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Dezision oder Integration: Carl Schmitt vs. Rudolf Smend

In der nunmehr 60-jährigen nachkriegsdeutschen Geschichte hat es kluge Köpfe gegeben, die im Rampenlicht der politischen Öffentlichkeit standen, über deren Andenken aber inzwischen die Dämmerung hereingebrochen ist. In unserer sechsteiligen Serie "Intellektuelle Gegenpole" erinnern wir in Doppelporträts an prägende Geister und spannende Kontroversen. In Teil drei geht es um die Staatsrechtler Carl Schmitt und Rudolf Smend - deren Lehren schon bald auch Europa beeinflussen könnten.

Von Maximilian Steinbeis | 21.05.2009
    Dezision oder Integration: Carl Schmitt vs. Rudolf Smend
    Von Maximilian Steinbeis


    April 1928: In Berlin ringt Reichsinnenminister Walter von Keudell mit den Ländern um ein Verbot des kommunistischen Roten Frontkämpferbundes. In Stettin wird ein Prozess gegen sieben Rechtsextreme eröffnet, die des "Fememordes" an einem angeblichen Verräter beschuldigt werden. Am gleichen Tag werden in Berlin vier Nationalsozialisten wegen eines Überfalls auf Kommunisten am Bahnhof von Lichterfelde zu Haftstrafen verurteilt. Ebenfalls in Berlin wird der Publizist Carl von Ossietzky, Herausgeber der "Weltbühne", zu 600 Mark Geldstrafe verurteilt, wegen Beleidigung der Reichswehr.

    Kommunisten, Nazis, Monarchisten, Sozialdemokraten, Katholiken, Liberale – die Zerrissenheit der Weimarer Demokratie ist die Folie, vor der im Frühjahr 1928 innerhalb weniger Wochen die Hauptwerke zweier Staatsrechtler erscheinen, die das verfassungsrechtliche Denken in Deutschland für den Rest des Jahrhunderts in wesentlichen Teilen dominieren sollten. In Bonn hat der 39-jährige Carl Schmitt seine "Verfassungslehre" fertig geschrieben. Der junge Jurist hat sich mit provokanten Thesen und stilistischer Brillanz inner- und außerhalb seiner Zunft bereits beträchtlichen Ruhm erworben. Jetzt schickt er sich an, in die Reichshauptstadt zu wechseln, er hat einen Ruf an die Handelshochschule Berlin erhalten. In Berlin lehrt bereits sein etwas älterer Kollege Rudolf Smend – allerdings an der wesentlich prestigeträchtigeren Friedrich-Wilhelm-Universität, der heutigen Humboldt-Universität. "Verfassung und Verfassungsrecht" lautet der unauffällige Titel von Smends' Schrift.

    Die beiden kennen und respektieren sich. In der großen staatsrechtlichen Debatte ihrer Zeit kämpfen sie auf der gleichen Seite, gegen den vorherrschenden Rechtspositivismus nämlich – gegen das Konstrukt eines entpolitisierten Rechts, das mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit nichts zu schaffen hat und sich allein der formalistischen Logik der Rechtsdogmatik beugt. Dass sich mit den Namen Schmitt und Smend zwei Denkschulen verbinden würden, an denen sich 30 Jahre später ein großer Teil der Staats- und Verfassungsrechtswissenschaft ausrichten würde wie Eisenspäne an elektrischen Polen, das ahnt 1928 kaum jemand.

    Carl Schmitt war immer schon einer, der von außen kam. Aufgewachsen war er in Plettenberg, einem Städtchen im westfälischen Sauerland – idyllisch, evangelisch, tiefste Provinz. Die Schmitts, streng katholische Leute, waren fremd dort, sie stammten von der Mosel. Schmitts Vater war ein kleiner kaufmännischer Angestellter, man lebte bescheiden und beengt. Der begabte Carl durfte Abitur machen und studieren. Eigentlich wollte er Philologe werden, aber ein reicher Verwandter riet ihm zum Jurastudium. Und so ging der junge Katholik aus der sauerländischen Provinz in die großen Städte, nach Berlin und nach München, wo er die fiebrige Atmosphäre der Schwabinger Bohème atmete, satirische Prosa schrieb und mit Dadaisten und anderen Literaten verkehrte.

