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Dichterin und Denkerin

Sie wird fehlen, die unverwechselbare Stimme der dänischen Autorin und Lyrikerin Inger Christensen. Ihren magischen, beschwörenden Gesang auf die Welt und deren Wandelbarkeit, den sie besonders in ihren zyklischen Langgedichten "das", "alphabet" oder "Schmetterlingstal" anstimmte, darf man getrost zur überdauernden Weltliteratur zählen.

Von Cornelia Jentzsch | 05.01.2009
    Die den Aprikosenbäumen gewidmete Anfangszeile aus ihrem Schöpfungszyklus "Alphabet" ist mittlerweile fast schon zu einem Sprichwort geworden, so eindringlich hallen Stimme und Thema in Leser und vor allem Zuhörer ihrer Gedichte nach.
    Inger Christensen hatte einen besonderen Blick für die verborgenen Zusammenhänge der Welt, ihre geheimnisvollen Strukturen und undurchdringlichen Gesetze. Als junge Studentin schrieb sich die im ländlichen Süddänemark Aufgewachsene in Kopenhagen für Medizin, Chemie und Mathematik ein.
    Mit 27 gab Inger Christensen ihren ersten Gedichtband "Licht", heraus, ein Jahr später folgte "Gras". "Zu dieser Zeit", sagte sie später, "schrieb ich Gedichte auf die Weise, dass die Korrespondenzen der Worte, als Ganzheit gesehen, eine Art Universum schaffen sollten, das vollkommen in Ruhe lag, wo der Wert jedes Wortes in einem Zusammenhang stehen sollte, als wäre das Ganze organisch."
    Neben ihrer poetischen Arbeit verfasste Inger Christensen auch Essays, Hör- und Fernsehspiele, Kurzromane und übertrug u.a. Paul Celan und Max Frisch ins Dänische.
    Das dialektische Verhältnis von Unlesbarkeit und Lesbarkeit der Welt, das Spannungsverhältnis zwischen einer begrenzten Sprache und dem unbegrenzten Gegenstand ihrer Beschreibung wurde von Inger Christensen niemals dahingehend erlöst, dass sich die Dichterin außerhalb der Welt stellte und diese versuchte zu beschreiben. Sie arbeitete stets in einem »Fieberzustand« - wie sie selbst sagte, wie ein »Eingeborener, der seine Welt nie von außen sehen kann«.
    Im tagebuchartigen Essayband "Teil des Labyrinths" beschrieb Inger Christensen frühe Kindheitserinnerungen, ihre ersten ästhetischen Erfahrungen. "Schon damals", meinte sie, "während sie geschahen, wurden sie zu dem, was ich erst jetzt nennen kann, zu drei Bildern: das Offene, endlos Schöne, das zweckfreie Energische, die beruhigende Gewissheit, etwas nicht alleine zu tun."
    Es sind die gleichen Empfindungen, Berührungen und Intensitäten, die – selbst über Jahrtausende hinweg – eine tiefe Gemeinsamkeit als menschliches Grundgefühl schaffen. Gefragt, was sie von Meteorologen oder anderen Wissenschaftlern wisse, antwortete Inger Christensen, dass sie alle gemeinsam jenen Geheimniszustand kennen. In ihm sei die Trennung zwischen Welt und Mensch plötzlich ausgelöscht, "so dass die Welt sich selbst durch das Bewusstsein des Menschen schreiben" könne.
    Auch wenn Inger Christensen all ihren wunderbaren Sätzen, Gedanken und Versen nun nichts mehr hinzufügen kann. Ihre Stimme - wie hier im "Schmetterlingstal" – bleibt anwesend.