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Dichtung und Alter (2/2)

Was das hohe Alter, das eigene und das der anderen, für uns sein wird und welches Gesicht wir ihm zuwenden, hängt nicht zuletzt von den Deutungen und Beschreibungen ab, die wir von ihm geben.

Von Judith Klein | 11.09.2011
    Im Gefolge der demografischen Debatte und der Sorge um den "Pflegenotstand" hat sich in den letzten Jahren das öffentliche Interesse verstärkt auf die medizinischen und die finanziellen Implikationen des hohen Alters, insbesondere der Altersdemenz, gerichtet. Darüber hinaus haben zahlreiche Schriftsteller ihren an Demenz erkrankten Angehörigen autobiografische Erzählungen gewidmet, die eine lebendigere und ergreifendere Sprache sprechen als der öffentliche Diskurs, ihn ergänzend und überschreitend.

    John Bayley, Milena Michiko Flašar, Jonathan Franzen, Arno Geiger, Tilman Jens, Pierre Pachet und viele andere haben beschrieben, wie die Krankheit das Leben der Betroffenen verändert und Beistand erfordert. Sie haben davon berichtet, wie sehr der Umgang mit demenzkranken Angehörigen sie selbst aufwühlt und ihre Gewohnheiten und Sichtweisen erschüttert. Und sie haben sich bemüht, die weißen Flecken der Wissenschaft und des Alltagswissens zu besiedeln: Anders als diese befassen sie sich intensiv mit dem seelischen Leiden der Hochbetagten und dem Einfluss, den es auf ihre körperlich-physiologische und mentale Situation ausübt, wobei sie den Kranken selbst häufig das Wort geben.

    Mit all dem kommen sie – vielleicht ungewollt und indirekt – einem Wunsch des britisch-amerikanischen Neurologen Oliver Sacks entgegen, der dafür plädiert hat, die rigiden Fallbeschreibungen der Neurologen durch Erzählungen der Patienten über ihre existenziellen und emotionalen Nöte zu ersetzen. Es gelte, so Sacks, die Kranken in der realen Welt, inmitten ihrer konkreten Lebensbedingungen, Beziehungen und Handlungen wahrzunehmen und die Einzigartigkeit ihrer Erfahrung zu begreifen. In seinem Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte", das auch einige Berichte über Hochbetagte enthält, plädiert er für eine existenzielle Neurologie:

    "Die klassische Wissenschaft hat für das Konkrete keine Verwendung – in der Neurologie und Psychiatrie wird es gleichgesetzt mit dem Trivialen. Eine 'romantische Wissenschaft' ist erforderlich, um ihm gerecht zu werden und seine außerordentlichen Kräfte – und Gefahren – zu würdigen."

    Die Schriftsteller, die ihre hochbetagten dementen Angehörigen ein Stück weit begleiten oder sie sogar pflegen, berichten von der Verzweiflung darüber, dass nichts mehr so ist wie früher: Denken, Wahrnehmen, Erinnern, Empfinden von Raum und Zeit, Sprechen, Kommunizieren, Wiedererkennen, Handeln – alles ist beeinträchtigt oder zusammengebrochen, Stimmungen und soziale Verhaltensweisen sind außer Kontrolle geraten. Sie leiden mit den Kranken und durchleben darüber hinaus ihr eigenes Leid: Um sich ihren Angehörigen widmen zu können, müssen sie eigene Ziele aufgeben oder zurückstecken und sich Gegebenheiten anpassen, die ihnen nicht vertraut sind. Sie klagen über die "psychische Belastung", die "kräftezehrende Aufgabe" und die Kränkung, nicht mehr als Sohn oder Tochter erkannt zu werden. Sie fürchten um ihre Selbstachtung und Selbsterhaltung. Ihr Selbst begehrt auf.

    Eine Ausnahme stellt die österreichische Autorin Milena Michiko Flašar bzw. die Icherzählerin ihres 2010 erschienenen Buches "Okaasan. Meine unbekannte Mutter" dar: Sie klagt und jammert nicht; sie entdeckt einen verborgenen Sinn in scheinbar sinnlosen Handlungen der Mutter. Als diese plötzlich fast nur noch Japanisch, ihre Muttersprache, spricht, zeigt sich die Tochter nachsichtig und ist ihr sogar dankbar, denn auf diese Weise wird sie dazu gebracht, endlich Japanisch zu lernen.