    Das wäre dem sechs Jahre älteren Rudolf Smend nie eingefallen. Die Smends waren Beamte und Gelehrte. Sein Vater war ein bedeutender evangelischer Theologe, hieß ebenfalls Rudolf Smend und lehrte Altes Testament und Orientalische Sprachen. Seinen Sohn sollte Smend später ebenfalls Rudolf nennen, und um die Verwirrung komplett zu machen, sollte aus diesem dritten Rudolf Smend ebenfalls ein Theologieprofessor werden. Auch politisch blieb Smend seinem preußisch-protestantischen Staatsdienermilieu treu: Er war Mitglied der nationalkonservativen Deutschnationalen Volkspartei, bis er 1930 austrat, als sich die Partei unter Alfred Hugenberg in ihrer Opposition gegen die Demokratie immer weiter radikalisierte.

    Carl Schmitt war zu diesem Zeitpunkt politisch überhaupt noch nicht in Erscheinung getreten – um so mehr aber publizistisch. Während Smend sich mit einer Reihe unspektakulärer, aber grundsolider verfassungshistorischer und –dogmatischer Arbeiten seine akademischen Sporen verdiente, ließ Schmitt zu Beginn der 20er-Jahre eine ganze Salve verfassungs- und staatstheoretischer Feuerwerkskörper in den Himmel steigen. 1921 erschien eine umfangreiche Schrift über die "Diktatur", 1922 seine "Politische Theologie", 1923 sein Aufsatz über die "geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus".

    "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet."

    So lautet der berühmt-berüchtigte erste Satz von Schmitts "Politischer Theologie". Der Satz ist Programm: Er richtet sich gegen die kreuzbrave rechtsstaatliche Vorstellung, die Macht durch Recht und Verfassung bändigen zu können. Keine Rechtsnorm, will er sagen, kann die Grenzen ihrer eigenen Geltung normieren. Hinter jedem Gesetz steht einer, der sagt, ob es gilt oder nicht. Der über Normalfall oder Ausnahmefall entscheidet. Entscheidet: Das Recht, so Schmitts Quintessenz, kommt durch Willkür, durch Dezision in die Welt – und notfalls auch wieder aus der Welt hinaus: Wenn der Souverän das Recht brechen will, wird kein Recht ihn daran hindern können. Zuerst kommt der Staat und dann das Recht. Im Ausnahmefall – wieder so ein aphoristischer Satz – beweist die Autorität,

    "dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht."

    Schmitts Lesern mussten Sätze wie diese ungeheuer aktuell erscheinen: Parallel zur Publikation der "Politischen Theologie" ergriffen in Italien Benito Mussolinis Faschisten die Macht. Dazu kam, dass Schmitts Prosa aufregend neu war: Nicht nur war er, der verhinderte Philologe, seinen Kollegen Staatsrechtslehrern stilistisch himmelweit überlegen. Die fast aggressive Bedenkenlosigkeit seiner Gedankenführung verlieh seinen Texten einen unwiderstehlichen Schwung.

    Aus Sicht seiner Zeitgenossen war Schmitt weit mehr als ein Produzent zugespitzter Thesen und geschliffener Bonmots. Die Staatsrechtswissenschaft befand sich in den 20er-Jahren in einem krisenhaften Zustand, zerrissen vom so genannten "Methodenstreit". Der Name täuscht, es ging in Wahrheit um viel mehr als nur Methodenfragen. Und sowohl Carl Schmitt als auch Rudolf Smend kämpften in diesem Streit an allervorderster Front mit.
    Spätestens ab der Jahrhundertwende wurde das Auseinanderklaffen von Verfassungswirklichkeit und positivem Verfassungsrecht im Kaiserreich zum Problem für die Staatsrechtler. Nach der Revolution von 1919 spitzte sich die Frage, woher das Recht eigentlich kommt, ungeheuer zu und verknüpfte sich unlösbar mit der politischen Bekenntnisfrage, wie man zu der neuen, demokratischen und republikanischen Verfassung stand. Die Revolution hatte die Verbindung zwischen Rechtspositivismus und Obrigkeitsstaat jäh gekappt, und das wirbelte die Fronten in der Staatsrechtslehrerschaft gehörig durcheinander. Der Rechtspositivismus wurde tendenziell zu einer Domäne liberaler und sozialdemokratischer Verfassungsrechtler, die der Weimarer Verfassung loyal gegenüberstanden. Für die nationalkonservativen Nostalgiker des Obrigkeitstaates wurde es dagegen attraktiv, sich nach neuen methodischen Ansätzen umzusehen – nach der Wirklichkeit hinter den Normen.

