Freitag, 29. März 2024

Archiv


Diagnose abgesagt

Technetium-99 ist das Arbeitspferd der Radiologie: Tumore werden damit entdeckt, Fehlfunktionen von Schilddrüse, Herz und Lunge. Allein in Deutschland bezahlen die Versicherer jedes Jahr 60.000 Szintigramme. Doch nun droht eine Zwangspause: Anfang 2010 wird die Produktion des Diagnosemittels voraussichtlich auf ein Minimum schrumpfen.

Von Björn Schwentker | 07.02.2010
    "Machen Sie erst einmal eine Faust bitte, genau, machen wir jetzt erstmal die Blutabnahme, und dann injiziere ich Ihnen das Technetium."

    Aus einer Spritze drückt Martina Back (Name geändert) eine durchsichtige Flüssigkeit in die Vene der Patientin: Die Kochsalzlösung enthält radioaktiv strahlende Teilchen; eine genau abgemessene Dosis Technetium-99.

    "So, sind Sie so lieb bitte, drücken einmal hier mit dem Tupfer feste drauf."

    "Ja."

    "Ja, so. Gut, kriegen Sie noch ein Pflaster, Tupfer lassen Sie bitte noch so lange drauf, die Wartezeit beträgt jetzt somit 20 Minuten. Sie warten hier vorne vor der Tür bitte."

    Die Zeit läuft. Während die Patientin wartet, wandern die strahlenden Technetium-Partikel durch ihre Blutbahn und reichern sich in der Schilddrüse an. Der Hausarzt hatte dort einen Knoten entdeckt. Im schlimmsten Fall ist es Krebs. Das soll jetzt abgeklärt werden. Technetium-99 ist das Arbeitspferd der Nuklearmedizin. 60.000 Untersuchungen pro Woche werden allein in Deutschland durchgeführt. Tumoren, Wucherungen und Fehlfunktionen an Herz oder Lunge, der Schilddrüse oder im Skelett lassen sich so aufspüren. Martina Back:

    "Haben Sie eine Halskette um? Nein. Gut. Einmal bitte Platz nehmen. Sie können sich gerne hier unten festhalten, Kinn einmal bitte hier auf die Ablage legen, ich stelle das mal eben hier am Monitor ein."

    Das Technetium hat die Schilddrüse erreicht, die Patientin kommt vor die Kamera, einen brusthohen Plastikkasten, aus dem ein paar Kabel laufen. Back:

    "So bleiben bitte, ruhig sitzen bleiben, dauert ungefähr zehn Minuten."

    Technetiumteilchen senden kleine Lichtblitze aus, sogenannte Gammastrahlen. Für das Auge sind sie unsichtbar, aber mit speziellen Kameras lassen sie sich aufzeichnen. Auf dem Computermonitor entsteht ein Bild, ein sogenanntes Szintigramm, auf dem Tumore und andere Wucherungen als dunkle Stellen auftauchen. Die Ärzte koppeln den Strahler vor dem Spritzen chemisch an spezielle Moleküle. Sie reichern sich dort an, wo der zelluläre Stoffwechsel besonders stark ist – in Entzündungsherden. Das funktioniert in der Schilddrüse genauso wie etwa im Skelett.

    "Wir hier in der Uniklinik führen das in erster Linie bei bösartigen Tumoren durch, mit der Frage, ob sich Absiedlungen im Knochen finden, die dann den Knochen reizen, woraufhin der mehr arbeitet und genau das würden wir dann sehen."

    Andreas Bockisch leitet die Radiomedizin an der Uniklinik Essen und ist Präsident der Deutsche Gesellschaft für Nuklearmedizin. Leider kann er das Radiopharmakon nicht auf Vorrat halten: Während es strahlt, zerfällt es rasant - nach sechs Stunden ist nur noch die Hälfte davon da. Darum sind ständig Nachlieferungen nötig. Bockisch:
    "Wenn es die nicht gibt, ist das unmittelbar lebensbedrohlich für die Patienten. Es gibt Therapien, die man nicht unbedingt innerhalb von Stunden, aber doch besser innerhalb von einer Woche durchführen muss. Daneben gibt es auch Untersuchungen, die einfach schnell sein müssen. Untersuchungen, die man beispielsweise macht, um zu entscheiden, ob ein Patient eine Chemotherapie bekommt, die kann man nicht um eine Woche verschieben."

