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Dharamsala
Kraft schöpfen in Klein-Lhasa

Die Stadt Dharamsala im Nordwesten Indiens ist mit ihrer malerischen Umgebung und ihrer friedlichen Atmosphäre für viele Touristen beliebtes Reiseziel. Auch viele Inder besuchen die Stadt, die übersetzt "Pilgerherberge" heißt. Denn hier lebt seit 55 Jahren der Dalai Lama im Exil.

Von Pauline Tillmann | 18.05.2014
    Auf dem Weg zum Dalai-Lama-Palast liegt ein kleiner buddhistischer Tempel.
    Auf dem Weg zum Dalai-Lama-Palast liegt ein kleiner buddhistischer Tempel. (Deutschlandradio / Pauline Tillmann)
    Dharamsala wird im Volksmund "Klein-Lhasa" genannt. Der Grund: Es gibt so viele tibetische Organisationen auf einem Fleck wie sonst nur in Lhasa, der Hauptstadt der Autonomen Region Tibet. Dabei ist Dharamsala eine Kleinstadt im Nordwesten von Indien. Man könnte sagen: Es ist Indien, aber es fühlt sich nicht an wie Indien.
    "Von der Atmosphäre her ist es - im Vergleich zu zum Beispiel Delhi oder Rajasthan - einfach enorm ruhig und ja für viele... peaceful. Klar hat der tibetische Einfluss da irgendwie viel mit zu tun und allein das tibetische Lachen, das ist Wahnsinn. Das freut mich jedes Mal wieder! Ansonsten es ist eben hauptsächlich der Dalai Lama, der wie so ein Magnet für viele Westler ist,"
    ... sagt die 19-jährige Jana aus der Nähe von München. Nach Dharamsala kam sie nicht aufgrund des Dalai Lama - eigentlich wollte sie einen Yoga-Kurs machen, aber dann wurde sie krank. Magen-Darm-Probleme. Damit geht es ihr wie wohl fast allen Westeuropäern in Indien. Und doch versucht sie das Beste daraus zu machen.
    "Gerade mache einen Workshop und lerne Makramee. Das ist eine Knüpftechnik, mit der Edelsteine an Ketten oder Armbändern befestigt werden. Ist ganz nett, weil es ist eine lockere Atmosphäre. Ich kann in dem Shop sitzen, kommen und gehen wann ich will, lernen was ich möchte. Und habe dann schon ein paar nette Weihnachtsgeschenke für daheim."
    Bessere Luft als in vielen anderen indischen Städten
    In Dharamsala trifft man Touristen wie Jana, aber zu gleichen Teilen auch Inder und Tibeter. Die Touristen kommen vor allem aufgrund von Tenzin Gyatso, Seiner Heiligkeit, dem 14. Dalai Lama. Ende der 50er-Jahre ist er aus Tibet geflohen und hat hier Zuflucht gefunden. Deshalb heißt Dharamsala übersetzt auch "Pilgerherberge". Fünf bis sechs Mal im Jahr gibt der Dalai Lama sogenannte "Unterweisungen", zu denen sich jeder anmelden kann. Die Anmeldegebühr beträgt umgerechnet zwei Euro - allerdings ist der Andrang groß. Ob man also einen Blick auf das geistige Oberhaupt der Tibeter erhascht, ist keinesfalls garantiert.
    Doch nicht nur der Dalai Lama zieht Touristen scheinbar magisch an, sondern vor allem auch die malerische Umgebung. Eine Stadt mitten in den Bergen, ringsum saftig grüne Wälder. Die Luft ist viel besser als in den meisten anderen indischen Städten. Und die Menschen sind aufgrund der vielen Ausländer scheinbar offener und zugänglicher. Doch: Auch wenn die Grundstimmung in Dharamsala ausgesprochen friedlich ist - die 19-jährige Jana meint, Frauen sollten besonders aufmerksam sein, wenn sie alleine durch Indien reisen:
    "Prinzipiell würde ich sagen, dass ich jetzt, wo ich alleine unterwegs bin, fühle ich mich nicht total unsicher. Es gibt einfach viele Sachen, auf die man achten muss. Ich habe schlimme Sachen gehört von Leuten, die so etwas in der Art wie Liquid Ecstasy verabreicht bekommen haben - aber das ist geschlechtsunabhängig, das passiert auch Männern. Und genau wie in jedem anderen Land muss man halt auch in Indien vor bestimmten Sachen in Acht nehmen, eben ein bisschen vorsichtiger sein, gerade wenn man als Frau alleine ist. Aber wirklich einer tagtäglichen Bedrohung fühle ich mich auch nicht ausgesetzt - sonst würde ich das auch nicht machen."
