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Diagnoseinstrument Ruhe

Medizin.- Was tut das Gehirn eines Menschen, wenn der Mensch nichts tut? Es befindet sich im sogenannten Ruhezustand, in dem nur einige wenige Hirnbereiche aktiv sind. Doch welchen Zweck erfüllen diese seltsamen Aktivitäten? Münchner Forscher nutzen die Erkenntnisse darum jedenfalls erfolgreich zur Alzheimer-Diagnose.

Von Martin Hubert | 30.03.2010
    Zuerst funktioniert das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr. Die Betroffenen vergessen rasch. Dann folgt ein weiterer Verfall geistiger Leistungen. Die Alzheimer-Krankheit, die meist nach dem 65. Lebensjahr einsetzt, ist bis heute nicht heilbar. Aber sie lässt sich durch Training und Medikamente aufhalten. Und deshalb ist es wichtig, sie frühzeitig zu erkennen. Christian Sorg, Psychiater am Klinikum der Technischen Universität München, geht dabei einen neuen Weg. Er studiert das ruhende Gehirn von Menschen, die an einem bestimmten Alterssyndrom leiden. Die Betroffenen können zwar ihr Leben noch einigermaßen meistern, haben aber doch schon erste Probleme.

    "Dieses Syndrom heißt 'leichte kognitive Störung', Kognition bezeichnet so etwas wie Denken, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis. Man hat gesehen, dass bei älteren Menschen, bei denen vor allem das Gedächtnis für Geschichten, Episoden, für Szenen beeinträchtigt ist, dass die das höchste Risiko haben, in eine Demenz, verursacht durch eine Alzheimerkrankheit, voranzuschreiten – innerhalb von fünf Jahren mehr als die Hälfte dieser Patienten!"

    Im Hirn existieren Netzwerke von Nervenzellen, die vor allem dann hochgradig aktiv sind, wenn jemand völlig entspannt ist. Wenn die Nervenzellen dieser Netzwerke reibungslos miteinander kommunizieren, sprechen die Forscher von einer guten "Konnektivität". Die Frage war nun, wie gut die Ruhenetzwerke seiner 24 Patienten noch miteinander vernetzt waren. Im Kernspintomographen nahm er die Beobachtung auf.

    "Die Region, die in einem frühen Stadium der Alzheimerkrankheit von Interesse ist, ist dieser mittlere Schläfenlappen und dieses haben wir auch verwendet und konnten eben zeigen, dass die Konnektivität dieses mittleren Schläfenlappens zu bestimmten Bereichen eines bestimmten Systems, das heißt 'Default-Netzwerk', dass dort die Konnektivität im Vergleich zu gesunden Kontrollen krass reduziert ist."

    Das sogenannte Default-Netzwerk, eine Hirnregion, die im Ruhezustand besonders stark aktiv ist, wird unter anderem mit dem autobiografischen Gedächtnis in Verbindung gebracht. Dieses Netzwerk arbeitete bei den Patienten in sich nicht mehr völlig reibungslos. Außerdem war während des Ruhezustands noch ein zweites Netzwerk gestört, das die Aufmerksamkeit reguliert. Für Christian Sorg erklärt das die Probleme der Betroffenen, wenn sie aufmerksam über sich selbst nachdenken, Zukunftspläne schmieden oder sich ihr Leben plastisch vorstellen wollen.

    "Diese Abfolge von Szenen auf mich bezogen, die ist gestört. Also vielleicht kann man es sich so vorstellen wie ein Kino, wo einfach einige Episoden fehlen und manche Episoden nur sehr schemenhaft dargestellt sind."

    Für Christian Sorg bedeutet das: Ruheaktivitätsstudien lassen sich sinnvoll für die Früherkennung einsetzen. Denn das Ausmaß der inneren Zerrissenheit der Ruhenetzwerke sagt etwas über die Verfassung der Patienten aus.

    "Man könnte das relativ früh im Verlauf der Erkrankung als ein mögliches Diagnostikum nützen, das ist mal das eine. Und das andere: es bringt einen ganz neuen Aspekt in die Beurteilung des Gehirns von solchen Patienten mit ein: Man würde eben einen Netzwerkaspekt mitberücksichtigen können, nicht nur einen regionalen Aspekt, sondern eben die Interaktion zwischen auseinander liegenden Regionen, was mit Sicherheit der Essenz dieses Organs sehr viel näher kommt, als wenn ich ein Scheibchen mir nur anschaue."

    Und das ist in der Alzheimerfoscher bisher weitgehend die Regel. Christian Sorg plant nun, die Patienten in den nächsten drei bis fünf Jahren genauer zu beobachten, um das Prognosepotenzial weiter zu verfeinern.