    Doch weltweit hängt die nuklearmedizinische Versorgung an einem seidenen Faden. Einen gefährlichen Engpass gab es in Europa zuletzt im Sommer 2008. Von einem Tag auf den nächsten fiel der Kernreaktor im holländischen Petten aus – der größte Produzent der strahlenden Medizin in Europa. Auf dem ganzen Globus produzieren nur noch fünf Reaktoren Molybdän-99, die radioaktive Grundsubstanz für Technetium-99. 90 Prozent des Weltbedarfs stammen sogar von nur zwei Standorten: Aus Petten und aus einem Reaktor in Kanada. Dazu kommen drei kleinere in Belgien, Frankreich und Südafrika. Das Problem: Alle Reaktoren sind an die 50 Jahre alt. Und damit technologische Greise, warnt Wolfram Knapp, Präsident der europäischen Fachgesellschaft für Nuklearmedizin.

    "Engpässe sind bis 2020 vorgezeichnet. Einfach deshalb, weil die Reaktoren überaltert sind, und weil es zu wenig gibt. Die jetzt noch im Betrieb befindlichen, werden immer längere Wartungszeiten benötigen, längere Reparaturzeiten, und daraus kann man sehr leicht ableiten, dass wir es mit einer chronischen Krankheit zu tun haben, und nicht mit einem akuten Geschehen."

    Seit Mai 2009 steht der weltweit größte Produzent still: der National Research Universal Reaktor, kurz NRU, im kanadischen Chalk River. Weil der Reaktordruckbehälter Löcher hat, wird er seit Monaten inspiziert. Experten fürchten, dass der Chalk River nie wieder anläuft. Seitdem der Reaktor steht, gibt es für Kanada und die gesamte USA kein Technetium mehr. Zum Glück für Europa sprudelt die Quelle in Petten wieder. Noch – denn noch in diesem Frühjahr muss sie für ein halbes Jahr abgeschaltet werden. Dann erst wird der defekte Kühlkreislauf repariert, der zum Ausfall vor anderthalb Jahren geführt hatte. Der kanadische Reaktor wird bis dahin vielleicht nicht wieder fit sein, sagen seine Betreiber. Dann liegt die Radiomedizin weltweit am Boden. Wolfram Knapp:

    "Die einfachste Möglichkeit wäre, wir würden jetzt drei neue Reaktoren irgendwo bauen in Europa, die alle in der Lage sind, dieses Molybdän herzustellen, also die die entsprechende Spezifikation haben, entsprechend hohe Neutronenflüssse. Das wird wahrscheinlich so nicht möglich sein."

    Der Lebensquell der europäischen Nuklearmedizin entspringt an einem beschaulichen Ort: Möwen kreisen im Wind über den Dünen, im Hintergrund das Meer. Hier, an der niederländischen Nordseeküste nahe dem Feriendörfchen Petten, ducken sich zwischen die Sandhügel die Produktionsanlagen der Nuclear Research and Consultancy Group, NRG. Dazu gehört auch der Forschungsreaktor HFR.

    "Goede Morgen – Ik kom her met drie Bezoekers…"

    Kevin Charlton, bei NRG Manager für die Nuklidproduktion, erledigt die Formalitäten des Sicherheitschecks. Charlton:

    "OK, we go inside."

    Hinter zwei schweren Stahltüren, die per Handkurbel geöffnet und geschlossen werden müsse, öffnet sich der große Dom des Reaktors.

    "We are at the level of the reactor vessel, so we are at the same physical level as the actual core of the reactor which is deep inside this."

    Groß wie ein fünfstöckiges Wohnhaus ist die runde Halle. In der Mitte türmt sich ein Gerüst aus Stahl. Es umhüllt den großen Reaktorbehälter. Überall laufen Rohre und Leitungen mit unzähligen Ventilen, Druckmessern und Schaltern. Die Technologie hat den robusten Charme der 50er Jahre, als die Anlage gebaut wurde. Kevin Charlton steigt die Stufen empor, zur obersten Ebene des Druckbehälters.

    "Here we are, we are up on the third deck of the reactor, and we are looking down into the water filled reactor vessel…"

    "Wir schauen direkt in den Wassertank mit dem Reaktorkern. Sie sehen dort so eine Art Schachbrettanordnung. In jedem Feld stecken Experimentalbehälter. Die dort am Rand produzieren Molybdän. Im Moment haben wir zwölf Stück davon."

