Drei Jahre ist es her, dass Wolf Haas seine Leser mit dem sechsten und letzten Brenner-Krimi "Das ewige Leben" erfreut hat. Ob die Brenner-Gemeinde, die mittlerweile mehr als 600.000 Buchkäufer umfasst, auch eine Haas-Gemeinde ist, wird sich jetzt zeigen. Im neuen Roman des österreichischen Autors kommt Simon Brenner, der ebenso eigensinnig wie widerwillig ermittelnde, ganz Österreich bestreichende Detektiv aus dem Steiermärkischen überhaupt nicht vor, und das Buch mit dem Titel "Das Wetter vor 15 Jahren" ist definitiv kein Kriminalroman. Aber was ist es dann?
Der Verlag nennt es furchtlos "Liebesroman", aber ebenso zutreffend beziehungsweise blödsinnig wäre es, um in Österreich zu bleiben, Oswald Wieners Sprachbekämpfungssuada "die verbesserung von mitteleuropa" von 1969 als Zeit- oder Gesellschaftsroman zu bezeichnen. Freilich wird eine Liebesgeschichte erzählt: die zwischen dem deutschen "Gästebuben" Vittorio Kowalski aus dem Ruhrgebiet, der Sommer um Sommer mit seinen Eltern ins österreichische Fremdenverkehrsörtchen Farmach reist, und der einheimischen Pensionswirtstochter Anni Bonati, was gut ging, bis die beiden unbewusst verknallten Fünfzehnjährigen in ein Unwetter gerieten, bei dem Annis Vater umkam, woraufhin die Kowalskis nie mehr nach Farmach fuhren, dafür aber Vittorio anfing, sich täglich über das Wetter dort zu informieren, es zu dokumentieren und es auswendig zu lernen, bis er fünfzehn Jahre später bei "Wetten, dass…?" auftritt und schließlich wieder nach Farmach fährt, die Annie wiedertrifft und in letzter Minute deren Hochzeit mit einem anderen … also, das wäre in groben Zügen und in einem Satz der Liebesroman.
Man könnte diesen Liebesroman mit seinem Potenzial von jugendlichem Ahnen und Sehnen, nostalgischem Herzeleid, elterlichen Geheimnissen und spätem Wiedersehen natürlich auch ganz anders erzählen, realistisch-desillusionierend wie Fontane oder realistisch-drastisch wie Updike, kalkuliert ausgepinselt wie Rosamunde Pilcher, voll sinnlicher Farbenpracht wie Isabel Allende oder mittelhochdeutsch wie Gottfried von Straßburg. Wolf Haas macht es wieder ganz anders. Wolf Haas schreibt einen Dialog. Einen Dialog von 220 Seiten. Und nicht etwa einen Dialog zwischen Charakteren dieses Liebesromans, sondern ein Interview zwischen zwei Figuren namens "Wolf Haas" und "Literaturbeilage".
Literaturbeilage: "Herr Haas, ich habe lange hin und her überlegt, wo ich anfangen soll."
Wolf Haas: "Ja, ich auch."
Literaturbeilage: "Im Gegensatz zu Ihnen möchte ich nicht mit dem Ende beginnen, sondern -"
Wolf Haas: "Mit dem Ende beginne ich streng genommen ja auch nicht. Sondern mit dem ersten Kuss."
Literaturbeilage: "Aber es ist doch irgendwie das Ergebnis der Geschichte, die Sie erzählen. Oder meinetwegen der Zielpunkt, auf den alles zusteuert. Streng chronologisch gesehen würde das an den Schluss der Geschichte gehören. Ihr Held hat fünfzehn Jahre auf diesen Kuss hingearbeitet. Und am Ende kriegt er ihn endlich. Aber Sie schildern diese Szene nicht am Schluss, sondern ziehen sie an den Anfang vor."
Wolf Haas: "Ich hätte ein paar Anfänge gehabt, die mir eigentlich besser gefallen haben. Mein Problem war aber weniger der Anfang, also wie fang ich an, sondern wo tu ich den Kuss hin. Man kann ja den nicht hinten, wo er fällig ist sozusagen. Das ist ja unerträglich. Wenn einer fünfzehn Jahre auf einen Kuss gewartet hat, oder wie Sie sagen, hingearbeitet, und dann kriegt er ihn, wie will man das beschreiben."
Literaturbeilage: "Ich hab mich beim Lesen auch mal kurz gefragt, ob der vorgezogene Schluss vielleicht eine Kampfansage an die Rezensenten ist."
Wolf Haas: "So weit kammert's no!"
Literaturbeilage: "Autoren beklagen sich ja oft bitter darüber, dass in der Zeitung schon vorab die ganze Handlung verraten wird."
