angesichts dieser Pläne. Sie selbst haben ja die Bereitschaft signalisiert, gewisse Neuregelungen zu akzeptieren. Die Innenminister wollen nur noch Juden ins Land lassen, die Grundkenntnisse der deutschen Sprache haben, die verwurzelt sind in einer jüdischen Gemeinde und bei denen man sicher sein kann, dass sie nicht allzu lange der Sozialhilfe zur Last fallen. Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen, aber ist denn eines von diesen Kriterien für Sie akzeptabel?

    Spiegel: Zweifellos muss man darüber nachdenken, die Zuwanderung neu zu regeln. Sie darf aber nicht auf dem Rücken derer ausgetragen werden, die bereits eine Zusage haben, nach Deutschland zu kommen. Das ist eine ganz wichtige Sache. Zum anderen habe ich volles Vertrauen in die Bundesregierung, speziell in Bundesinnenminister Schily, indem er gesagt hat, es wird keine Regelung getroffen ohne das im Einvernehmen mit uns zu machen. Deswegen sehe ich den Verhandlungen gelassen entgegen. Ich habe auch die Aussagen gehört des Innenausschusses des Bundestages vor ein paar Tagen, der gesagt hat, insgesamt wird es keine Beschränkung geben für Juden, die nach Deutschland kommen. Wir werden hören, was damit gemeint ist. Wir werden uns mit den Fragen auseinandersetzen. Ich höre, dass in den verschiedenen Parteien auch mit diesem Thema sehr, sehr fundiert umgegangen wird, auch verständnisvoll. Also ich sehe den Verhandlungen gelassen entgegen mit großem Vertrauen in unsere künftigen Gesprächspartner. Und bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich die Verhandlungen nicht über die Medien führen werde. Natürlich, wenn ich sage, es muss einige Neuregelungen geben, so unterstütze ich vor allen Dingen die Tendenz, dass die Menschen, die zu uns kommen, bereits vorher Kenntnis der deutschen Sprache haben. Das habe ich bereits vor einigen Jahren angekündigt, dass man den Menschen, die eine Zusage haben, nach Deutschland zu kommen, in der Zeit bis zu ihrer Auswanderung – meistens vergehen eineinhalb bis zwei Jahre – ihnen vor Ort die Möglichkeit gegeben wird, an Deutschkursen teilzunehmen. Das ist eine sehr wichtige Sache. Denn ohne Deutschkenntnisse gibt es kaum Möglichkeiten, sich in diesem Lande zu integrieren. Also das ist eine Möglichkeit, wo es keine Meinungsunterschiede gibt. Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass die Tendenz oder das Motiv der deutschen Bundesregierung, nämlich wenn es Zuzug von Juden aus dem Ausland gibt, hiermit die jüdischen Gemeinden in Deutschland zu stärken, nach wie vor die Basis jedes Denkens ist. Und deswegen bin ich relativ optimistisch, was die Zukunft in dieser Frage betrifft.

    Limberg: Was halten Sie denn von dem Kriterium, der Sozialhilfe nicht allzu lange zur Last zu fallen? Das würde ja wahrscheinlich vor allem ältere Zuwanderer treffen.

    Spiegel: Ich kann natürlich nicht akzeptieren, dass nur noch sozusagen, wie es in einer Zeitung stand, reiche Juden oder junge Juden kommen. Es ist auch die Frage der Familienzusammenführung, es sind Härtefälle zu berücksichtigen, es ist die Frage, warum Ältere nach Deutschland kommen. Allerdings möchte ich auch eines sagen: Durch diese ganze Diskussion in den Medien ist der Eindruck entstanden, als wenn nun eine Flut oder Millionen von Juden nach Deutschland gekommen sind in den letzten Jahren. Worüber sprechen wir? Insgesamt sind in fünfzehn Jahren 190.000 Menschen gekommen, also verteilt auf fünfzehn Jahre keine 15.000. Es ist auch nicht so, dass da jetzt noch Millionen Menschen in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion auf ihre Auswanderung warten. Es sind vielleicht noch insgesamt 30, 40, 50.000, die den Wunsch haben, nach Deutschland zu kommen. Der große Teil wird nach Israel gehen, hat auch den Wunsch, nach Israel zu gehen. Also, es ist ein Sturm im Wasserglas. Und ich will jetzt mal etwas sagen angesichts dieses bevorstehenden Tages zur Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz: Wenn man diese 190.000, die gekommen sind oder die 50, 60.000, die noch kommen wollen, in Vergleich zieht mit den 6 Millionen, die umgebracht worden sind in Europa, so ist das doch eine verschwindend geringe Zahl, über die man sich da aufregt. Ich habe allerdings Verständnis dafür, dass der Staat Israel, der sehr darauf angewiesen ist auf Zuzug von jüdischen Menschen, es nicht sehr gerne sieht, dass zum Beispiel im letzten Jahr mehr jüdische Menschen nach Deutschland gekommen sind als nach Israel, und alles versucht, um diese Menschen zu überzeugen, nach Israel zu kommen. Nur wir als Zentralrat, wir als jüdische sozusagen Amtsträger, wir können nicht die Menschen auffordern, nach Israel zu gehen. Sonst müssten wir ja selbst mit gutem Beispiel voran gehen. Aber noch einmal: Wir jüdischen Gemeinden haben niemals zur Einwanderung nach Deutschland aufgerufen, aber unsere Meinung ist nach wie vor: Wenn aber jüdische Menschen nach Deutschland kommen, ist es unsere Pflicht als jüdische Gemeinde, ihnen hier zu helfen bei der Integration. Das haben wir getan, das tun wir und das werden wir auch weiter tun.