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Dichterin aus "Transparent"
Wer ist Eileen Myles?

Seit den 70er-Jahren lebt Eileen Myles als Lyrikerin und Autorin in New York. Ihre Bücher erschienen in Independent-Verlagen, Myles musste sich mit Nebenjobs über Wasser halten. Dann wurde sie zum Star.

Von Yannic Han Biao Federer | 12.06.2020
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Das Cover und die Autorin Eileen Myles (Cover Matthes&Seitz Berlin, Autorenportrait (c) Shae Detar)
Wer ist Eileen Myles? Seit den 1970er-Jahren ist sie in der New Yorker Literaturszene aktiv. Im Dunstkreis der sogenannten New York School, einer einflussreichen Gruppe von experimentellen Künstlern und Autorinnen, veröffentlichte sie ihre ersten Gedichte und arbeitete für James Schuyler, einem frühen Mitglied der New York School. Inzwischen werden ihre Arbeiten in Hollywood-Produktionen verarbeitet, namhafte Zeitungen und Magazine bringen Rezensionen, Porträts, Interviews, und auf den Umschlägen ihrer Bücher lassen sich Sonic Youth-Frontfrau Kim Gordon oder Schauspielerin und Produzentin Lena Dunham mit Ehrerbietungen zitieren.
Eileen Myles ist ein Star der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur, und doch ist Myles‘ Ruhm nicht über Jahre und Jahrzehnte gewachsen. Er kam so plötzlich, dass einige Feuilletonstimmen erst einmal klären mussten, warum Zeitschriften wie der New Yorker und die New York Review of Books erst jetzt Notiz von ihr nahmen.
"Das soll nicht heißen, dass sie nicht berühmt war. Wer in der Lyrikszene aktiv war, homosexuell war oder sich mit dem kulturellen Feminismus der 1990er Jahre beschäftigte, hatte wahrscheinlich ihre Werke gelesen. Jede dieser Communitys hat ihren Kanon, und Eileen Myles war darin von Bedeutung."
So erklärte es das New York Times Style Magazine im April 2016, die Modebeilage der renommierten Tageszeitung, und lichtete die Lyrikerin im Designeroutfit ab. Mit einem Mal war Myles aus der Nische ins Herz der amerikanischen Kulturindustrie geraten.
Eileen Myles erzählt ungeschönt
Ihre Werke, die bislang in kleinen und Kleinstverlagen erschienen waren, wurden nun vom Milliarden schweren HarperCollins-Verlag herausgegeben, und die Drehbuchautorinnen der TV-Serie "Transparent", einer Amazon-Prime-Produktion, modellierten eine fiktive Dichterin und Gender Studies Professorin nach ihrem Vorbild. Und doch bleibt die Frage: Wer ist Eileen Myles? Denn auch ihre Texte scheinen beständig auf der Suche nach einer Antwort zu sein. In einem ihrer bekanntesten Gedichte, An American Poem, ist etwa ein Ich zu hören, das in den ersten Versen feststellt, es sei, wie Myles, 1949 in Boston zur Welt gekommen.
Es habe aber Zeit seines Lebens versucht, sich seiner Herkunft zu entledigen, dem Schicksal seiner Familie zu entkommen. Wer nun glaubt, im Folgenden gehe es um die einfachen Verhältnisse, in denen Myles aufgewachsen ist, um den Alkoholismus des Vaters und seinen frühen Tod, der irrt. Vielmehr erklärt sich das lyrische Ich kurzerhand zum abtrünnigen Mitglied der einflussreichen Kennedy-Familie, das seither seine Herkunft zu verheimlichen sucht.
Wäre man allein auf den Text verwiesen, wer weiß, man könnte glauben, hier oute sich ein heimlicher Kennedy-Spross. Ähnlich verhält es sich auch mit dem bereits erwähnten Prosa-Band "Chelsea Girls", das nun, fünf Jahre nach Myles‘ Aufstieg zum Star, in deutscher Übersetzung erschienen ist. Auch hier erzählt die Autorin Eileen Myles davon, wer ihre Figur Eileen Myles sein könnte. Doch während dem Titel der englischsprachigen Originalausgabe noch das paratextuelle Fiktionalitätssignal "A novel" hinzugesetzt wurde, hat der Berliner Matthes und Seitz-Verlag auf die Gattungs-Angabe verzichtet. Stattdessen steht im Klappentext:
"Eileen Myles erzählt ungeschönt davon, wie es war, damals in New York: als Warhol jedem 15 Minuten Berühmtheit versprach, als Allen Ginsberg noch zu deiner Buchpremiere kam."