    Nicht das medizinische Technetium direkt kommt aus dem Reaktor, sondern radioaktives Molybdän-99, das Vorprodukt des Technetiums. Das Medikament entsteht in drei Stufen: Am Anfang steht ein Röhrchen aus Aluminium, auf dem hoch angereichertes Uran-235 angebracht ist. Dieses so genannte "Target" wird im Reaktor von Neutronen gespalten. Dabei entsteht Molybdän-99 und jede Menge andere strahlende Stoffe. Als nächstes werden die hoch radioaktiven Targets zu einer Aufarbeitungs-Anlage transportiert. Chemisch wird dort das Molybdän aus dem strahlenden Gemisch isoliert. Im letzten Schritt kommt das gereinigte Molybdän-99 in so genannte Generatoren: Dick mit Blei abgeschirmte Metallkanister. Sie werden an die Ärzte ausgeliefert, erst hier entsteht das gewünschte Technetium-99, indem das Molybdän kontinuierlich zu Technetium zerstrahlt. Mit Spritzen saugen es die Ärzte als wässriger Kochsalzlösung aus dem Generator und injizieren es den Patienten. Nach einer Woche sind Molybdän und Technetium zerfallen. Dann wird ein neuer Generator geliefert. - Vorausgesetzt, es gibt genügend Technetium. Charlton:

    "Normalerweise produzieren wir Molybdän für etwa 200.000 Patienten pro Woche. Jetzt haben wir die Produktion hochgefahren auf Dosen für über 300.000 Patienten pro Woche."

    Solange der weltgrößte Molybdän-Reaktor in Kanada defekt ist, tun die Niederländer alles, was sie können, um den Engpass in der Nuklidversorgung zu überbrücken. Doch das wird nicht ewig so gehen. Eigentlich ist nur die Hälfte der Reaktorleistung für die Nuklearmedizin vorgesehen. Der Rest bleibt anderen zahlenden Kunden vorbehalten. Etwa um Silizium für die Halbleiterindustrie zu bestrahlen oder Proben von Lebenswissenschaftlern. Momentan stecken sie zurück. Charlton:

    "Rein technisch gesehen könnten wir weiter so viel Molybdän produzieren wie jetzt. Doch für unsere anderen Kunden würde das bald zu einem großen Problem, das wir nicht lösen könnten."

    Nur Forschungsreaktoren können Molybdän-99 für die Medizin herstellen - Kernkraftwerke nicht. In ihnen fließen zu wenige Neutronen auf einmal, um das Uran in den Targets effizient zu spalten. Charlton:

    "Wenn der Markt 100 Prozent Produktionskapazität verbraucht, müssen 200 bis 250 Prozent bereit stehen, um die 100 Prozent Produktion auch sicher garantieren zu können. Man braucht also massive Überkapazitäten. Darum ist es sinnvoll, medizinische Isotope in Forschungsreaktoren herzustellen, parallel zu anderen Forschungsbestrahlungen. Denn dadurch sind weitere Bestrahlungsmöglichkeiten für Molybdän im Prinzip da, man muss sie aber nicht immer nutzen."

    Die massiven Überkapazitäten sind nötig, weil Kernreaktoren im allgemeinen und damit auch die Forschungsreaktoren im besonderen nicht gerade verlässlich zur Verfügung stehen. Jedes Jahr werden sie planmäßig mehrere Wochen abgeschaltet: für Wartungen. Dazu kommen die nicht vorhersehbaren Pannen, deren Reparatur sich schnell viele Monate hinziehen kann. Früher gab es ausreichend Überkapazitäten – denn es gab viele Forschungsreaktoren, die medizinische Nuklide herstellten. Doch einer nach dem anderen wurde stillgelegt, auch in Deutschland. Bis Mai 2006 produzierte der Jülicher Forschungsreaktor FRJ-2 Molybdän. Dann wurde er dicht gemacht. Am Forschungszentrum Dresden-Rossendorf entstand zu DDR-Zeiten nicht nur Molybdän; dort gab es auch sämtliche Anlagen, um es zu medizinischem Technetium zu verarbeiten - Nach der Wende durfte all das nicht weiter betrieben werden. Auch im französischen Grenoble und im britischen Harwell wurden Nuklidreaktoren stillgelegt. Die, die heute noch laufen, sind alt und dürfen nicht mehr lange betrieben werden: Petten hat eine Lizenz bis 2015. Und ob der defekte Reaktor in Kanada überhaupt noch einmal anfahren darf, steht in den Sternen.

