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Deutschlands vergessenes Kolonialstreben

1884 nahm Deutschland "Deutsch-Südwestafrika" auf dem Gebiet des heutigen Namibias in Besitz. Das Land hat sich von den Schatten der Kolonialzeit noch längst nicht vollständig befreit. Und auch Deutschland: Der Völkermord an den Herero von 1904 wird noch immer verdrängt.

Von Matthias Hennies | 12.01.2012
    "Zunächst mal handelt es sich ja um ein Stück Land, das keiner wollte. Trocken, unzugänglich und für die, die da ankamen, sehr enttäuschend, keine Palmenhaine, sondern Wüste, wenig attraktiv."

    Ein kalter, böiger Wind pfeift in der Bucht von Lüderitz, am südlichen Ende von Namibia, heute wie schon vor mehr als hundert Jahren. Ausgerechnet hier, erzählt Reinhart Kößler, wurde 1884 die deutsche Flagge gehisst, zur Gründung der Kolonie "Deutsch-Südwestafrika": auf einem Felsen zwischen dem eisigen Atlantik auf der einen Seite und den kahlen grauen Sanddünen der Namib-Wüste auf der anderen.

    "Auf der anderen Seite muss man das aus der Perspektive der deutschen Nationalbewegung sehen im 19. Jahrhundert, die eigentlich konsistent diese koloniale Perspektive im Auge hatte."

    Millionen Deutsche suchten in dieser Zeit ein besseres und freieres Leben in Amerika, so Professor Kößler, Spezialist für die soziologischen Aspekte des Kolonialismus an der Universität Freiburg. In den Augen der Nationalisten waren diese Auswanderer verloren – daher wollten sie den Strom in deutsches Staatsgebiet umlenken. Schließlich gewannen sie den zögernden Reichskanzler Bismarck für die Gründung eines deutschen Kolonialreiches.

    Und so baute man am Südwestrand Afrikas einen Hafen, Häuser und Kirchen: die Keimzelle für die wichtigste Kolonie des Deutschen Reiches, die Stadt Lüderitz.

    "Alle Fassaden sind noch so, wie sie 1909 mal gebaut wurden. Das Orangefarbene, das war das erste Fotoatelier von Fräulein Hoch, der kleine Laden da vorne war so’n Geschenkladen. Dann haben wir das Gebäude mit den Säulen, das war der Bäcker Becker. Ein Großonkel von mir, der hat das dann als seine Anwaltskanzlei gebraucht. Ganz unten sehen wir, wo Barrels drüber steht und heute die Jägermeisterfahne weht, das war ganz früher ein Gemüsegroßmarkt."

    Marion Schelkle, die in Lüderitz geboren ist, zeigt die restaurierten Bauten aus der deutschen Kolonialzeit gern: Alte Häuser im historisierenden Stil, mit geschwungenen Giebeln und Fachwerk-Imitat, prägen das Zentrum vieler Orte im heutigen Namibia. Sie erfreuen die Touristen – und lassen die schwarzen Namibier, die rund 95 Prozent der Bevölkerung ausmachen, manchmal wie Exoten im eigenen Land erscheinen.

    "Wir stehen hier vor dem Goerke-Haus. Hans Goerke war Proviantinspektor, der für die Schutztruppe nach Deutsch-Südwestafrika entsandt wurde. Dieser Mann, wie viele andere Soldaten, hat natürlich sich abmustern lassen von der Armee."

    … und ist als Zivilist im Land geblieben. Goerke wurde reich, als in der Namib-Wüste bei Lüderitz Diamanten gefunden wurden. Aber er war eine Ausnahme. Die meisten Auswanderer versuchten ihr Glück als Farmer, erklärt Kößler.

    "Das sind dann nicht Leute, die Fachleute waren, sondern sich irgendwie als Allrounder etabliert haben. In einer Gesellschaft, die eine rassistische Privilegiengesellschaft war. Das heißt also, wo man vieles der körperlichen Arbeit auf Schwarze abwälzen konnte, wo niemand wirklich erwartet hat, ohne Personal zu leben – was dann auch eine gewisse Attraktion ausgeübt hat."

    Motivation und soziale Struktur der Siedler in Südwestafrika sind noch nicht genau erforscht worden. Vielen ging es wohl darum, endlich einmal Landbesitzer zu sein – in der Klassengesellschaft des Deutschen Reiches war das Land fest in den Händen der Oberschicht. Die Politik der Kolonialregierung zielte dann auch darauf ab.
    "Dass die Afrikaner das Land verlieren und dann als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Und natürlich auch ihre großen Viehherden den Besitzer wechseln."