Wolf Haas: "Deshalb schreib ich keine Krimis mehr. Da stört es ein bisschen, wenn man schon vorher alles weiß. Aber bei normalen Büchern sehe ich es eher als Hilfe. Als Teamarbeit. Klappentext und Kritiker erzählen vorab die Geschichte, und als Autor kann man sich auf das Kleingedruckte konzentrieren."
Literaturbeilage: "Gut, dann bleiben wir mal beim Kleingedruckten."
Gut, bleiben wir beim Kleingedruckten. Mit dem eben Gehörten geht Wolf Haas' Roman "Das Wetter vor 15 Jahren" los, und auf eben diese Weise geht er weiter: im Gespräch zwischen einer Romanfigur, die so heißt wie der Autor, und einer anderen, deren Bezeichnung - "Literaturbeilage" - daran erinnert, wo gemeinhin zuerst über einen neuen Roman diskutiert wird. Um es germanistisch zu sagen: das Zeichen "Literaturbeilage" ist ein Symbol für einen spezifischen Teil der metasprachlichen Auseinandersetzung mit einem literarischen Kunstwerk: nämlich für die Kritik.
Und das, was da "Wolf Haas" heißt, ist natürlich auch ein Zeichen. Welche Art von Zeichen, könnte Wolf Haas, in diesem Fall der Verfasser des Romans, mit Sicherheit genau erklären. Der heute 46-Jährige hat schließlich einst mit einer Arbeit über "Sprachtheoretische Grundlagen der Konkreten Poesie" promoviert, worin er sich erweist als mit allen Wassern der Semiotik, Sprachphilosophie und Kommunikationstheorie gewaschen.
Im neuen Roman kommt diese Doktorarbeit auch vor: Die Rezensenten der Brenner-Kriminalromane, sagt "Wolf Haas" (jetzt wieder die Romanfigur) mit kokettem Understatement, hätten freundlicherweise darauf verwiesen "zur Rechtfertigung der Grammatikfehler", als "akademische Lizenz zum Fehlermachen". Dabei gibt es in dieser naturgemäß nicht eben leicht zu lesenden Dissertation von 1990 mindestens einen schönen Satz. Er wirkt in seiner Lakonie, mitten in all der kritischen Auseinandersetzung mit Zelebritäten wie Wittgenstein, Roland Barthes und Umberto Eco, mit den "Konkretisten" wie Oswald Wiener, Helmut Heißenbüttel und Eugen Gomringer, mit anarchischer Sprachskepsis und rationalisierungsgläubiger Sprachaffirmation, geradezu bewegend - und scheint dem, was Haas in seinen literarischen Arbeiten treibt, bis heute zu Grunde zu liegen. Er lautet:
"Da ich schon mehrmals in dieser Arbeit behauptet habe, die ästhetische Funktion sei auch Teil der Alltagssprache, wäre es denkbar, dass eben dieser ästhetische Bereich der Alltagssprache nicht digitalisierbar wäre."
"Digitalisierbar", das heißt auch "standardisierbar", heißt auch "zu vernachlässigen", heißt "nicht literaturfähig". Dass es nicht so ist, dass die Alltags- und Umgangssprache, Sozio- und Dialekte nicht nur das sumpfige Reich der Gemeinplätze sind, sondern auch das unergründliche Reservoir überraschender Ausdrucksformen, dies zu erweisen ist Wolf Haas ja nicht allein angetreten, da bewegt er sich in einer notorischen österreichischen Tradition.
Zur Erinnerung: Der Österreicher Hofmannsthal hat die moderne Sprachskepsis erfunden und diese dann sogleich im zehnseitigen "Brief" des Lord Chandos fruchtbar gemacht, der Österreicher Oswald Wiener schreibt in der "verbesserung von mitteleuropa" Sätze wie: "den stil den machst du besser, schön du arsch, der unfug aber ist das schreiben selbst - wenn du was anschaust und es nennst, das ist trottelei". Dennoch oder gerade deshalb waren österreichische Autoren, man denke an Karl Kraus oder auch Elfriede Jelinek, groß in der Erkenntnis, dass gerade das dumm Vulgäre, geistlos Dahingesagte - richtig, also paradox eingesetzt - als Sprengsatz in den verkrusteten Ablagerungen der gebräuchlichen Redensarten in unseren Leserhirnen fungieren kann.
Wolf Haas mag nicht glauben, dass man immerfort den tiefen Teller der Moderne neu erfinden muss, um Kunst schaffen zu können, die den Namen verdient. Seit je schärft er sein Ohr dafür, was die Leute so reden, mit dem Wissen, was man damit machen kann, wie man es zur Wirkung bringt. Und in dem neuen Buch macht er das nicht nur, sondern erzählt uns zugleich davon, wie's geht.