    Nicht alle, die für die Öffnung des Staatsrechts hin zur Soziologie und Empirie stritten, waren Gegner der Weimarer Demokratie. Aber insgesamt und in der öffentlichen Wirkung war klar, was die Kritik am Positivismus politisch implizierte: Es gab hinter dem positiven Recht der demokratischen Gesetzgebung noch ein wirkliches, ein eigentliches Recht. Und hinter dem Staat der Weimarer Verfassung noch einen wirklichen, einen eigentlichen Staat. Das war der philosophisch-hegelianische Resonanzboden, auf dem Carl Schmitts These von der Dezision aufsetzte, der ungebundenen Entscheidung des Staates, Recht zu verwirklichen oder nicht.

    Rudolf Smend suchte und fand seinen wirklichen Staat und sein wirkliches Recht woanders. Der Staat, so schrieb er 1928,

    "ist überhaupt nur vorhanden in diesen einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhanges sind, und in den noch wichtigeren Erneuerungen und Fortbildungen, die lediglich diesen Zusammenhang selbst zum Gegenstand haben."

    Aphoristisch ist das jedenfalls schon mal nicht. Aber worauf Smend hinaus will, wird trotzdem bald einigermaßen klar: Der Staat, so fährt er fort,

    "lebt und ist da nur in diesem Prozess beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens; er lebt, um Renans berühmte Charakterisierung der Nation auch hier anzuwenden, von einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt. Es ist dieser Kernvorgang des staatlichen Lebens, wenn man so will, seine Kernsubstanz, für die ich schon an anderer Stelle die Bezeichnung Integration vorgeschlagen habe."

    Staat als lebendiger Prozess, Integration als Kernvorgang des staatlichen Lebens: Das war in der Tat ein aufregend neuer Gedanke. Zwar ließ Smend im Dunkeln, wie genau er sich diesen Prozess der Integration vorstellte, wie überhaupt sein kryptischer Sprachstil einer klaren Festlegung, was er meint und was nicht, permanent im Wege steht. Aber das Stichwort Integration reichte aus, um die Fantasie seiner Leser dauerhaft zu beflügeln: Der Staat als tägliches Plebiszit, das klang nach Offenheit für demokratische Teilhabe und nach Aussöhnung mit der Realität der demokratischen Verfassung. Gleichzeitig versprach das Stichwort Integration nationale Einheit und Homogenität und ließ sich gegen Pluralismus, Parteien- und Interessenpolitik instrumentalisieren. Smends Integrationslehre hatte den großen Vorzug, in alle möglichen Richtungen hin anpassungsfähig zu sein. Das machte sie später für das Staatsrecht der 50er- und 60er-Jahre, das sich auf das so merkwürdig dauerhafte Provisorium Bundesrepublik einen Reim zu machen mühte, so attraktiv.

    Smend war, auch das hatte er mit Carl Schmitt gemeinsam, ein zutiefst religiöser Mann. Er stammte aus einer Familie evangelisch-reformierter Theologen, und sein zweites wissenschaftliches Standbein war das Kirchenrecht. Auch sein Staatsrecht war zutiefst evangelisch-zivilreligiös durchtränkt: Die in der Integrationslehre enthaltene Aufforderung an die Bürger, sich den Staat zum Beruf zu machen, war nichts anderes als protestantische Pflichtethik in staatstheoretischem Gewand.

    Schmitt dagegen war Katholik. In der Staatslehre kehrte für ihn in säkularisierter Form der Begriffskosmos der göttlichen Weltordnung wieder, mit dem allmächtigen Souverän an Stelle Gottes und dem Recht am Platz der geoffenbarten Schrift und dem Ausnahmezustand an dem Ort, den in der Theologie das Wunder einnimmt: dem außerordentlichen Ereignis, das der Ordnung des Normalzustands erst ihre Würde und ihren Wert verleiht.