    Indessen finden auch diejenigen Töchter, Söhne oder Gefährten, die an der Situation verzweifeln, aus ihrem Zerrissensein zwischen Aufopferung und Selbsterhaltung heraus: Sie beschließen, über ihre Erfahrung zu schreiben, was die Situation vollkommen verändert. Das Notizheft, das sie begleitet, wird zum Symbol des anderen, des intellektuellen Lebens, dem es gelingt, sich im Angesicht des Wahns zu behaupten. Die Klagen werden zu einem Überrest aus der Vorzeit: der Zeit vor der Niederschrift der Geschehnisse. Durch die Niederschrift verwandelt sich die geopferte Zeit in gewonnene Zeit.

    Manche weiten ihr Ziel noch aus: Es geht ihnen nicht nur darum, einschneidende Erfahrungen in Worte zu verwandeln, sie möchten außerdem neue Erkenntnisse gewinnen und sie den Menschen mitteilen. Dieses Motiv deutet der Schriftsteller Pierre Pachet in seinem 2007 erschienenen Buch "Devant ma mère" (Vor meiner Mutter) an, das vom mentalen Verfall der fast hundertjährigen Mutter berichtet:

    "Ich möchte erreichen, dass meine Beschreibung dessen, was ich vom Niedergang ihrer Gegenwart in der Welt mitbekomme, einen positiven Ausgleich findet. Wie man seinen Körper der Wissenschaft vermacht, möchte ich meiner Mutter dazu verhelfen, eben diesen Niedergang dem Wissen zu vermachen. Diese Chronik soll ihr und mir ermöglichen, die Struktur des geistigen Lebens zu erhellen und die Art und Weise aufzuzeigen, wie unser Geist (...) es schafft, ein stabiles Bild der Realität der Welt auszubilden, und uns erlaubt, darin zu wohnen."

    Die Dichter, die sich in die Empfindungen ihrer an Demenz erkrankten Angehörigen einfühlen, sind sich dessen bewusst, dass ihre Beschreibungen Fragen aufwerfen und Zweifel nahelegen. Sie fühlen und geben sich nicht als Sprachrohr der Dementen. Sie lauschen auf jedes ihrer Worte und jeden Satzfetzen, sie geben Obacht auf Gesten und Gefühlsregungen, auf Vorkommnisse und Verwandlungen. Statt endgültiger Behauptungen liefern sie Vermutungen und Hypothesen, persönliche Lesarten, die andere Lesarten nicht ausschliessen.

    Sie bringen ihre eigenen Befürchtungen zur Sprache, darunter die, ihre kranken Angehörigen könnten ihre "Einzigartigkeit" verlieren, diese könnte "in den – allen gemeinsamen – Symptomen der Krankheit" untergehen, wie John Bayley in seinem 1999 im englischen Original erschienenen Buch "Elegy for Iris" (Elegie für Iris) schreibt. Die Furcht vor den "Identitätsveränderungen" lastet umso stärker auf ihnen, als die Krankheit alles zu verändern scheint; doch schließlich stellen sie erleichtert fest, dass die Furcht weitgehend unbegründet ist. Sie merken, dass ihre Angehörigen – ist ihre Ausdrucksmöglichkeit auch beschnitten, ihre Wahrnehmung getrübt, ihr Erinnerungs- und Denkvermögen beeinträchtigt und ihr soziales Verhalten gestört – Teile ihres früheren Ichs bewahrt haben; sie spüren, dass zwischen einst und jetzt keine unüberbrückbare Kluft klafft, zumal es an ihnen selbst liegt, die Kontinuität zu gewährleisten und zu fühlen.

    Zuweilen treten die individuellen Persönlichkeitsmerkmale der an Demenz Erkrankten sogar stärker denn je hervor, und sei es nur, weil soziokulturelle Determinanten wie Herkunft, Berufs-, Schicht- und Religionszugehörigkeit sich abgeschliffen haben, zuweilen dauern bestimmte Züge fort, während andere verschwinden. John Bayley schreibt über Iris Murdoch:

    "Die Krankheit, die Wesenszüge so sehr betonen kann, dass es fast einer teuflischen Parodie gleicht, hat es in ihrem Fall nur geschafft, ihre natürliche Güte zu verstärken."