Verfremdung und erschwerte Wahrnehmung, diese Hauptwörter der Avantgarde, schön und gut. Aber jene Eigenschaften, die nicht erst seit dem 19. Jahrhundert die literarischen Sprachen von reinen Objektsprachen unterscheiden: die Möglichkeit von Mehrdeutigkeit und erkennbarem Bezug aufs eigene Gemachtsein - die entdeckt Haas auch im Gerede in U-Bahnen und an Stammtischen. Schon in den Brenner-Romanen hat ja die äußerst suspekte Erzählinstanz, der beschränkteste allwissende Erzähler, den man sich vorstellen kann, ohne Unterlass darüber räsoniert, was die Welt und die Erzählung im Innersten zusammenhält, etwa im dritten Brenner-Fall "Wie die Tiere":
"Jetzt wieder das mit der Gleichzeitigkeit. Das Besondere an Sachen ist meistens nicht die Sache an sich. Oft wird es erst haarig, wenn zwei Sachen zusammenkommen. Du gehst bei Rot über die Kreuzung, keine besondere Sache. Aber wenn genau gleichzeitig ein besoffener Reisebus-Chauffeur mit 150 um die Kurve biegt, besondere Sache."
Erst am Ende des letzten Brenner-Krimis, "Das ewige Leben", wurde das Rätsel dieses Erzählers weniger aufgelöst, als dass es an sein Ziel fand, ein Ziel in Gestalt einer Lösung als Auflösung: Das physische Ende einer Figur wurde anschaulich als Ende der Erzählsprache. Nichts als "Ding", ein Lieblingswort der kruden Erzählinstanz, wenn sie sonst nicht weiter wusste, nichts als "Ding", das aber seitenweise, bis zum Verstummen.
Der Brenner-Erzähler zeichnete sich durch die allerdirekteste Leseransprache aus, nach dem Motto "Ob du's jetzt glaubst oder nicht". Diese dialogische Tendenz ist im Interview-Dialog, den Wolf Haas neuer Roman "Das Wetter vor 15 Jahren" darstellt, auf die Spitze getrieben, veräußerlicht und auf zwei Figuren verteilt. Wer ein wenig enttäuscht ist, statt des reichhaltigen Besetzungszettels skurrilster handelnder Personen der Brenner-Romane nun bloß noch zwei Figuren vorzufinden, wird schnell getröstet. Die Interaktion dieser beiden - "Wolf Haas" und "Literaturbeilage" - entfaltet nach und nach ihre ganz eigene Erotik: und deutlicher, als das zwischen Zeichen und Symbolen sonst üblich ist. Im Übrigen kommen im Dialog der beiden nicht nur alle und alles zur Sprache, sondern sogar mehr als in dem Roman der Figur "Wolf Haas", der diesem Dialog vorausgesetzt wird.
Literaturbeilage: "Sie haben Ihren Roman in einem Interview ja sogar einmal so zusammengefasst: Es sei die Geschichte zweier Regionen, wo die einen immer auf die Berge und die anderen immer in die Berge rennen."
Wolf Haas: "Diese Äußerung habe ich dann aber schwer bereut, weil es mir total psychoanalytisch ausgelegt worden ist, also die Bergpenetrierer und die Gipfelstürmer oder so irgendwie."
Literaturbeilage: "Angesichts der orgiastischen Geschichte, auf die alles hinausläuft, ist das ja auch nicht verwunderlich, oder?"
Wolf Haas: "Man muss als Autor schon aufpassen, dass man nicht seine eigene Geschichte zu Tode interpretiert."
Literaturbeilage: "Dass Sie (Vittorios) erstem Gang durch die Hotelhalle so viel Raum geben, bevor er dann den Zettel liest, das hat mich an ein Zitat aus Andy Warhols Tagebüchern erinnert. Da heißt es auch einmal, dass Hotelhallen die schönsten Orte sind, und man würde so gern in der Hotelhalle übernachten."
Wolf Haas: "In der Halle von Lukkis Hotel Schwalbenwandblick hätte er allerdings Reißaus genommen. Das ist ein rustikaler Alptraum. Diese Jodelarchitektur ist wirklich ein Wahnsinn!"
Literaturbeilage: "Das kommt allerdings im Buch gar nicht so krass rüber."
Wolf Haas: "Man kann das in einem Roman gar nicht verwenden. So ein Gebäude steht noch in einem Buch ungut herum!"
Literaturbeilage: "In einem Brenner-Roman hätten Sie wahrscheinlich
geschrieben: Da müsste sich mal amnesty international drum kümmern."
Wolf Haas: "So ungefähr. Aber so habe ich eigentlich alles gestrichen, also die Ausstattung, diese ganze Vollholzscheiße, das habe ich alles rausgestrichen."