    "Du triffst Menschen aus der ganzen Welt"
    Im oberen Teil von Dharamsala, McLeod Ganj genannt, leben diemeisten Touristen. Auf 1.800 Meter reihen sich Supermärkte an Restaurants, Hotels, Massage-Studios, Souvenirshops, Internetläden und Imbissbuden. Die eine Straße führt nach oben, die andere Straße - die sogenannte "Tempelstraße" Richtung Dalai-Lama-Tempel - führt wieder nach unten. Gewendet wird auf dem Hauptplatz, dem "Main Square". Dort treffe ich Tenzin Tsundue. Er ist Aktivist und Schriftsteller - und zeigt mir das älteste Gebäude von Dharamsala, erbaut 1860.
    "Es ist heute geschlossen, weil Sonntag ist. Aber man findet hier immer noch richtig alte Sachen aus dem Jahr 1940 und -50. Zum Beispiel Kekse, Brillen, Porzellangefäße, Zahnpasta - und man kann sich das wie in einem Museum anschauen. Im vorderen Bereich werden Zeitungen verkauft."
    1848 wurde Dharamsala von England annektiert, die Briten haben hier eine Garnison errichtet. McLeod hieß der damalige Offizier. Ganj bedeutet einfach Platz oder Stelle. Auf dem Weg durch die Stadt wird Tenzin Tsundue immer wieder angesprochen. Mehr als 20 Jahre Freiheitskampf haben ihn bekannt gemacht. Außerdem fällt er auf - nicht unbedingt durch seine Größe, aber durch ein breites rotes Band im pechschwarzen Haar.
    Ein Mann sitzt an einem Fenster eines Ladenlokals und blickt auf eine Straße.
    Im ältesten Gebäude von Dharamsala befindet sich heute ein Kiosk (Deutschlandradio / Pauline Tillmann)
    Auf dem Weg zum Dalai-Lama-Palast kommen wir an einigen Straßenverkäufern vorbei, die Klangschalen feilbieten. Eine kleine gibt's für fünf Euro, für eine große Schale muss man sieben Euro auf den Tisch legen. Die Klangschalen sollen bei der Meditation helfen, erklärt mir Tenzin Tsundue, der ein bisschen aussieht wie Jonny Depp. An Dharamsala gefällt ihm besonders gut:
    "Es ist kosmopolitisch, denn du triffst Menschen aus der ganzen Welt. Allein wenn man in der Innenstadt entlangflaniert, begegnen dir 20 verschiedene Nationen und genauso viele unterschiedliche Sprachen. Es gibt Wechselstuben mit allen erdenklichen Währungen und: Man kann alles Mögliche essen - unter anderem Französisch, es gibt sogar eine deutsche Bäckerei, Koreanisch und Japanisch."
    Ein Brunnen der Ruhe, Kraft und Inspiration
    Die Touristensaison beginnt im April und geht bis Juni. Direkt im Anschluss folgt der zweimonatige Monsun, den man unbedingt meiden sollte, denn zu dieser Zeit - also im Juli und August - ist es überall feucht, matschig und dreckig. Nicht zuletzt zeichnet sich Dharamsala durch die vielen kulturellen Veranstaltungen aus. Jeden Tag gibt es entweder eine Lesung oder eine Podiumsdiskussion, Kundgebung, Kinovorführung, Kunstperformance oder einen Tanzabend. Oft zum Thema Tibet. Denn: Es gibt wohl keinen anderen Ort auf der Welt, an dem man sich so sehr dem Kampf für ein freies Tibet verschrieben hat.
    "Freiheit bekommen wir nicht, indem wir Chinesen töten oder sie uns erkaufen. Freiheit bekommen wir nur dann, wenn wir uns durch Bildung ermächtigen. Und neben der Bildung brauchen wir spirituelle Stärke, um diese Arbeit auch dann fortzuführen, wenn sie uns besonders schwerfällt... Denn gerade dann müssen wir stark sein. Als Kind hat mich das immer inspiriert - dass ich irgendwann ein Freiheitskämpfer werde mit dieser besonderen Art von Stärke."
    Und so schreibt Tenzin Tsundue Gedichte auf Englisch, um seine spirituelle Stärke zu kanalisieren. Meist kommen ihm die Gedanken dafür bei den Gesprächen auf der Straße, oder bei Veranstaltungen. Und so ist Dharamsala - "Klein-Lhasa" - wie ein großer Brunnen, aus dem scheinbar jeder Ruhe, Kraft und vor allem Inspiration schöpfen kann.