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Dichterische Freiheit beim Holocaust

Es ist eine alte, hochproblematische Frage, um die Martels neuer Roman kreist. Sie lautet: Kann man den größten historisch verbürgten Schrecken – den systematisch durchgeführten Massenmord an den europäischen Juden – überhaupt künstlerisch verarbeiten?

Ein Beitrag von Gisa Funck | 07.06.2011
    Über Hitler, den Zweiten Weltkrieg und die Nazis allgemein spricht und schreibt es sich inzwischen ziemlich locker. Vor allem der "Führer" verkauft sich auch in Deutschland bestens - egal, ob als Roman, historischer Rückblick, Kino-Katastrophenfilm oder Hitler-Komödie. Angefangen bei Guido-Knopps-Fernsehdramen in MTV-Manier über Bernd Eichingers Leinwand-Spektakel "Der Untergang" bis hin zu Dany Levys Klamauk "Mein Führer" oder Walter Moers Kult-Comic "Adolf": Hitler ist längst zur launig-labilen Lachnummer geschrumpft, ohne dass sich darüber noch jemand aufregen würde.

    Ganz anders dagegen unser Umgang mit dem Holocaust. So verharmlosend und verulkend man heute einerseits öffentlich mit Hitler und dem Zweiten Weltkrieg umspringen darf, so schwer tut man sich weiterhin aus gutem Grund beim Reden über den millionenfachen Judenmord. Eine bitterböse KZ-Komödie wie Beninis "Das Leben ist schön" oder der sarkastische Comic "Maus" von Art Spiegelman sind hier immer noch die große Ausnahme. Oder, wie Henry, die Hauptfigur aus Yann Martels neuem Roman "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts", gleich zu Anfang seiner Geschichte feststellt:

    "In den vielen Jahren, die Henry nun schon Bücher las und Filme sah, war ihm aufgefallen, wie wenig tatsächlich Fiktives es über den Holocaust gab. Das Thema wurde so gut wie immer historisch, faktisch, dokumentarisch, anekdotisch, Zeitzeugen-haft, wortwörtlich behandelt. Grundtyp waren die Memoiren eines Überlebenden. (...) Und so fragte Henry sich: Warum dieses Misstrauen gegenüber der Phantasie? Warum dieser Widerstand gegen die künstlerische Metapher? Eine Arbeit wird zum Kunstwerk, weil sie wahr ist, nicht, weil sie realistisch ist."

    Henry hat auffallende Ähnlichkeiten mit seinem Schöpfer Yann Martel. Wie Martel ist auch er Schriftsteller und hatte einen Bestsellererfolg mit seinem letzten Roman, in dem Tiere die Hauptrolle spielten. Nun warten Verleger und Publikum auf Henrys nächstes Buch. Doch der ist gehemmt, weil er über den Holocaust schreiben möchte und merkt, wie tabuisiert das Thema ist. Also verfällt Henry auf die Idee, als Buch halb einen Roman, halb einen Essay zu veröffentlichen – was beim Verleger und den Buchhändlern aber gar nicht gut ankommt:

    "Essays sind langweilig", schnaubte der amerikanische Buchhändler, "gerade wenn es um die heilige Kuh Holocaust geht. (...) Und Ihre Idee, dass wir uns mit unserer ganzen Phantasie mit dem Holocaust beschäftigen sollen – Holocaustwestern, Holocaust-Sciencefiction, Holocaustkomödien über jamaikanische Bobschlittenfahrer – ich meine, was soll denn das?"
    Es ist eine alte, hochproblematische Frage, um die Martels neuer Roman kreist. Sie lautet: Kann man den größten historisch verbürgten Schrecken – den systematisch durchgeführten Massenmord an den europäischen Juden – überhaupt künstlerisch verarbeiten? Und wenn ja: Würde mehr dichterische Freiheit beim Thema uns tatsächlich helfen, Ausschwitz besser zu verstehen?

    Viele KZ-Überlebende wie Elie Wiesel bezweifeln das vehement. Und auch die meisten Schriftsteller halten sich bis heute an Wiesels These von der monströsen Einzigartigkeit des Holocausts, die von vorneherein jede Fiktionalisierung von Ausschwitz verbietet. Ein mehrheitlich akzeptiertes Bilderverbot, das Martel nun noch einmal neu hinterfragt, indem er zu einem Tiervergleich greift - wie übrigens auch schon in seinem erfolgreichen Vorgängerroman "Schiffbruch mit Tiger". Statt eines Tigers stehen diesmal ein Affe und eine Eselin im Mittelpunkt der Geschichte. Zweifellos zwei gewagte Symbolgestalten für verfolgte Juden, die Martels Parabel bei US-amerikanischen Kritikern auch prompt den Vorwurf der "Verharmlosung" eingebracht haben.