Ja, von wegen "alles rausgestrichen". Es ist doch alles drin in diesem Buch - und es ist alles drin, was die Gattung Roman ausmacht: das ganze Spiel der Verweise und Vorausdeutungen, der rhetorischen Figuren wie Übertreibungen und Auslassungen, Raffung und Dehnung, des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit - bis hin zu Einzelfragen der Romantheorie, etwa, ob das popliterarische Monopol auf den Aufruf von Kollektiverinnerung durch Listenbildung eine echte Errungenschaft ist oder nicht:
Wolf Haas: "Es hat mir einfach gut gefallen, wie erbittert er nach all den Jahren noch die Gepäckstücke aufgezählt hat, mit denen er seinen Platz in den verschiedenen Autos seines Vaters teilen musste. Also ganz am Anfang war das ja sogar noch ein alter VW Käfer, und dann ging's herauf, den üblichen Weg eben, Opel Kadett, VW Golf und so weiter."
Literaturbeilage: "Die Automarken haben sie aber gar nicht erwähnt."
Wolf Haas: "Da hab ich lang herumgeschissen. Es gab natürlich Rohversionen, wo ich alles drin hatte. Dann hab ich das aber alles rausgestrichen. Ich wollte verhindern, dass es so ein modisches Marken-Archäologiebuch wird. Mir ist das unsympathisch, dieser Hang der jungen Leute, die schon als Dreißigjährige auf ihr bisschen "damals" zurückblicken und "Weißt du noch, welche Mode damals war"
Was zunächst wie ein hübscher Gag wirkte, entpuppt sich im Lauf der Lektüre als tragendes Raffinement der Konstruktion, dem ein überaus fesselnder Roman entspringt. All die Tricks der Machart - wie erzeuge ich Spannung und halte sie, wie verschiebe ich die Perspektive so, dass es den Leser nicht stört, wann führe ich welches Motiv ein, um es zur Verfügung zu haben, wenn ich es brauche, was ist nötig, um eine Figur zu charakterisieren - werden eifrig zwischen "Wolf Haas" und "Literaturbeilage" diskutiert. Aber damit nicht genug: in diesem Dialog passiert genau das, was besprochen wird, es werden also Motive eingeführt, die viel später eine Rolle spielen werden, es werden Anni und Vittorio und all die anderen charakterisiert, es wird die Perspektive gewechselt, und vor allem wird im Reden über die Spannung tatsächlich Spannung erzeugt, etwa, wenn es um das schicksalhafte Gewitter - alpenländisch "Wetter" - vor fünfzehn Jahren geht:
Literaturbeilage: "Sie ziehen die Formulierung sogar iterativ über mehrere Sätze. Ich hatte den Eindruck, dass sie mit dieser Satzkette diesen nie verlöschenden Blitz sozusagen syntaktisch abbilden oder nachbauen wollten."
Wolf Haas: "Wirklich? Welche Satzklette meinen Sie?"
Literaturbeilage: "Na diese betont ungrammatische Stelle hier. Sie schreiben, dass der Blitz den ganzen immer noch nicht regnenden Nachthimmel taghell erleuchtete, aber der Donner. Soweit man schauen konnte, erstrahlte die Landschaft in diesem unnatürlich grellen Licht, aber der Donner."
Wolf Haas: "Ja okay."
Literaturbeilage: "Wir gingen, wir liefen, wir schnauften, wir stolperten, wir eilten, wir hasteten, wir zitterten, wir rannten auf der anderen Seite der Stromautobahn noch steiler bergauf, aber der Donner."
Wolf Haas: "Ich weiß schon, welche Stelle Sie meinen."
Literaturbeilage: "Wir drehten unsere Köpfe nach dem nicht verlöschenden Blitz, der den ganzen Hügel und das ganze Tal und das ganze Gebirge und den ganzen Himmel in sein gewaltiges Hochspannungslicht tauchte, aber der Donner."
Wolf Haas: "Aber der Donner kam nicht."
Literaturbeilage: "Aber der Donner kam nicht. Und da machen Sie sogar noch einen Absatz, bevor Sie den Satz so beenden."
Der Leser ist also zugleich in der Geschichte und außerhalb, er kann beobachten, was mit ihm geschieht und wie der Autor das hinkriegt. Das ist ein Sprachspiel, das immerzu das "Erzählen von" mit "Sprechen über"
anreichert und auf diese Weise ins Unendliche tendiert. Das ist große Kunst. Und, bevor wir's vergessen, das macht großen Spaß.