    Schmitt predigte Konflikt, Smend Harmonie. Schmitt sah in der Politik überall Bürgerkrieg und Ausnahmezustand, Smend stellte den friedlichen Normalzustand in den Mittelpunkt des Staatslebens. Schmitt war der faszinierende Schurke, Smend der brave, aber etwas langweilige väterliche Freund. Smend und Schmitt saßen wie Engelchen und Teufelchen auf den Schultern der 1949 neu errichteten bundesdeutschen Demokratie und flüsterten ihr ins Ohr, wohin sie gehen sollte. Mal hörte sie mehr auf den einen, mal mehr auf den anderen.

    An der Entstehung des Grundgesetzes 1947/48 waren nur vereinzelte Staatsrechtler beteiligt, und keiner von ihnen stand in näherer Beziehung zu Schmitt oder Smend. Doch schon bald zeigte sich, dass der Antagonismus der beiden Weimarer Staatsrechtsfürsten Wirkungen weit über die akademischen Debatten der Staatsrechtslehrer hinaus entfaltete. Das neu errichtete Bundesverfassungsgericht setzte in den 50er-Jahren ein Staats- und Grundrechtsverständnis durch, das sich in vielfacher Hinsicht aus Smends Integrationslehre speiste. Spiegel-Affäre und der Notstandsverfassung erschienen wie praktische politische Anwendungsfälle von Schmitts Theorien von Ausnahmezustand und Freund-Feind-Kategorisierung. Zunächst schien das Smend-Lager die Oberhand zu behalten. Aber in den 80er- und 90er-Jahren, als die Smendianer die Schmitt-Schule längst besiegt und an den Rand gedrängt wähnten, kam es zu einer unverhofften Renaissance der Gedanken des Verfemten, die bisweilen ihren Weg auch in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fanden.

    Beide, Schmitt und Smend, wirkten nicht nur durch ihre Schriften, sondern vor allem auch durch ihre Schüler. Beide hatten die Gabe, junge begabte Köpfe um sich zu scharen und ihnen eine besondere geistige Atmosphäre zu bieten. Das Ergebnis waren zwei dicht geknüpfte Elite-Netzwerke, deren Mitglieder sich untereinander bei ihren Karrieren halfen und die jeweils anderen mit umso größerem Misstrauen beäugten. Beiden Netzwerken gelang es, in der Wissenschaft, in der Justiz und auch in der Politik Schlüsselpositionen zu besetzen. Aber auf ihrem angestammten Feld, der Staatsrechtswissenschaft, trug nach langen Kämpfen Ende der 60er-Jahre die Smend-Schule den Sieg davon. Die Schmitt-Jünger stilisierten sich indessen als Außenseiter und bedrängte Minderheit, was wiederum viel mit dem Temperament und der Situation ihres Mentors Carl Schmitt zu tun hatte.

    Carl Schmitt war nach 1945 zutiefst kompromittiert. Er hatte sich nach 1933 den Nationalsozialisten als Stichwortgeber, Apologet und Mentor förmlich aufgedrängt. Getrieben vom Ehrgeiz, in der nationalen Revolution eine zumindest geistige, wenn nicht politische Führungsrolle zu übernehmen, hatte er seinen Ruf als Jurist und Wissenschaftler in den Dienst der Rechtfertigung scheußlichster Verbrechen gestellt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte er die neuen Machthaber mit Schmähschriften gegen Emigranten und jüdische Kollegen bespeichelt, hatte sich von Hermann Göring zum preußischen Staatsrat ernennen lassen und die "Nacht der langen Messer", in der Hitler 1934 Dutzende früherer Mitstreiter und Oppositionelle ermorden ließ, mit dem Jubelruf "Der Führer schützt das Recht" gefeiert. Manches davon mag Opportunismus und Anpassung gewesen sein, nicht aber jedenfalls sein ungezügelter Antisemitismus: Giftgetränkte Bemerkungen über die Juden finden sich auch in der Nachkriegskorrespondenz Schmitts zuhauf.

    Ob Schmitt seine Karriere in der Bundesrepublik hätte fortsetzen können, ist fraglich. Er entschied sich jedenfalls, es gar nicht erst zu versuchen: Seiner Anziehungskraft auf junge Juristen, Philosophen und Historiker tat die leicht geheimbündlerische Atmosphäre, die in seinem Kreise herrschte, keinen Abbruch, eher im Gegenteil. Auch konservative Politiker suchten gelegentlich das Gespräch mit ihm, beispielsweise Kurt-Georg Kiesinger, 1966 bis 1969 Bundeskanzler der Großen Koalition – was prompt zu allerhand Spekulationen Anlass gab, zu Schmitts großem Vergnügen:

    "Ausgerechnet Kiesinger, nicht? Hab dann auch gleich gesagt, also: Das wäre aber wirklich der letzte, auf den ich käm, nicht?"