    "Petten läuft auf einer bedingten Lizenz. Sie müssen abschalten und ihr Problem, warum sie jetzt abgeschaltet wurden, endgültig reparieren. Und es ist immer noch völlig ungewiss, ob das machbar ist."

    Winfried Petry ist wissenschaftlicher Direktor im modernsten Forschungsreaktor Europas, dem FRM-II in Garching bei München. Gerade einmal seit 2004 läuft die Anlage. Molybdän für die Medizin wird hier nicht produziert. Doch wenn es nach Petry geht, soll sich das bald ändern.

    "Deutschland ist der größte Konsument von Radioisotopen für die Nuklearmedizin. Deutschland hat so gut wie keine eigenen Kapazitäten diese zu erzeugen, speziell Technetium-99 gar keine. Es wird allerhöchste Zeit, dass wir im europäischen Verbund auch unsere Last an der Erzeugung von Radioisotopen endlich mal tragen."

    In der Krise wittert Petry seine Chance. Er will, dass der Garchinger Reaktor groß in die Produktion von Molybdän-99 einsteigt.

    "Jetzt machen wir mal kurz die Kontrolle. So, den bräuchte ich noch, so. Ganz kurz umdrehen. Gut, danke, das war es schon."

    Sicherheitscheck auf der Garchinger Anlage. Der Metalldetektor fiept – aber das war nur die Gürtelschnalle. Der Weg ist frei. Ingo Neuhaus steht in der Reaktorhalle und blickt von oben in das bläulich schimmernde Wasser, in dessen Tiefe die Kernreaktion brennt. Auch hier entstehen – wie in Petten - Neutronen in großer Zahl. Jetzt müsste im Becken nur noch umgebaut werden, sagt der technische Direktor des FRM-II.
    "Der eigentliche Prozess ist ziemlich simpel, ich muss einfach nur Platz schaffen, wo ich in die gewünschte Stelle diese uranhaltigen Targets platziere. Die Probleme kommen dann aus den sicherheitstechnischen Überlegungen, die man damit zusammen anschließen muss, und deswegen wird es komplizierter, als es auf den ersten Blick klingt."

    Im Becken würde es zwar durch die zusätzliche Nuklidproduktion etwas heißer als bisher. Doch das sei leicht in den Griff zu kriegen, heißt es in Garching. So besagt es die hauseigene Machbarkeitsstudie: 5,4 Millionen Euro soll die Aufrüstung kosten, in fünf Jahren könnte sie fertig sein. Neuhaus:

    "Danach, der spätere Betrieb, der muss sich dann refinanzieren. Ich meine, die Targets gehen ja dann schließlich zu industriellen Kunden, die da die Radiopharmazeutika von herstellen, und da gedenken wir schon, die nicht umsonst abzugeben. Das heißt, der Betrieb muss sich dann mindestens daraus selber tragen können."

    Kritiker sind skeptisch: Die Kosten würden im Laufe des komplizierten Lizensierungsprozesses die angesetzten 5,4 Millionen gewiss übersteigen. Doch das größte Problem sei ein anderes, sagt Jörg Steinbach, Direktor des Instituts für Radiopharmazie am Forschungszentrum Dresden-Rossendorf.

    "Die Idee, wieder in Deutschland Molybdän-99 herzustellen, ist aus meiner Sicht eine sehr vernünftige, aber: Die Molybdän-Herstellung bedeutet nicht nur die Bestrahlung von Target-Elementen, es bedeutet vor allem die Aufarbeitung des Radionuklidgemisches."