Über einen Roman zu plaudern, als gäbe es ihn, und damit diesen Roman überhaupt erst hervor zu bringen; diese Plauderei unter Zeichen geschehen zu lassen; die Poetik dieses Romans oder eine mögliche Poetik, die Theorie also, bei der Gelegenheit zu präsentieren und selbst zu Praxis, also Erzählung, umzuformen; schließlich mit all dem den unterhaltsamsten Roman der Saison hinzulegen: Da ist Wolf Haas schon ein ganz, ganz starkes Stück gelungen.
Der Verlag nennt es furchtlos "Liebesroman", aber ebenso zutreffend beziehungsweise blödsinnig wäre es, um in Österreich zu bleiben, Oswald Wieners Sprachbekämpfungssuada "die verbesserung von mitteleuropa" von 1969 als Zeit- oder Gesellschaftsroman zu bezeichnen. Freilich wird eine Liebesgeschichte erzählt: die zwischen dem deutschen "Gästebuben" Vittorio Kowalski aus dem Ruhrgebiet, der Sommer um Sommer mit seinen Eltern ins österreichische Fremdenverkehrsörtchen Farmach reist, und der einheimischen Pensionswirtstochter Anni Bonati, was gut ging, bis die beiden unbewusst verknallten Fünfzehnjährigen in ein Unwetter gerieten, bei dem Annis Vater umkam, woraufhin die Kowalskis nie mehr nach Farmach fuhren, dafür aber Vittorio anfing, sich täglich über das Wetter dort zu informieren, es zu dokumentieren und es auswendig zu lernen, bis er fünfzehn Jahre später bei "Wetten, dass…?" auftritt und schließlich wieder nach Farmach fährt, die Annie wiedertrifft und in letzter Minute deren Hochzeit mit einem anderen … also, das wäre in groben Zügen und in einem Satz der Liebesroman.
Man könnte diesen Liebesroman mit seinem Potenzial von jugendlichem Ahnen und Sehnen, nostalgischem Herzeleid, elterlichen Geheimnissen und spätem Wiedersehen natürlich auch ganz anders erzählen, realistisch-desillusionierend wie Fontane oder realistisch-drastisch wie Updike, kalkuliert ausgepinselt wie Rosamunde Pilcher, voll sinnlicher Farbenpracht wie Isabel Allende oder mittelhochdeutsch wie Gottfried von Straßburg. Wolf Haas macht es wieder ganz anders. Wolf Haas schreibt einen Dialog. Einen Dialog von 220 Seiten. Und nicht etwa einen Dialog zwischen Charakteren dieses Liebesromans, sondern ein Interview zwischen zwei Figuren namens "Wolf Haas" und "Literaturbeilage".
Literaturbeilage: "Herr Haas, ich habe lange hin und her überlegt, wo ich anfangen soll."
Wolf Haas: "Ja, ich auch."
Literaturbeilage: "Im Gegensatz zu Ihnen möchte ich nicht mit dem Ende beginnen, sondern -"
Wolf Haas: "Mit dem Ende beginne ich streng genommen ja auch nicht. Sondern mit dem ersten Kuss."
Literaturbeilage: "Aber es ist doch irgendwie das Ergebnis der Geschichte, die Sie erzählen. Oder meinetwegen der Zielpunkt, auf den alles zusteuert. Streng chronologisch gesehen würde das an den Schluss der Geschichte gehören. Ihr Held hat fünfzehn Jahre auf diesen Kuss hingearbeitet. Und am Ende kriegt er ihn endlich. Aber Sie schildern diese Szene nicht am Schluss, sondern ziehen sie an den Anfang vor."
Wolf Haas: "Ich hätte ein paar Anfänge gehabt, die mir eigentlich besser gefallen haben. Mein Problem war aber weniger der Anfang, also wie fang ich an, sondern wo tu ich den Kuss hin. Man kann ja den nicht hinten, wo er fällig ist sozusagen. Das ist ja unerträglich. Wenn einer fünfzehn Jahre auf einen Kuss gewartet hat, oder wie Sie sagen, hingearbeitet, und dann kriegt er ihn, wie will man das beschreiben."
Literaturbeilage: "Ich hab mich beim Lesen auch mal kurz gefragt, ob der vorgezogene Schluss vielleicht eine Kampfansage an die Rezensenten ist."
Wolf Haas: "So weit kammert's no!"
Literaturbeilage: "Autoren beklagen sich ja oft bitter darüber, dass in der Zeitung schon vorab die ganze Handlung verraten wird."
Wolf Haas: "Deshalb schreib ich keine Krimis mehr. Da stört es ein bisschen, wenn man schon vorher alles weiß. Aber bei normalen Büchern sehe ich es eher als Hilfe. Als Teamarbeit. Klappentext und Kritiker erzählen vorab die Geschichte, und als Autor kann man sich auf das Kleingedruckte konzentrieren."