    Vor den Deutschen beherrschten die Herero den nördlichen Teil Namibias. Seit Langem standen sie in Kontakt mit Europäern, kannten die Geldwirtschaft, besaßen Gewehre und waren als evangelische Christen getauft. Sie züchteten Rinder und lebten an einem festen Ort, der ihnen das ganze Jahr über Wasser bot – außer in der Regenzeit, so der Kölner Ethnologe Michael Bollig:

    "Wenn die Savanne grün wird und in vielen Pfannen und Bachläufen Wasser vorhanden ist, ist man in die Fläche gegangen. Und dann ist das im Mai-Juni meist schon wieder ausgetrocknet und dann ist man auf diesen zentralen Platz zurückgefallen. Wo dann häufig bereits der Missionar ist, wo sich in einigen Teilen bereits Missionsschulen etabliert haben, Händler, zum Teil weiße Händler ansässig waren, und von da ist man rausgegangen."

    Ob der Aufstand gegen die deutschen Kolonialherren 1904 spontan ausbrach oder ob die Herero ihn von langer Hand vorbereitet hatten, ist noch nicht geklärt. Gründe genug hatten sie, meint Professor Bollig:

    "Ursache war sicherlich die zunehmende Landnahme durch weiße Siedler, sodass sich Herero wirklich in den Enge getrieben fühlen konnten. Das starke Verschuldung im Handel, also dass viele Hereroführer Schulden gemacht haben und dafür Land abgetreten haben. Eine Ursache war sicherlich auch diese verheerende Rinderpest von 1897, die wird ja aus Pakistan eingeschleppt und dann breitet sich das wie ein Wildfeuer über den gesamten afrikanischen Kontinent aus und die Herero verlieren besonders viel Vieh."

    Die Erinnerung an die Katastrophe, die fast das Ende ihres Volkes gewesen wäre, halten die Herero bis heute wach: in Erzählungen, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, mit Paraden und Festen. Alte Kampfplätze markieren sie auf der Landkarte als Gedächtnis-Orte.

    "Vor uns liegt ein großes natürliches Wasserreservoir, das wir Otjihenda nennen. Es ist eine der Lebensadern für uns hier seit vielen Jahren. Heute sammelt sich darin nur das Regenwasser, aber früher hatten die Herero eine unterirdische Wasserader hineingeleitet, sodass es das ganze Jahr über Wasser führte."

    Kapehi Kemandeo steht zwischen Dornbüschen an einem stillen kleinen See, irgendwo in der staubigen Baumsavanne von Nordost-Namibia. Rinder und Ziegen haben die matschigen Ufer zertreten, drängen sich jetzt im Schatten der Akazien. An diesem Wasserloch erkämpften die Herero ihren letzten Sieg gegen die deutsche Kolonialarmee, die sogenannte "Schutztruppe".

    Es war ein Kampf ums Überleben, denn die Deutschen hatten sie in der Schlacht am Waterberg vom größten Teil des Landes abgeschnitten. Ihnen blieb nur ein Fluchtweg: nach Osten in die Omaheke, eine menschenfeindliche Sandwüste. Das Reservoir von Otjihenda war die letzte große Wasserstelle für Kämpfer, Frauen, Kinder und Vieh, doch deutsche Soldaten hatten den Ort schon besetzt.

    "Das ging Peng Peng Peng! Und dann beschlossen die Kämpfer der Herero, einige ihrer großen Rinder zwischen den deutschen Soldaten hindurchzujagen. Sie versteckten sich zwischen den Tieren, beschossen die Deutschen und kämpften und kämpften und am Ende eroberten sie die Wasserstelle."

    Doch ihnen blieb wenig Zeit. Verstärkung für die Schutztruppe traf ein, die Herero mussten weiter. Hätten sie sich ergeben, erzählt Kemandeo, wären sie alle gehängt worden. General von Trotha behandelte Herero nicht als Kriegsgefangene: Sein Ziel war, sie auszulöschen.

    "Diesen Baum benutzten die deutschen Truppen, um die Herero-Krieger zu erhängen, die drüben an der Wasserstelle von Otjihenda gefangen genommen worden waren. Wer sich ergeben wollte, weil er vor dem Verdursten stand, dem sagten sie: keine Verhandlungen. Ihr habt nichts mehr, keine Rinder, kein Land, nichts. Und sie brachten ihn zu diesem Baum."