    Doch dafür gebe es in Garching derzeit keine Möglichkeiten. Um das Molybdän sauber aus dem radioaktiven Gemisch in den bestrahlten Targets zu lösen, braucht man eine spezielle Anlage. Das Handwerk beherrschen in Europa bisher nur zwei Unternehmen, mit Standorten in Holland und Belgien. Steinbach:

    "Diese Aufarbeitung zu trennen von dem Ort der Bestrahlung, also vom Reaktor, halte ich für sehr problematisch. Woran ich dann immer denke, dass man dann letztlich frisch bestrahlten Kernbrennstoff quer durch Europa fährt. Und zwar regelmäßig. Diese Idee finde ich nicht gut. Wenn wir Probleme haben von diesen Castortransporten, von denen da immer gesprochen wird: Letztlich ist das nichts anderes. Wir haben dann zwar nicht so hohes Aktivitätsniveau, aber die Produkte sind dieselben. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass der deutsche Gesetzgeber und die deutsche Öffentlichkeit diese Sachen trennen. Das ist das Problem, das ich dabei sehe."

    Der Ausbau des Garchinger Reaktors gilt inzwischen als sicher. Das Folgeproblem des Transports ließ man erst einmal ungelöst. Die Regierung ist froh, in der Krise überhaupt etwas tun zu können, und fördert den Garchinger Umbau. Wie es danach weitergeht, will man sich später überlegen.

    Zurück an der Nordsee, auf dem Nuklearforschungsgelände im holländischen Petten. Harrie Buurlage steht auf der Türschwelle eines flachen Gebäudekomplexes seiner Firma Covidien, einem der weltweit größten Hersteller von Technetium-Generatoren für die Medizin. Harrie Buurlage ist dort der Direktor für nukleare Produktion.

    "Sie sehen, der Reaktor, aus dem wir die bestrahlten Targets bekommen, ist gleich da drüben, nur ein paar Hundert Meter entfernt von unserer Molybdän-Anlage. Wir müssen die Targets nur in Spezialcontainer packen und 300 Meter weiterfahren. Das ist ein Vorteil dieses Standortes: Reaktor, Molybdän-Aufbereitung und Generatorproduktion liegen nah beisammen. Alles passiert hier vor Ort."

    Nicht ohne Grund haben die amerikanischen Unternehmenschefs die Molybdän-Aufbereitungsanlage direkt neben den holländischen Reaktor gebaut: Das bestrahlte Molybdän-99 ist extrem kurzlebig. Nach zweieinhalb Tagen ist davon bereits die Hälfte zerfallen. Mit jeder Minute gespartem Transportweg bleibt mehr von der wertvollen Radioaktivität erhalten und kann letztlich im Generator an die Ärzte verkauft werden kann.

    Zeit ist der entscheidende Faktor. Darum wird in der Molybdänanlage mit Tempo produziert. Arbeiter in weißen Kitteln hantieren an länglichen Stangen, die aus der Wand ragen. Die so genannten "Manipulatoren" steuern Greifarme auf der anderen Seite der Wand - abgeschirmt durch dicke Bleiglasplatten. Dort ist eine Art Chemiefabrik im Kleinformat aufgebaut: Mit ihren Greifern schrauben die Männer in Weiß an Ventilen, verbinden Rohre, ziehen an Schiebern und drehen an Regelknöpfen. In diesen "heißen Zellen" wird aus den strahlenden Targets reines Molybdän-99 abgetrennt.

    "Mit den Manipulatoren arbeiten zu können, braucht einiges an Übung. Diese Mitarbeiter sind verantwortlich dafür, dass wir überhaupt medizinische Isotope bekommen. Machen sie einen Fehler, bedeutet das, dass Patienten nicht behandelt werden können. Denn unsere Produkte zerfallen so schnell, dass wir Fehler nicht wieder ausgleichen können. Der Container mit den Targets kommt um 11 Uhr morgens, und zwölf Stunden später müssen die Produkte raus. Ohne Verzögerung."

    In den heißen Zellen wird das feste Aluminium-Target aus dem Reaktor zunächst in ätzender Flüssigkeit aufgelöst. Was herauskommt, ist eine hochradioaktive Mixtur. Nur sechs Prozent davon sind das begehrte Molybdän-99, der Rest strahlende Abfallprodukte. Wie genau die Covidien-Experten das Molybdän abtrennen und bis zu medizinischer Reinheit aufarbeiten, will Harrie Buurlage nicht verraten. Der komplizierte Prozess ist patentiert. Nur wenige Unternehmen auf der Welt beherrschen ihn.

    "Wir beliefern den amerikanischen Markt, den europäischen Markt – mehr als 50 Länder, Woche für Woche. Das Problem mit dem ausgefallenen kanadischen Reaktor bekommt man weltweit zu spüren. Normalerweise produziert er 50 Prozent aller medizinischen Isotope. Die fehlen jetzt, bis er repariert ist."