    Smend dagegen stand relativ makellos da. In den 30er-Jahren hatte ihm Hans Kelsen vorgeworfen, die Integrationslehre sei eine gegen die Weimarer Verfassung gerichtete Kampftheorie und bereite einer faschistischen Diktatur nach italienischem Vorbild den Boden, aber das war mittlerweile vergessen. Die Nationalsozialisten hatten Smend 1935 aufgefordert, seinen Berliner Lehrstuhl für einen regimenäheren Gelehrten zu räumen. 1945 hatte Smend neben Martin Niemöller und Gustav Heinemann das "Stuttgarter Schuldbekenntnis" des Rats der Evangelischen Kirche mit unterzeichnet, eine Selbstanklage im Namen der ganzen Kirche, dem NS-Unrecht nicht mutiger entgegengeschritten zu sein. Smends Göttinger Seminar zog junge Leute an, die nach einem offeneren und zeitgemäßeren Staats-, Rechts- und Politikverständnis suchten. Darunter war der spätere Verfassungsrichter und Autor des wohl einflussreichsten Lehrbuchs zum Verfassungsrecht, Konrad Hesse. Oder der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis, einer der einflussreichsten Publizisten der 60er- und 70er-Jahre. Oder Horst Ehmke, der später Willy Brandt als Kanzleramtsminister diente.

    Smend profitierte selbst von der Anpassungsfähigkeit seiner Lehren, streifte seinen früheren Etatismus und seine Pluralismusfeindlichkeit ab und wurde zum freundlichen Übervater des neuen, am Grundgesetz orientierten Staatsrechts. Schmitt und seine Schüler hielten dagegen überwiegend starr an ihren obrigkeitsstaatlichen Ideen fest und zogen Befriedigung daraus, im Grundgesetz, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und in den Zeitläufen überhaupt nach Zeichen des Verfalls und des Niedergangs zu suchen.

    Am 15. Januar 1958 verkündete das Bundesverfassungsgericht ein Urteil, das zu einer Art Magna Charta des modernen Grundrechtestaats werden sollte. Kläger war der Publizist Erich Lüth. Lüth hatte zum Boykott der Filme eines früheren Nazi-Regisseurs aufgerufen, und das war ihm gerichtlich verboten worden. Lüth sah seine Meinungsfreiheit verletzt und zog nach Karlsruhe. Die Klageschrift hatte niemand anders als Wilhelm Hennis verfasst, der Schüler Rudolf Smends und künftige Doyen der westdeutschen Politikwissenschaft.

    Das Verfassungsgericht nahm den Fall Lüth zum Anlass, das Verständnis von Verfassung und Grundrechten zu revolutionieren: Die Grundrechte, so das Gericht, seien nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat, sondern eine "objektive Werteordnung" der Gesellschaft. Zum Schlussstein der Verfassungsordnung machte das Gericht das Grundrecht auf Meinungsfreiheit:

    "Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist ( ... )"

    …heißt es in der Lüth-Entscheidung. Die Ausübung eines Grundrechts "schlechthin konstituierend" für die Staatsordnung: Im Kern hatte damit das Gericht die Integrationslehre zu einer Fundamentaldoktrin des deutschen Verfassungsrechts gemacht. Allerdings hatte das Gericht diese Lehre, gemessen daran, was Smend 1928 damit ursprünglich intendiert hatte, gleichsam umgepolt: Ihr Zweck war nicht mehr, aus Gesellschaft und Staat ein möglichst homogenes Ganzes zu machen und gesellschaftliche Konflikte einzuebnen, sondern ganz im Gegenteil: den "Kampf der Meinungen", das "Lebenselement" der Staatsordnung des Grundgesetzes, zu ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht hatte aus dem Etatisten Smend einen Pluralisten gemacht.