Literaturbeilage: "Gut, dann bleiben wir mal beim Kleingedruckten."
Gut, bleiben wir beim Kleingedruckten. Mit dem eben Gehörten geht Wolf Haas' Roman "Das Wetter vor 15 Jahren" los, und auf eben diese Weise geht er weiter: im Gespräch zwischen einer Romanfigur, die so heißt wie der Autor, und einer anderen, deren Bezeichnung - "Literaturbeilage" - daran erinnert, wo gemeinhin zuerst über einen neuen Roman diskutiert wird. Um es germanistisch zu sagen: das Zeichen "Literaturbeilage" ist ein Symbol für einen spezifischen Teil der metasprachlichen Auseinandersetzung mit einem literarischen Kunstwerk: nämlich für die Kritik.
Und das, was da "Wolf Haas" heißt, ist natürlich auch ein Zeichen. Welche Art von Zeichen, könnte Wolf Haas, in diesem Fall der Verfasser des Romans, mit Sicherheit genau erklären. Der heute 46-Jährige hat schließlich einst mit einer Arbeit über "Sprachtheoretische Grundlagen der Konkreten Poesie" promoviert, worin er sich erweist als mit allen Wassern der Semiotik, Sprachphilosophie und Kommunikationstheorie gewaschen.
Im neuen Roman kommt diese Doktorarbeit auch vor: Die Rezensenten der Brenner-Kriminalromane, sagt "Wolf Haas" (jetzt wieder die Romanfigur) mit kokettem Understatement, hätten freundlicherweise darauf verwiesen "zur Rechtfertigung der Grammatikfehler", als "akademische Lizenz zum Fehlermachen". Dabei gibt es in dieser naturgemäß nicht eben leicht zu lesenden Dissertation von 1990 mindestens einen schönen Satz. Er wirkt in seiner Lakonie, mitten in all der kritischen Auseinandersetzung mit Zelebritäten wie Wittgenstein, Roland Barthes und Umberto Eco, mit den "Konkretisten" wie Oswald Wiener, Helmut Heißenbüttel und Eugen Gomringer, mit anarchischer Sprachskepsis und rationalisierungsgläubiger Sprachaffirmation, geradezu bewegend - und scheint dem, was Haas in seinen literarischen Arbeiten treibt, bis heute zu Grunde zu liegen. Er lautet:
"Da ich schon mehrmals in dieser Arbeit behauptet habe, die ästhetische Funktion sei auch Teil der Alltagssprache, wäre es denkbar, dass eben dieser ästhetische Bereich der Alltagssprache nicht digitalisierbar wäre."
"Digitalisierbar", das heißt auch "standardisierbar", heißt auch "zu vernachlässigen", heißt "nicht literaturfähig". Dass es nicht so ist, dass die Alltags- und Umgangssprache, Sozio- und Dialekte nicht nur das sumpfige Reich der Gemeinplätze sind, sondern auch das unergründliche Reservoir überraschender Ausdrucksformen, dies zu erweisen ist Wolf Haas ja nicht allein angetreten, da bewegt er sich in einer notorischen österreichischen Tradition.
Zur Erinnerung: Der Österreicher Hofmannsthal hat die moderne Sprachskepsis erfunden und diese dann sogleich im zehnseitigen "Brief" des Lord Chandos fruchtbar gemacht, der Österreicher Oswald Wiener schreibt in der "verbesserung von mitteleuropa" Sätze wie: "den stil den machst du besser, schön du arsch, der unfug aber ist das schreiben selbst - wenn du was anschaust und es nennst, das ist trottelei". Dennoch oder gerade deshalb waren österreichische Autoren, man denke an Karl Kraus oder auch Elfriede Jelinek, groß in der Erkenntnis, dass gerade das dumm Vulgäre, geistlos Dahingesagte - richtig, also paradox eingesetzt - als Sprengsatz in den verkrusteten Ablagerungen der gebräuchlichen Redensarten in unseren Leserhirnen fungieren kann.
Wolf Haas mag nicht glauben, dass man immerfort den tiefen Teller der Moderne neu erfinden muss, um Kunst schaffen zu können, die den Namen verdient. Seit je schärft er sein Ohr dafür, was die Leute so reden, mit dem Wissen, was man damit machen kann, wie man es zur Wirkung bringt. Und in dem neuen Buch macht er das nicht nur, sondern erzählt uns zugleich davon, wie's geht.