    Jahrzehntelang haben sich die Nuklearmediziner einfach darauf verlassen, dass sie immer wieder frische Technetium-Generatoren in ihren Praxen stehen hatten. Erst im Sommer 2008, als die europäische Versorgung von jetzt auf gleich zusammenbrach, schreckten sie auf. Damals fiel der wichtige Reaktor im niederländischen Petten aus. Seitdem ist allen klar: Es könnte eine Zeit ganz ohne Technetium geben. Ob man nicht besser nach einer alternativen Behandlungsmöglichkeit suchen sollte? Manche Ärzte versuchten im Sommer 2008, die Technetium-Szintigraphien zu ersetzen durch Aufnahmen in Positronen-Emissions-Tomographen zu, kurz PET. Auch dafür braucht man strahlende Teilchen. Doch die kommen nicht aus Reaktoren, sondern aus Kreisbeschleunigern, so genannten Zyklotrons. Einer davon steht im Forschungszentrum Dresden-Rossendorf.

    "Die Kollegen haben, weil sie früh um vier bereits angefangen haben zu arbeiten, die Räumlichkeiten bereits verlassen, und wir kommen jetzt in die Schaltwarte."

    Jörg Steinbach, Direktor am Rossendorfer Institut für Radiopharmazie, steht zwischen verlassenen Monitoren und verwaisten Telefonen. Jetzt ist Nachmittag, keiner arbeitet mehr. Doch jeden Morgen kontrolliert ein ganzes Forscherteam von hier aus die Beschleunigermaschine: Hinter einer dicken Metalltür füllt sie einen Raum, etwa doppelt so groß wie eine Garage. Steinbach:

    "Sie sehen: Sperrbereich, kein Zutritt, aber die Maschine läuft nicht, also gehen wir in den Bereich hinein, und jetzt sehen Sie unser Zyklotron."

    In der Mitte des Raums: Ein bulliges Gerät aus grau gestrichenem Stahl. Kreisrund wie ein überdimensionaler Eishockey-Puck von mehreren Metern Durchmesser, übermannshoch und mit Starkstromleitungen verkabelt. Im Inneren verbergen sich mächtige Elektromagnete, die Wasserstoffatome im Kreis beschleunigen. Mit Wucht schlagen sie schließlich auf Atome wie Fluor oder Sauerstoff und machen deren Kerne radioaktiv. Steinbach:

    "Wir gehen mal einen Schritt hier rüber, Sie sehen, das ist ein Produktionstarget für die Herstellung von Kohlenstoff-11, ein Produktionstarget für die Herstellung von Sauerstoff-15, und weiter hinter gehen wir jetzt mal nicht, weil dort nämlich die Produktionstargets sind für Fluor-18, und die haben eine hohe Dosisleistung, jetzt noch. Da kann man jetzt nicht ran."

    Mit dem Technetium aus den Generatoren haben die medizinischen Isotope aus den Zyklotronen nicht viel gemeinsam: Technetium ist ein Metall. Also ein recht schweres und großes Atom. In den Kreisbeschleunigern hingegen entstehen sehr kleine, leichte Strahler: Eine radioaktive Version des Fluor etwa oder des Kohlenstoffs. Auch praktisch gibt es wichtige Unterschiede: Technetium lässt sich im Körper mit einfachen Gammakameras aufzeichnen. Patienten, denen Zyklotron-Nuklide gespritzt wurden, müssen zur Untersuchung in die große Röhre eines Positronen-Emissions-Tomographen geschoben werden. Gemeinsam ist beiden Teilchenarten, dass ihre radioaktive Strahlung krankhafte Veränderungen im Körper sichtbar macht. Als im Sommer 2008 das Technetium plötzlich knapp wurde, wichen die Ärzte in größten Notfällen auf PET-Untersuchungen mit dem radioaktiven Fluor-18 aus. Wäre das nicht immer möglich? Steinbach:

    "Viele Untersuchungen, die ich jetzt mit Technetium-99 machen kann, könnte man durchaus mit Zyklotron-basierten Radiopharmaka durchführen. Aber, und hier muss ich ganz klar sagen: Aber. Das ist nur für einen relativ kleinen Kreis von Patienten dann nutzbar. Weil einfach die Verfügbarkeit des 18F-Fluorids zu niedrig ist und nicht in jeder Praxis genutzt werden kann. Ich brauche dazu einen PET-Tomographen, mit dem ich das messen kann, dann brauche ich einen Lieferanten, der das Fluorid hat."