Ein Rausch im Strom der Sätze
Dabei taugt "Chelsea Girls" kaum als autobiographische Bekenntnisliteratur, angereichert mit Warhol- oder Ginsberg-Anekdoten, und sollte das Ungeschönte tatsächlich ein Zug der Myles’schen Prosa sein, so ist dies Ungeschönte durchaus: schön. Lässt man sich zunächst ganz ohne Kontext auf den Strom der Sätze ein, ist man schnell drin im Rausch. Alle nehmen Drogen, sind andauernd betrunken und die Affären und Beziehungen nehmen komplizierte Verstrickungen an.
"Ich hatte wahrscheinlich nie gewusst, was ich empfand. Ich war nur gern betrunken und verliebt. Wenn ich keins von beidem war, brauchte ich nur meine Miete, Zigaretten und Kaffee, ganz einfach. Ich mochte es sehr, das Dichterleben."
Die Kapitel, die größtenteils auch eigenständige Erzählungen sein könnten, springen durch die Zeit. Mal befinden wir uns im Boston der Sechziger Jahre, Myles ist College-Studentin, wurde gerade von ihrem ersten Freund verlassen und fährt nun mit einem Paul nach Woodstock.
"Wir würden losziehen und Teil der people sein, und poppen, wir würden ordentlich poppen."
Sex, Drogen, Geschlechtsverkehr
Mal sitzen wir mit der kleinen Eileen im geparkten Auto, warten auf den Vater, der sie im Wagen zurückgelassen hat, um sich in der Bar volllaufen zu lassen. Und schon sind wir wieder zurück im New York der 80er Jahre. Rose, ihre Verlegerin, plant den Termin ihrer Buchpremiere anhand astrologischer Kriterien, Allen Ginsberg wird ungehalten, weil Myles minutenlang über dem Exemplar brütet, das sie ihm signieren soll, ihr will kein origineller Spruch einfallen, und zu allem Überfluss hängt auch noch Exfreundin Chris mit ihrer neuen Flamme Judy auf der Party herum.
Es ist nicht immer leicht, all dem zu folgen, auch wegen der großen Zahl an Nebenfiguren, die auftauchen und wieder verschwinden, manchmal wiederkehren, manchmal nicht. Aber die chaotische, von Sex und Drogen angereicherte Grundstimmung springt dennoch sehr bald über, lässt fein nuancierte Melancholie beinahe übergangslos auf brachialen Geschlechtsverkehr treffen.
"Ihr Arsch hing hoch oben in der Luft, es war April und die Bäume waren immer noch ziemlich kahl und ich sah durch die schwarzen rostigen schraffierten Fensteröffnungen meiner East-Village-Wohnung und ich fühlte mich unbeteiligt und ich vögelte sie endlos mit meiner Hand, knetete dabei ihre Nippel."
Eine ungestüme, eine große Stimme
Und doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass da etwas hakt, dass da etwas nicht ganz so geschmeidig, lakonisch und cool herüberkommt, wie man es von Myles‘ Gedichten kennt. Das liegt keinesfalls daran, dass sich hier eine Lyrikerin an die falsche Textsorte gewagt hätte, es ist vielmehr, leider, die Übersetzung von Dieter Fuchs, die sich oftmals zu umständlich, zu ungelenk ausnimmt.
"Chris war von den Bullen wegen was auch immer die in Maine übliche Abkürzung für Fahren unter Einfluss waren eingebuchtet worden."
Wer also ist Eileen Myles? Eine begnadete, ungestüme, eine große Stimme der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur, die sich in ihren Gedichten und Erzählungen spiegelt, entwirft, erfindet. Entsprechend unangemessen wäre es, ihnen eine authentizitätsheischende Reduktion auf die übliche autobiografische Lesart anzutun. Sie sind schlicht – und trotz der missratenen Übersetzung: große Literatur.
Eileen Myles: "Chelsea Girls".
Aus dem amerikanischen Englischen von Dieter Fuchs.
Matthes & Seitz, Berlin, 252 Seiten, 22 Euro.