    Die meisten flüchtenden Herero gingen in der Omaheke elend an Hunger und Durst zugrunde. Und das wollte Von Trotha. Er ließ niemanden wieder heraus. Der Wüstensaum wurde abgesperrt, alle erreichbaren Wasserstellen von deutschen Truppen besetzt. Nur ein Häuflein Herero schaffte es ins angrenzende Betschuanaland, das heutige Botswana.

    Dem skrupellosen deutschen Kommandeur ging es nicht allein um einen militärischen Sieg, erläutert der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer:

    "Gleichzeitig besitzt er die Vorstellung eines Rassenkrieges zwischen der weißen und der schwarzen Rasse, bei der es nur eine überlebende Gruppe geben würde."

    Für Professor Zimmerer besteht kein Zweifel: Im Krieg gegen die Herero begingen die Deutschen einen Völkermord – den ersten Genozid des grausamen 20. Jahrhunderts.

    "Genozid wird seit 1948 definiert als konzertierte Aktionen mit dem Ziel, eine Gruppe als solche zu vernichten. Und dazu gehört also Tötung von Mitgliedern der Gruppe, Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden und eben, ich zitiere aus der UN-Konvention: "Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen." Und das ist zum einen in den Konzentrationslagern der Fall gewesen und zum anderen in der Omaheke-Wüste."

    Überlebende Herero sperrte man in Lagern auf der Haifischinsel bei Lüderitz oder beim Städtchen Svakopmund ein, unter zum Teil katastrophalen Bedingungen. Dorthin schaffte man auch Männer, Frauen und Kinder aus dem Volk der Nama, das im Süden des Landes ebenfalls einen Aufstand begonnen hatte und mühevoll niedergekämpft worden war. Danach konnte das Land der Afrikaner unter deutschen Siedlern verteilt werden.

    Wie viele Opfer die verbrecherische Strategie forderte, ist unklar. Etwa die Hälfte der Nama, rund 10.000 Menschen, starb. Herero-Vertreter sprechen von bis zu 85.000 Toten, 85 Prozent ihres Volkes. Die Deutschen verloren circa 1.400 Menschen.

    Zimmerer sieht im Konzept des "Rassenkriegs" in Südwestafrika einen direkten Vorläufer der nationalsozialistischen Eroberungspolitik in Osteuropa.

    "In Namibia wird eigentlich von Anfang an ein rassischer Musterstaat konzipiert, mit einer deutschen Oberschicht und einer afrikanischen Unterschicht. Und wenn Sie sich die Pläne für die besetzte Sowjetunion anschauen, dann haben Sie sehr ähnliche Konstruktionen. Wenn Hitler etwa sagt, "Russland ist unser Indien und Ukrainern geben wir Glasperlen und was Eingeborenen so gefällt", und wenn man sich anschaut, die slawische Bevölkerung wird als Unterschicht den Deutschen dienen, dann ist das das gleiche Denken."
    Unstrittig ist in der Wissenschaft, dass die Schutztruppe mit Rückendeckung aus Berlin einen Völkermord beging. Vertreter der Herero fordern daher eine offizielle Entschuldigung Deutschlands und eine Entschädigungszahlung, die nach den Bestimmungen der Vereinten Nationen bei einem Völkermord fällig wird. Die Bundesregierung, Rechtsnachfolgerin der Reichsregierung, weigert sich bisher allerdings, diese Sichtweise anzuerkennen.

    Für viele Namibier ist das unverständlich: Denn der Genozid an den Herero war nur der Gipfel, das schlimmste Verbrechen der Kolonialherrschaft, die durchgehend auf Unrecht beruhte. Die größten heutigen Probleme des Staates gehen auf diese Epoche zurück.

    "Sehen Sie diese Männer an der Straßenecke? Morgens um 4 Uhr kommen sie aus den "informellen Siedlungen" herüber. Sie können nicht lesen und schreiben, sprechen weder Englisch noch Afrikaans. Und sie suchen Arbeit."

    Sehr dunkelhäutige, schlanke junge Männer sitzen an den großen Straßenkreuzungen außerhalb der namibischen Hauptstadt Windhoek. Sie warten, dass ihnen jemand Arbeit gibt, erzählt Abe Karongee, Knochenarbeit, vielleicht für einen Tag. Karongee macht Führungen durch die schwarzen Wohnviertel von Windhoek. Er schätzt, dass jeden Tag 2-300 Menschen in der Stadt eintreffen. Sie bauen sich Hütten aus Wellblech und Brettern in den kahlen Bergen des Umlands.