Verfremdung und erschwerte Wahrnehmung, diese Hauptwörter der Avantgarde, schön und gut. Aber jene Eigenschaften, die nicht erst seit dem 19. Jahrhundert die literarischen Sprachen von reinen Objektsprachen unterscheiden: die Möglichkeit von Mehrdeutigkeit und erkennbarem Bezug aufs eigene Gemachtsein - die entdeckt Haas auch im Gerede in U-Bahnen und an Stammtischen. Schon in den Brenner-Romanen hat ja die äußerst suspekte Erzählinstanz, der beschränkteste allwissende Erzähler, den man sich vorstellen kann, ohne Unterlass darüber räsoniert, was die Welt und die Erzählung im Innersten zusammenhält, etwa im dritten Brenner-Fall "Wie die Tiere":
"Jetzt wieder das mit der Gleichzeitigkeit. Das Besondere an Sachen ist meistens nicht die Sache an sich. Oft wird es erst haarig, wenn zwei Sachen zusammenkommen. Du gehst bei Rot über die Kreuzung, keine besondere Sache. Aber wenn genau gleichzeitig ein besoffener Reisebus-Chauffeur mit 150 um die Kurve biegt, besondere Sache."
Erst am Ende des letzten Brenner-Krimis, "Das ewige Leben", wurde das Rätsel dieses Erzählers weniger aufgelöst, als dass es an sein Ziel fand, ein Ziel in Gestalt einer Lösung als Auflösung: Das physische Ende einer Figur wurde anschaulich als Ende der Erzählsprache. Nichts als "Ding", ein Lieblingswort der kruden Erzählinstanz, wenn sie sonst nicht weiter wusste, nichts als "Ding", das aber seitenweise, bis zum Verstummen.
Der Brenner-Erzähler zeichnete sich durch die allerdirekteste Leseransprache aus, nach dem Motto "Ob du's jetzt glaubst oder nicht". Diese dialogische Tendenz ist im Interview-Dialog, den Wolf Haas neuer Roman "Das Wetter vor 15 Jahren" darstellt, auf die Spitze getrieben, veräußerlicht und auf zwei Figuren verteilt. Wer ein wenig enttäuscht ist, statt des reichhaltigen Besetzungszettels skurrilster handelnder Personen der Brenner-Romane nun bloß noch zwei Figuren vorzufinden, wird schnell getröstet. Die Interaktion dieser beiden - "Wolf Haas" und "Literaturbeilage" - entfaltet nach und nach ihre ganz eigene Erotik: und deutlicher, als das zwischen Zeichen und Symbolen sonst üblich ist. Im Übrigen kommen im Dialog der beiden nicht nur alle und alles zur Sprache, sondern sogar mehr als in dem Roman der Figur "Wolf Haas", der diesem Dialog vorausgesetzt wird.
Literaturbeilage: "Sie haben Ihren Roman in einem Interview ja sogar einmal so zusammengefasst: Es sei die Geschichte zweier Regionen, wo die einen immer auf die Berge und die anderen immer in die Berge rennen."
Wolf Haas: "Diese Äußerung habe ich dann aber schwer bereut, weil es mir total psychoanalytisch ausgelegt worden ist, also die Bergpenetrierer und die Gipfelstürmer oder so irgendwie."
Literaturbeilage: "Angesichts der orgiastischen Geschichte, auf die alles hinausläuft, ist das ja auch nicht verwunderlich, oder?"
Wolf Haas: "Man muss als Autor schon aufpassen, dass man nicht seine eigene Geschichte zu Tode interpretiert."
Literaturbeilage: "Dass Sie (Vittorios) erstem Gang durch die Hotelhalle so viel Raum geben, bevor er dann den Zettel liest, das hat mich an ein Zitat aus Andy Warhols Tagebüchern erinnert. Da heißt es auch einmal, dass Hotelhallen die schönsten Orte sind, und man würde so gern in der Hotelhalle übernachten."
Wolf Haas: "In der Halle von Lukkis Hotel Schwalbenwandblick hätte er allerdings Reißaus genommen. Das ist ein rustikaler Alptraum. Diese Jodelarchitektur ist wirklich ein Wahnsinn!"
Literaturbeilage: "Das kommt allerdings im Buch gar nicht so krass rüber."
Wolf Haas: "Man kann das in einem Roman gar nicht verwenden. So ein Gebäude steht noch in einem Buch ungut herum!"
Literaturbeilage: "In einem Brenner-Roman hätten Sie wahrscheinlich
geschrieben: Da müsste sich mal amnesty international drum kümmern."
Wolf Haas: "So ungefähr. Aber so habe ich eigentlich alles gestrichen, also die Ausstattung, diese ganze Vollholzscheiße, das habe ich alles rausgestrichen."
