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Dichterfürst und Frühaufklärer

Johann Christoph Gottsched (1700-1766) führte einen intensiven Briefwechsel. Dieser Schatz der deutschen Geistesgeschichte wird jetzt geborgen. Bei dem Projekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften handelt es sich um eines der größten geistesgeschichtlichen Editionsvorhaben in Deutschland.

Von Konrad Lindner | 22.08.2007
    Ins Drama und in die Poesie blies Johann Christoph Gottsched von Leipzig aus frischen Wind. Er entwickelte sich zum Reformator der deutschen Sprache, was bis in die Gegenwart die Neugier an seiner Person weckt. Jetzt erschien der erste Band seines Briefwechsels, den die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgibt. Rüdiger Otto arbeitet an der Edition mit. In den Briefen erblickt der Theologe den Schlüssel, um sich der Gestalt des Frühaufklärers zu nähern.
    "Und zwar aus den Gründen: Gottsched hat ja in den 20er Jahren zunächst Poesie unterrichtet und auch die Beredsamkeit gepflegt. Sein Hauptziel war von früh an, die deutsche Redekunst zu pflegen und eben auch in Praxi zu üben. Da gibt es eine ganze Reihe von auch später sehr namhaften Predigern oder Leuten des öffentlichen Lebens, die Gottsched also bis in die späten Jahre hinein bescheinigen, dass sie von ihm sehr, sehr viel gelernt haben. Er hat sozusagen von Anfang an einen Riesenerfolg. Er ist mit 24 Jahren in Leipzig gelandet."

    Ausgerechnet im Jahr 1724, als Immanuel Kant geboren wurde, der Königsberg im Unterschied zu Gottsched nie verließ. Kann ein Mann zum Reformator der Literatur werden, der in der Philosophie alles beim Alten lässt? Der Berliner Philosoph und Gottsched-Kenner Hans Poser.

    "Gottsched ist eben auch Reformator in der Philosophie oder Transformator. Wenn Kant hinterher als Reformator gesehen wird, dann doch deshalb, weil er über eine deutschsprachige Terminologie in der Philosophie verfügen kann. Und da ist es vor allem Gottsched gewesen, der von Wolff her diese Terminologie vermittelt hat und flexibel gestaltet hat. Ganz zu schweigen davon, dass es diese Basis aufklärerischen Denkens, philosophisch fundierten aufklärerischen Denkens gibt, die durch Gottsched in die Breite getragen worden ist."

    Verband Kant mit der Aufklärung das Heraustreten aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, verknüpfte Gottsched mit Aufklärung den Einritt in eine Sprache, die verständlich ist. Die Gottsched-Spezialistin Magdalene Heuser aus Osnabrück über die Leipziger Zeitschriftenprojekte des Reformers:

    "Ich nenne da jetzt mal zum Beispiel die 'Vernünftigen Tadlerinnen‘, eine moralische Wochenschrift, wo er wirklich für die Erziehung des Volkes, die Bildung des Volkes im aufklärerischen Sinne, ganz wichtige Dinge, ganz praktische Dinge auch gemacht hat. Also unter anderen gibt es da ja immer wieder auch Kapitel zum Beispiel, wo man lernen soll, wie man Briefe schreibt."

    Aufklärung entsteht nicht nur auf der Bühne und in Büchern, sondern auch in Briefen. Doch das Problem gleich des ersten Bandes des Gottsched-Briefwechsels, der auf 25 Bände anwachsen wird, ist prekär. Rüdiger Otto vom Editionsteam der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.

    "Das Problem besteht darin, dass wir ehrlich gesagt, gar nicht so sehr viele Briefe von Gottsched zunächst mal haben. Also: Gottsched hat die Briefe gesammelt, die an ihn gerichtet worden sind, ein stattliches Corpus von mehr als 5000 Stücken. Und er hat leider, anders als beispielsweise Leibniz, der von allen seinen Briefen, die er nach außen geschickt hat, Konzepte gemacht hat und die auch sozusagen zu seinen Unterlagen gebracht hat, überhaupt keine eigenen Brief quasi konzipiert oder auch nur abschreiben lassen. Es gibt da sehr wenig. Wir leben in der Hauptsache von Briefen, die an Gottsched geschickt worden sind."

    Die historisch-kritische Ausgabe des Gottsched-Briefwechsels ist mit den vergleichsweise wenigen Briefen von Gottsched nur ein halber Briefwechsel. Dennoch handelt es sich bei dem Leipziger Projekt neben der Edition des Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz um eine der größten Briefeditionen in Deutschland. Herausgeber Detlef Döring über die neuen Einblicke in die Biografie Gottscheds, die der erste Band mit den Briefen aus den Jahren 1722 bis 1730 eröffnet.