    Ob Smend diese Wandlung gefiel? Scharfer Widerspruch war seine Sache nicht, aber als 1962 das Bundesverfassungsgericht den 10. Jahrestag seiner Gründung feierte und Smend die Ehre zuteil wurde, den Festvortrag zu halten, ließ er zarte Kritik an der bundesdeutschen Verfassungssituation erkennen: Die "Treibhauspflanze" Grundgesetz war ihm für eine wirkliche, national integrierende Verfassung nicht vital genug.

    Von einem nicht an demokratische Ordnung gewöhnten und nun seiner Geschichte und der Politik müde gewordenen Volk hingenommen, ist es keine Fahne geworden, unter der sich ein neues Staatsbewusstsein, ein neuer starker, durch diese Verfassung konstituierter Wille zu neuem geschichtlichem Leben gesammelt hätte.

    Im gleichen Jahr demonstrierte die Spiegel-Affäre, dass es um "Staatsbewusstsein" und nationales "geschichtliches Leben" in der Bundesrepublik des Grundgesetzes nicht länger ging: Von Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß betrieben und von Kanzler Konrad Adenauer gedeckt, hatte die Justiz die Redaktion des Magazins "Der Spiegel" durchsuchen und mehrere Redakteure verhaften lassen. Der Anlass: Ein kritischer Bericht über ein NATO-Manöver, der angebliche Militärgeheimnisse verriet.

    Die angeblich so müden und unpolitischen Deutschen gingen zu Tausenden auf die Straße und machten von ihren Grundrechten auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch. Adenauers Versuch, an das "Staatsbewusstsein" zu appellieren und den für ihn so furchterregenden angeblichen "Abgrund von Landesverrat" in die Waagschale zu werfen, scheiterte: Das war ganz offensichtlich nicht der Punkt, sondern dass unter dem Grundgesetz die Meinungsfreiheit Grundlage des Staates ist. Und dass deshalb die Obrigkeit nicht einfach anderen den Mund verbieten kann, selbst wenn es um die angebliche oder tatsächliche Abwehr von Gefahren für den Staat geht.

    Der Smend-Schüler Hennis und einige andere Politikwissenschaftler verfassten eine Protestresolution gegen die Spiegel-Aktion, die schließlich auch einige Staatsrechtler wie Hesse, Ehmke und auch Smend selbst unterschrieben. Die Schmitt-Schüler fanden den Protest nur lächerlich, "capitolinische Gänseschnatterei", wie einer von Schmitts treuesten Schülern, der Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff, in einem Brief an seinen Lehrer spottete. Nichts war der Schmitt-Schule ferner als der Gedanke, den Staat durch so etwas Profanes wie Meinungsfreiheit konstituieren zu wollen.

    Auch für die späteren Proteste gegen die Notstandsverfassung hatten viele der Schmitt-Schüler nur verächtliches Kopfschütteln übrig. Dass der Staat in der Lage sein muss, in der Not seine verfassungsrechtlichen Fesseln abzustreifen, schien dem Theoretiker des Ausnahmezustands und seinen Anhängern eine Selbstverständlichkeit zu sein. Und die Mobilisierung großer Teile der Gesellschaft gegen die Notstandsgesetze in den 60er-Jahren, die Aufstieg der APO und die aufflammenden Studentenproteste schienen ihnen nur ein Beleg mehr, dass die Bundesrepublik zu schwach zu wahrer Staatlichkeit sei und der Bürgerkrieg unmittelbar bevorstehe.

    So ist es bekanntlich nicht gekommen. Die terroristische Bedrohung durch die RAF in den 70er- und 80er-Jahren führte den Grundrechtestaat bisweilen an die Grenzen des Ausnahmezustands, aber nicht darüber hinaus.

    Eine von Carl Schmitts meistzitierten und umstrittensten Schriften ist der Aufsatz "Der Begriff des Politischen" aus dem Jahr 1932. Politik, so Schmitt, sei eine kategorische Angelegenheit: So wie die Moral nach gut und böse, die Ästhetik nach schön und hässlich unterscheide, so gebe es auch im Politischen eine fundamentale Unterscheidung – Freund oder Feind. Wer politisch denke und handle, der wähle sich einen Feind. Nicht weil er ihn böse findet, oder hässlich oder ökonomisch schädlich, sondern weil ohne einen richtigen Feind die Nation zerfällt.