    Gerade mal einer der teuren PET-Tomographen kommt in Deutschland auf eine Million Einwohner, das sind 70 bis 80 Geräte insgesamt. Gammakameras für Technetium sind dagegen inzwischen fast allgegenwärtige Billigware. 2000 bis 3000 gibt es davon hierzulande. Andererseits stehen in Deutschland wesentlich mehr Zyklotrons als Reaktoren: Es gibt sie an größeren Kliniken und in Forschungseinrichtungen. Damit wäre prinzipiell eine dezentrale, ausfallsichere Versorgung denkbar. Doch für eine flächendeckende Behandlung bräuchte man noch mehr Beschleuniger als heute. Denn die Strahler aus dem Zyklotron zerfallen noch schneller als Technetium und können deshalb nur über sehr kurze Strecken transportiert werden. Von Fluor-18 etwa ist schon nach zwei Stunden nur noch die Hälfte übrig. Das mache die Massenanwendung unmöglich, sagt Jörg Steinbach.

    "Es ist wirtschaftlich überhaupt nicht nachvollziehbar. Das eine ist die Basis der Nuklearmedizin, wie man auch so schön sagt, das Arbeitspferd der Nuklearmedizin, das Technetium-99, und das andere ist eigentlich Hochleistungsmedizin. Und Hochleistungsmedizin setze ich dort ein, wo sie sinnvoll ist, Aber die Gesellschaft muss das Ganze bezahlen können, und es muss vor allem die Voraussetzung da sein. Das ist auf Technetium wesentlich einfacher und vor allem auch preiswerter."

    Ein Knochenszintigramm inklusive ärztlicher Behandlung kostet die Krankenkassen etwa 120 Euro, eine entsprechende Ganzkörperuntersuchung per PET das Zehnfache. Darum sind PET-Untersuchungen in Deutschland dort nicht als Kassenleistung anerkannt, wo ebenso gut eine Technetium-Diagnose möglich wäre. Ohne Technetium-99 gehe es nicht, glaubt deshalb Jörg Steinbach. Weil der weltweite Bedarf sogar steige, führe an neuen Reaktoren für die Medizin kein Weg vorbei. Dafür müsse zur Not der Staat aufkommen. Auch Deutschland sei in der Pflicht.

    "Letztlich geht es um die politische Entscheidung am Ende. Unsere Politik in Richtung Benutzung von Kernenergie und den daran hängenden Ergebnissen, dazu gehört ganz eindeutig die Molybdän-99-Produktion – wenn es da konkret wird, hat die Bundesregierung ja eigentlich immer wieder Rückzieher gemacht. Und das seit vielen Jahren, und dort braucht man eine Planungssicherheit. Planungssicherheit, die es rechtfertigt, so viel Geld einzusetzen."

    Doch würde eine Geldspritze des Staates alle Versorgungsprobleme lösen? Was muss passieren, damit es künftig genug Molybdän-Reaktoren gibt? Darüber zerbrechen sich zurzeit Nuklearmediziner auf der ganzen Welt den Kopf. Auch Wolfram Knapp, Präsident der europäischen Fachgesellschaft für Nuklearmedizin.

    "Im Moment ist es so, dass mit den Reaktoren, die wir in Europa haben, und die Molybdän produzieren, immer die Radionuklidproduktion mit hintendran hängt an einer Kette von anderen Aufgaben. Und der Betreiber immer sagt: Na ja, eigentlich könnte ich zwar ein bisschen mehr Bestrahlungszeit für die Radionuklidproduktion einräumen, das muss aber auf Kosten einer anderen Aktivität des Reaktors gehen. Und das kostet mich so viel, weil ich mit Bestrahlungszeit des Reaktors für industrielle Zwecke mehr erlöse. Wir sind also in diesen Geschäftsmodellen, die im Moment existieren, nicht wirklich konkurrenzfähig."