    "Wir erfahren viel über seine Anfänge in Leipzig. Er ist ja bei Nacht und Nebel aus Königsberg geflohen, weil er dort zu den Soldaten gepresst werden sollte, ist nach Leipzig gegangen, weil das eine offene Handels- und Universitätsstadt gewesen ist. Er hat hier begonnen in vielfältiger Hinsicht, hat moralische Wochenschriften herausgegeben. Wir erfahren einiges aus diesen Briefen über die Autoren, über die Hintergründe der Entstehung der einzelnen Artikel dieser Zeitschrift oder auch über seine Tätigkeit als Leiter, als Senior hieß das damals, der Deutschen Gesellschaft, eine der wichtigsten literaturhistorischen Gesellschaften in Deutschland."

    Der Öffentlichkeit wird eine weitgehend vergessene Gelehrtenkultur zugänglich gemacht. Die Leipziger Editoren leisten Detektivarbeit. Michael Schlott rekonstruierte zum Beispiel die Hintergründe für ein Dankschreiben eines der Königsberger Lehrer von Gottsched. Johann Valentin Pietsch bedankt sich am 16. März 1724 dafür, dass Gottsched ein unerlaubtes Druckprojekt mit Dichtungen von Pietsch verhindern konnte. Dies ist für Michael Schlott der Lieblingsbrief des ersten Bandes. Der Germanist von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften trägt die Eröffnungspassage vor, mit der sich Johann Valentin Pietsch an Johann Christoph Gottsched wendet.
    "
    "Euere HochwohlEdlen: erweisen mir eine rechte Freundschafft dass Sie mich Ihres geneigten Andenckens zu versichern belieben wollen, und fehlet mein Vergnügen recht vollkommen zu machen nichts mehr alß eine kleine Nachricht von Ihrem glücklichen Zustand, denn ich glaube nicht dass es einer Person von Ihrer Qualiteten, unglücklich gehen kann, es sey denn dass auch unsere Fataliteten ungewöhnliche Staffeln zu unserem sonst nicht zu erreichenden Glucke seyn müßten. Den Lobspruch, den Sie mir wegen meiner Poesie geben, sehe alß eine Würckung Ihrer Liebe an, die alles von unserer Freunde Hand kommt, uns selbst und anderen von der besten Seite zeiget.""

    Unter den 200 Briefen in Band 1 befinden sich drei Schreiben der erst 17-jährigen Luise Adelgunde Victorie Kulmus an den Dichterfürsten. Die junge Frau schließt ihre Zeilen vom Juli 1730 an den "Hochzuehrenden Herrn" mit den Worten: "Schreiben Sie mir oft, und beruhigen Sie dadurch Ihre treuste Freundin." Die spätere Gottschedin verfasst eigene Theaterstücke und fertigt Übersetzungen an. Sie ist das Arbeitstier des Herrn Professor. Sie beeinflusst aber auch die Briefkultur. Die Frauen- und Aufklärungsforscherin Magdalene Heuser:

    "In der Geschichte der Briefliteratur nimmt sie einen ganz markanten Punkt ein. Man muss sagen: Im Laufe des 18. Jahrhunderts hat sich die Briefpoetik total geändert. Aus einer Regelpoetik ist eine eher individuelle, nach eigenen Gefühlen usw. geschriebene Briefkultur entstanden. Da ist sie eine der Vorläuferinnen, obwohl sie als Ehefrau von Herrn Gottsched immer sich sozusagen nicht so weit vorwagen durfte. Aber in ihren Briefen mit einer Freundin zum Beispiel merkt man, dass sie da doch kritisch war. Aber sie hat nicht offen rebelliert."

    Ohne Gottscheds Frau gäbe es keinen Gottsched-Briefwechsel. Sie war es, von der die Korrespondenz abgeschrieben wurde. Der Brief-Schatz ruht in der Universitätsbibliothek Leipzig. Mit der Transkription der Briefe, mit der Übersetzung der lateinischen oder oft auch französischen Schreiben sowie durch die Recherchen zu vergessenen Personen und Sachverhalten leisten die Editoren eine hervorragende Bergungsarbeit.

    Aber versteht ein Normalbürger Briefe, die fast 300 Jahre alt sind? Michael Schlott vom Team der Sächsischen Akademie.

    "Ja, ich habe es kürzlich meiner akademisch nicht gebildeten 80-jährigen Mutter geschenkt, die natürlich auch sehr stolz ist, dass es entstanden ist. Und sie hat mir kürzlich die erste Rückmeldung gegeben und hat gesagt: Das verstehe ich auch."


    Service: Die Briefausgabe mit Briefen an Gottsched und seine Frau Luise Adelgunde Victorie erscheint im Walter de Gruyter Verlag in Berlin und New York. Der erste Band umfasst 568 Seiten und kostet 198 Euro.

    Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrage der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgegeben von Detlef Döring und Manfred Rudersdorf.
    Walter de Gruyter - Berlin - New York

    Johann Christoph Gottsched. Briefwechsel unter Einschluss des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Band 1: 1722 - 1730. Herausgegeben und bearbeitet von Detlef Döring, Rüdiger Otto und Michael Schlott unter Mitarbeit von Franziska Menzel. Walter de Gruyter - Berlin - New York 2007. 568 Seiten. Ladenpreis 198 Euro. Serienpreis: 178 Euro.