    "Dieses Viertel nennen wir "informelle Siedlung", weil es nicht die übliche Versorgung hat: In den Häusern gibt es kein fließend Wasser und keinen Strom. Die Leute siedeln sich hier anfangs illegal an, später schließen sie sich zu Gruppen zusammen und kaufen von der Gemeinde ein kleines Stück Land."
    Die Arbeitslosigkeit in Namibia liegt bei 51 Prozent, auf dem Land oft noch höher. Die Menschen ziehen in die Städte, um Jobs oder eine bessere Ausbildung zu finden. Sozialwissenschaftler schätzen, dass mittlerweile rund ein Drittel der schwarzen Bevölkerung in wild gewachsenen Siedlungen lebt.

    Noch bedrohlicher aber ist die soziale Spaltung des Landes: Einer breiten armen Mehrheit stehen sehr wenige sehr Reiche gegenüber. Weiße Großgrundbesitzer zum Beispiel, die in Europa leben und nur in der Jagdsaison ihre Ländereien aufsuchen. In Namibia ist der Besitz so ungleich verteilt wie nirgendwo sonst auf der Welt. Und das hat historische Gründe.

    Die deutsche Kolonialherrschaft endete 1915, nach nur 31 Jahren. Im Zuge des Ersten Weltkriegs übernahm Südafrika faktisch die Herrschaft und behielt sie, bis Namibia 1990 nach einem blutigen Bürgerkrieg unabhängig wurde. Dass die südafrikanische Regierung auch hier die Apartheid durchsetzte, vertiefte die Spaltung der Gesellschaft, die Wurzeln liegen jedoch in der deutschen Kolonialzeit.

    "Im Zuge des Kolonialismus haben die meisten afrikanischen Gemeinschaften ihren Landbesitz verloren. Die Land-Frage ist heute der Schlüssel, denn viele Leute meinen, dass noch keine Gerechtigkeit erreicht worden ist."

    Seit der Unabhängigkeit versucht die Regierung, Land umzuverteilen und "ehemals benachteiligten" Namibiern zu mehr Gerechtigkeit zu verhelfen. Phanuel Kaapama, Dozent für Politik an der Universität in Windhoek, ist mit den Ergebnissen aber nicht zufrieden.

    "Die Umsiedlungspolitik läuft sehr langsam. Und vielen ist der Ablauf nicht transparent genug: Leute aus den Städten, die Arbeit haben, bekommen Land. Und Farmarbeiter, Leute, deren tägliches Leben vom Land abhängt, gehen manchmal leer aus."

    Wohlweislich hat die Regierung eine behutsame Umsiedlung beschlossen: Sie enteignet niemanden, sondern verteilt nur Land von Farmern, die sich freiwillig zum Verkauf entschließen. Das stellt bisher keiner infrage: Das Beispiel des Nachbarlandes Zimbabwe, das auch aufgrund der massiven, teils gewalttätigen Kampagnen gegen weiße Farmer einen katastrophalen Niedergang erlebt, wirkt abschreckend. Doch manche Namibier klagen: Leute mit guten Beziehungen zur Regierungspartei Swapo, die seit der Unabhängigkeit jede Wahl gewonnen hat, hätten bessere Chancen, eine Farm zu bekommen.

    Wissenschaftler beobachten bereits die Bildung einer neuen Bourgoisie, einer schmalen Schicht wohlhabender Schwarzer, während die breite Bevölkerung weiterhin vom Wohlstand ausgeschlossen ist. Der Sozialwissenschaftler Volker Winterfeldt, Professor an der Universität Windhoek:

    "Die Entwicklung seit der Unabhängigkeit geht in die falsche Richtung, sie geht in Richtung einer Verschlimmerung der Situation. Namibia ist kein armes Land, Namibia rangiert irgendwo im Mittelbereich, was Pro-Kopf-Einkommen anbelangt."

    Aber damit alle Namibier von den Ressourcen profitieren können, muss sich etwas ändern:

    "Aus meiner Sicht: Sozialer Konflikt. In dem Augenblick, in dem die Perspektive bestünde, dass Armut sich organisieren kann, ist möglicherweise eine Perspektive für Entwicklung im Entstehen."

    Bisher spielen die, die zu kurz kommen, in der namibischen Demokratie keine Rolle. Sie haben kein Sprachrohr, keine Partei vertritt sie, ja im Parlament steht der Swapo nicht einmal eine wirksame Opposition gegenüber.

    Namibia hat sich von den langen Schatten der Kolonialzeit noch längst nicht vollständig befreit. Und auch Deutschland nicht, weil der Völkermord an den Herero von 1904 noch immer verdrängt wird.