Ja, von wegen "alles rausgestrichen". Es ist doch alles drin in diesem Buch - und es ist alles drin, was die Gattung Roman ausmacht: das ganze Spiel der Verweise und Vorausdeutungen, der rhetorischen Figuren wie Übertreibungen und Auslassungen, Raffung und Dehnung, des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit - bis hin zu Einzelfragen der Romantheorie, etwa, ob das popliterarische Monopol auf den Aufruf von Kollektiverinnerung durch Listenbildung eine echte Errungenschaft ist oder nicht:
Wolf Haas: "Es hat mir einfach gut gefallen, wie erbittert er nach all den Jahren noch die Gepäckstücke aufgezählt hat, mit denen er seinen Platz in den verschiedenen Autos seines Vaters teilen musste. Also ganz am Anfang war das ja sogar noch ein alter VW Käfer, und dann ging's herauf, den üblichen Weg eben, Opel Kadett, VW Golf und so weiter."
Literaturbeilage: "Die Automarken haben sie aber gar nicht erwähnt."
Wolf Haas: "Da hab ich lang herumgeschissen. Es gab natürlich Rohversionen, wo ich alles drin hatte. Dann hab ich das aber alles rausgestrichen. Ich wollte verhindern, dass es so ein modisches Marken-Archäologiebuch wird. Mir ist das unsympathisch, dieser Hang der jungen Leute, die schon als Dreißigjährige auf ihr bisschen "damals" zurückblicken und "Weißt du noch, welche Mode damals war"
Was zunächst wie ein hübscher Gag wirkte, entpuppt sich im Lauf der Lektüre als tragendes Raffinement der Konstruktion, dem ein überaus fesselnder Roman entspringt. All die Tricks der Machart - wie erzeuge ich Spannung und halte sie, wie verschiebe ich die Perspektive so, dass es den Leser nicht stört, wann führe ich welches Motiv ein, um es zur Verfügung zu haben, wenn ich es brauche, was ist nötig, um eine Figur zu charakterisieren - werden eifrig zwischen "Wolf Haas" und "Literaturbeilage" diskutiert. Aber damit nicht genug: in diesem Dialog passiert genau das, was besprochen wird, es werden also Motive eingeführt, die viel später eine Rolle spielen werden, es werden Anni und Vittorio und all die anderen charakterisiert, es wird die Perspektive gewechselt, und vor allem wird im Reden über die Spannung tatsächlich Spannung erzeugt, etwa, wenn es um das schicksalhafte Gewitter - alpenländisch "Wetter" - vor fünfzehn Jahren geht:
Literaturbeilage: "Sie ziehen die Formulierung sogar iterativ über mehrere Sätze. Ich hatte den Eindruck, dass sie mit dieser Satzkette diesen nie verlöschenden Blitz sozusagen syntaktisch abbilden oder nachbauen wollten."
Wolf Haas: "Wirklich? Welche Satzklette meinen Sie?"
Literaturbeilage: "Na diese betont ungrammatische Stelle hier. Sie schreiben, dass der Blitz den ganzen immer noch nicht regnenden Nachthimmel taghell erleuchtete, aber der Donner. Soweit man schauen konnte, erstrahlte die Landschaft in diesem unnatürlich grellen Licht, aber der Donner."
Wolf Haas: "Ja okay."
Literaturbeilage: "Wir gingen, wir liefen, wir schnauften, wir stolperten, wir eilten, wir hasteten, wir zitterten, wir rannten auf der anderen Seite der Stromautobahn noch steiler bergauf, aber der Donner."
Wolf Haas: "Ich weiß schon, welche Stelle Sie meinen."
Literaturbeilage: "Wir drehten unsere Köpfe nach dem nicht verlöschenden Blitz, der den ganzen Hügel und das ganze Tal und das ganze Gebirge und den ganzen Himmel in sein gewaltiges Hochspannungslicht tauchte, aber der Donner."
Wolf Haas: "Aber der Donner kam nicht."
Literaturbeilage: "Aber der Donner kam nicht. Und da machen Sie sogar noch einen Absatz, bevor Sie den Satz so beenden."
Der Leser ist also zugleich in der Geschichte und außerhalb, er kann beobachten, was mit ihm geschieht und wie der Autor das hinkriegt. Das ist ein Sprachspiel, das immerzu das "Erzählen von" mit "Sprechen über"
anreichert und auf diese Weise ins Unendliche tendiert. Das ist große Kunst. Und, bevor wir's vergessen, das macht großen Spaß.
Über einen Roman zu plaudern, als gäbe es ihn, und damit diesen Roman überhaupt erst hervor zu bringen; diese Plauderei unter Zeichen geschehen zu lassen; die Poetik dieses Romans oder eine mögliche Poetik, die Theorie also, bei der Gelegenheit zu präsentieren und selbst zu Praxis, also Erzählung, umzuformen; schließlich mit all dem den unterhaltsamsten Roman der Saison hinzulegen: Da ist Wolf Haas schon ein ganz, ganz starkes Stück gelungen.