    Wahrscheinlich etwas zu voreilig. Denn leicht macht sich Martel seine Sache nicht, sondern er wählt eine ziemlich raffinierte Erzählkonstruktion, die gleich mehrere Handlungsstränge miteinander verknüpft. Da ist zunächst einmal die Rahmenhandlung von Henrys Scheitern als Schriftsteller, die eine unverhoffte Wendung nimmt. Nachdem sein Holocaust-Manuskript abgelehnt wurde, zieht Henry mit seiner Frau in eine andere Großstadt um und begegnet hier einem alten, grimmigen Tierpräparator. Dieser Kauz bittet ihn um professionelle Hilfe bei einem Theaterstück, an dem er angeblich schon sein Leben lang schreibt. Henry besucht den Alten in seinem Laden, in dem die ausgestopften Tiere bezeichnenderweise so lebendig wirken, als sei "die Zeit stehen geblieben." Es ist der symbolisch aufgeladene Ort einer mörderischen Vergangenheit, die nicht vergehen darf.

    Regelmäßig lässt sich Henry nun aus dem Theaterstück des Präparators vorlesen. So kommen die beiden Symboltiere ins Spiel: die Eselin Beatrice und der Brüllaffe Vergil. Natürlich nicht zufällig die Namen von Dantes Höllenbesuchern aus der Göttlichen Komödie. Denn beide sind schwer gefolterte, traumatisierte Tiere. Wie bei Beckett stehen sie an einer Landstraße, irgendwo im Nirgendwo - und leiden vor allem unter jener spezifischen Sprachlosigkeit, die auch die meisten Holocaust-Überlebenden beklagen. Deswegen kreisen die Dialoge von Eselin und Affe auch immer wieder um denselben Punkt: Kann es eine Sprache geben, in der sich ihre Leiden ausdrücken und damit vermitteln lassen? Eine Sprache also, die den Schmerz weder kleinredet noch ihn pathetisch überhöht?!

    "Beatrice: Wie sollen wir es nennen? Die Vorfälle?
    Vergil: Nicht deutlich genug.
    Beatrice: Das Undenkbare? Das Unvorstellbare?
    Vergil: Warum sollten wir uns dann überhaupt damit abgeben, wenn es undenkbar und unvorstellbar ist?
    Beatrice: Das Unbenennbare?
    Vergil: Wenn wir es nicht einmal benennen können, wie können wir dann darüber reden?
    (...)
    Beatrice: Das Grauen?
    Vergil: Schon besser.
    Beatrice: Gräuel, das ist noch besser. Die Gräuel. Mehrzahl.
    Vergil: Dann wollen wir es die Gräuel nennen.
    Beatrice: Gut. Und wie wollen wir nun über die Gräuel reden?"


    Martel lässt seine beiden Symboltiere im Roman noch einmal alle Argumente Für und Wider eine Ausschwitz-Fiktionalisierung durchdiskutieren. Bei ihm aber kommen Eselin und Affe ohne Metaphern nicht weiter. Um sich überhaupt ihr Leid von der Seele reden zu können, müssen Beatrice und Vergil die Sprachkonventionen sprengen und eigene Codes für das Erlittene finden. Allmählich erschaffen sie sich ein therapeutisches Zeichensystem. Spätestens hier kippt der leichtfüßige Sound des Buches ins Beklemmende um. Und man ahnt, wie brüchig und unverlässlich Worte angesichts grauenhafter Verbrechen werden. Von daher scheint es lange so, als wäre das Theaterstück des Präparators tatsächlich genau jene ästhetische Lösung einer zeitgemäßen Holocaust-Darstellung, nach der Henry als Schriftsteller so lange erfolglos gesucht hat. Umso verstörender wirkt dann jedoch die Pointe des Buches. Sie nämlich zeigt, wie schwer, ja - vielleicht wie unmöglich es nach wie vor ist, die Schrecken der Shoah zu bannen.

    Man kann Martels Roman, der neben Dante und Beckett auch Flaubert und Diderot zitiert, vielleicht allegorische Überfrachtung und ein Übermaß an Verweisen vorwerfen. Eines aber ist er ganz bestimmt nicht: verharmlosend. Im Gegenteil: Man könnte Martels Holocaust-Parabel als einen originellen, eindringlichen und überzeugenden Versuch lesen, wie man Ausschwitz heute – trotz aller berechtigter Zweifel – literarisieren kann.

    Yann Martel: "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts". Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S.Fischer Verlag, Frankfurt a. Main 2010, 206 Seiten, 18,95 Euro.