    Was diese These in der Atmosphäre des Jahres 1932 anrichtete, kann man sich denken. Aber in der Atmosphäre des Jahres 1977, im Herbst der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Maschine "Landshut" nach Mogadishu, war mit dieser Kategorie ebenfalls allerhand Unheil zu stiften – auf beiden Seiten übrigens: Auch die RAF hielt sich strikt an Mao Tse-Tungs Aufforderung, "eine klare Linie zwischen sich und den Feind zu ziehen" und bemühte sich, die Anerkennung der verhafteten Terroristen als "politische Gefangene" durchzusetzen, also die Anerkennung einer Bürgerkriegssituation, eines Kriegs zwischen Staat und Volk. Hier Freund, da Feind.

    Helmut Schmidt und seine Regierung widerstanden, wenn auch nur knapp, der Versuchung, diese Linie zu ziehen: Es gelang auch so, der Bedrohung durch die RAF Herr zu werden. Nach dem 11. September 2001 wurde diese Versuchung aber mit einem Schlag wieder aktuell. Die US-Regierung unter Präsident Bush rechtfertigte Guantanamo und Abu Ghraib mit dem Argument, dass im "war against terror" der Feind gleichsam außerhalb des Rechts stehe und von Völkerrecht und Verfassungsrecht keinerlei Schutz zu gewärtigen habe. Auch in Deutschland entbrannte 2004 eine – wenn auch vorläufig nur akademische – Diskussion um ein "Feindstrafrecht", angestoßen von dem Strafrechtsprofessor Günther Jakobs. 2007 veröffentlichte der Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer ein Buch mit dem Titel "Selbstbehauptung des Rechtsstaats", in dem er Carl Schmitt als eine Art staatsrechtlichen Heilsbringer in Zeiten des globalen Terrors verklärt und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts als "Verfassungsautismus" bezeichnet.

    Nicht nur Schmitts Freund-Feind-Kategorie, auch seine Demokratietheorie hat in den letzten Jahren untergründig neue Blüten getrieben. Demokratie ist für Schmitt die Souveränität der Gleichen – und zwar der buchstäblich Gleichen, derjenigen, die dem gleichen, ethnisch homogenen Staatsvolk angehören. Die Ungleichen, die nicht zu diesem Volk Gehörigen, werden bestenfalls toleriert, schlimmstenfalls ausgegrenzt oder vernichtet.

    Diese Vorstellung, dass Demokratie ein homogenes Volk voraussetzt, hat sogar seinen Weg in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefunden: Das Demokratieprinzip, so urteilte das Gericht 1993, verlangt, dass sich
    das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet ( ... ), rechtlichen Ausdruck zu geben.

    Das Urteil war die Entscheidung zum Maastricht-Vertrag, und seine Pointe war, der europäischen Integration zur Wahrung der nationalstaatlichen Souveränität Schranken zu errichten. Der Entwurf dazu stammte von dem Richter Paul Kirchhof, den Angela Merkel später zum Finanzminister machen wollte. Ebenfalls beteiligt war der Richter Ernst-Wolfgang Böckenförde, der die Formel von der "relativen Homogenität" des Staatsvolkes als demokratische Voraussetzung geprägt. Die Schmitt-Schule sieht die europäische Integration als Drohung: Für sie kommt der souveräne Nationalstaat nach wie vor zuallererst, und wenn er sich in Europa nach einem Wort des Verfassungsrichters Udo Di Fabio auflöst wie ein Stück Würfelzucker im Tee, dann ist das ein Grund zur allerhöchsten Sorge.

    Aus Sicht der Smendianer stellt sich die Sache ganz anders dar: Für sie ist der Staat etwas Lebendiges, sich Fortentwickelndes. Mit einem Europa, das nach und nach immer mehr Züge eines Bundesstaates annimmt, haben sie kein prinzipielles Problem. Was an Europa aus demokratietheoretischer Sicht Sorgen bereitet, ist der Mangel an Partizipationsmöglichkeiten und Transparenz – ihnen fehlt zur europäischen Staatsgründung nicht das europäische Staatsvolk, sondern das "tägliche Plebiszit", durch das sich die Völker Europas überhaupt erst zu einem europäischen Volk integrieren können.

    In nächster Zeit wird das Gericht sein Urteil zum Lissabon-Vertrag verkünden. An dem Ergebnis und der Begründung wird man ablesen können, wessen Geflüster zumindest die europapolitischen Schritte der Republik gegenwärtig lenkt: Schmitt. Oder Smend.