    Zwar zahlt auch die Technetiumindustrie Geld an die Reaktorbetreiber für die Bestrahlungszeit ihrer Targets. Aber nicht viel. Denn der Technetiummarkt ist nicht gerade profitabel, die Gewinnmargen eher klein. Besonders ungünstig wird die Situation für die Reaktorbetreiber, weil sie Überkapazitäten anbieten sollen, die der Markt im Normalfall gar nicht abgreift. Und Überkapazitäten im Angebot drücken die Preise. Wolfram Knapp glaubt, dass dieses Problem nur durch ökonomische Anreize lösbar ist. Er schlägt vor, den Reaktorbetreibern hohe Bestrahlungspreise zu garantieren. Dreimal so hoch wie bisher – auch wenn das an die Methoden der Opec erinnere.

    "Dass man so ein Kartell gründet, das ist natürlich von der Politik nicht gerne gesehen, aber irgendeine Form der politischen Einflussnahme auf die Preisgestaltung sehe ich als unabdingbar an, Und wir haben das ja auch im Energiemarkt, oder im Telekommunikationsmarkt, wo staatliche Stellen Preisvorgaben machen, die Regulation des freien Marktes ist ja nichts völlig Neues. Und im Fall einer Versorgungssicherheit für ein ethisches Pharmakon, wie es diese Radiopharmaka sind, die ja keine großen Gewinne abwerfen, halte ich es für notwendig, dass die öffentliche Hand hier regulierend eingreift."

    Irgendwo muss das zusätzliche Geld natürlich herkommen. Aufbringen müsste es zunächst die Technetiumindustrie. Die würde die Kosten weiterreichen an die Ärzte. Am Ende landet die Rechnung bei den Patienten, beziehungsweise den Krankenkassen. Ob die Politik das mitmachen wird, ist ungewiss. Ökonomische Vorschläge, wie die nuklearmedizinische Versorgung gesichert werden könnte, hat die Politik bisher nicht öffentlich diskutiert. Das Problem wurde weithin ignoriert. Technetium kam ja bisher immer zur Genüge aus dem Generator. So selbstverständlich wie der Strom aus der Steckdose.

    Martina Back:

    "Gut, der erste Teil ist somit fertig. Stellen Sie sich bitte einmal hier hin, Ja."

    Nur noch einmal muss die Patientin im nuklearmedizinischen Klinikum in Essen stillhalten. Die Gammakamera hat aus der Strahlung des Technetiums in ihrer Schilddrüse ein Bild gemacht. Jetzt ruft es die medizinisch-technische Assistentin am Computer auf.

    "Da sehen wir das schon hier mit der Aktivität. OK, das war es dann, sind Sie so lieb, warten noch einmal kurz vor der Tür? Ich werte das aus und komme dann raus mit dem Befund."

    Der Drucker schiebt das Technetium-Bild durch. Der Arzt wird darauf später einen großen Knoten erkennen, eine Wucherung, die dringend entfernt werden muss. Die Patientin hatte Glück. Die Diagnose lief problemlos, die Therapie folgt schnell. Doch schon bald könnten die Abläufe ins Stocken geraten. Die beiden größten Radionuklid-Reaktoren der Welt werden gleichzeitig still stehen. Der niederländische, weil er zum 19. Februar abgeschaltet werden muss, der kanadische, weil er am 19. Februar noch nicht wieder angeschaltet wurde. Beide sind sie alt und reparaturbedürftig. 60.000 Szintigraphien pro Woche brauchen deutsche Patienten derzeit. Es droht die Versorgungskrise.

    Nur zögerlich reagiert der Staat. Um die nötigen Überkapazitäten rechtzeitig zu schaffen, ist es jetzt schon zu spät. Und was, wenn es zum Dauerengpass kommt? Für die ärztliche Versorgung wäre das ein epochaler Rückschritt. Ihr Niveau sänke für alle. Was im Ernstfall passieren kann, zeigen Länder wie Frankreich, in denen Patienten auf Technetium schon heute so lange warten müssen, dass Notfalldiagnostik kaum möglich ist. Wenn er an die Konsequenzen denkt, kann Jörg Mahlstedt, Chef der praktizierenden Nuklearmediziner in Deutschland, nur bitter lachen.


    "So kann man auch Risiken ansehen. Sagen: Wenn es dann kommt, das ist so selten, dann machen wir eben nichts. Und die Breitenversorgung der Medizin ist in vielen Staaten, wo die Versorgung eben nicht flächendeckend ist, da macht man eben nichts. Da stirbt halt der ein oder andere."