    Als die Wörter für Iris Murdoch ihre herkömmliche Bedeutung einbüßen und der Gefährte ihre Satzbruchstücke nicht mehr entschlüsseln kann, bleibt ihm das gewohnte liebevolle Scherzen und Necken als Brücke hin zu der Kranken:

    "Humor scheint alles zu überleben. Ein Lachen, ein paar Knittelverse, die Bruchstücke eines Liedes, neckender Unsinn, dessen liebevoller Austausch früher ein Ritual war, rufen eine unvermutet positive Reaktion und ein plötzliches, strahlendes Lächeln hervor. (...) Ihr Lächeln verwandelt ihr Gesicht, macht es wieder zu dem, was es einmal war, aber mit einem zusätzlichen Leuchten, das fast übernatürlich wirken kann."

    Auch der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen stellt in der Erzählung "My father's brain" (Das Gehirn meines Vaters) – Teil der Essay-Sammlung "How to be alone" (Anleitung zum Einsamsein) aus dem Jahre 2002 – die Frage nach der Fortdauer individueller Charakterzüge und Verhaltensweisen inmitten der Demenz. In der Art, wie sein Vater lacht und gähnt, und in der Form seines Körpers entdeckt er solche Prägungen, insbesondere seine Willenskraft:

    "Wenn er gähnte, war es sein Gähnen. Und auch sein Körper war, wie zurückgebildet auch immer, noch strahlend seiner. Selbst als die verbleibenden Teile seines Ichs noch kleiner und fragmentierter wurden, betrachtete ich ihn weiterhin hartnäckig als ein Ganzes. Noch immer liebte ich, ganz spezifisch und individuell, den Mann, der da in dem Bett gähnte. Und wie konnte ich aus dieser Liebe nicht Geschichten bilden – Geschichten eines Mannes, dessen Wille intakt genug geblieben war, dass er das Gesicht wegdrehte, wenn ich versuchte, ihm den Mund mit einem feuchten Lappen abzuwischen?"

    Behutsam entziffern die Angehörigen jedes über das Gesicht der Kranken huschende Lächeln, jedes Zeichen eines Wiedererkennens, jedes kurz auftönende Lachen. Milena Michiko Flašar schreibt:

    "Das Sterben meiner Mutter begann mit einem silbernen Lachen. (...) Auch heute, wenn es ihr gut geht, kann sie mit einem Lächeln ein Stück unserer alten Welt wiederherstellen."

    Fragil und ephemer stellen sich verloren geglaubte oder nie gespürte Gefühle der Vertrautheit und Intimität ein, wenn die Mutter oder der Vater die Hand des Sohnes oder der Tochter ergreift und festhält oder wenn für einen kurzen Moment Erinnerungen geteilt werden. Der Abschied berührt und prägt sich ein. Tilman Jens schreibt in seinem 2009 erschienenen Buch "Demenz. Abschied von meinem Vater":

    "Als ich aufbreche, stehst Du hinter dem Zaun und winkst mir hinterher. Dieses Bild, mein Lieber, wird bleiben."

    Beruhigt, ja getröstet stellt der Autor fest, dass sein Vater, Walter Jens, den die Krankheit von seinen früheren schriftstellerischen Tätigkeiten abgeschnitten hat, noch Freude erfährt: bei den Besuchen auf dem Bauernhof seiner Pflegerin, beim Spazierengehen, beim Essen eines "Weckles" am Ende des Tages.

    Ein bekannter Sprachforscher äußerte im Jahre 2003 sein Bedauern darüber, dass sprachliche Auffälligkeiten des hohen Alters in der medizinischen Diagnostik "noch immer (eher) als Randphänomen" angesehen würden.

    Die Dichter – schon immer der Sprache verschrieben – widmen gerade diesen Auffälligkeiten besondere Aufmerksamkeit. Sie sammeln die wie Goldstaub herbeiwehenden Wörter ihrer dementen Angehörigen, finden an ihnen zuweilen poetisch Gefallen, nennen sie Perlen, Schmuckstücke, Reliquien oder Weisheiten.

    Arno Geiger, der jedem Kapitel seines 2011 erschienenen Buches "Der alte König in seinem Exil" einen kurzen Dialog zwischen Sohn und Vater vorangestellt hat, ist fasziniert von dessen sprachlichen Funden. Der Vater, weder Schriftsteller noch Intellektueller, gibt Sätze von sich, "bei denen einem vor Staunen die Luft wegbleibt", schreibt der Autor, als so fantasievoll und poetisch empfindet er sie:

    "Ich fühlte mich in Berührung mit dem magischen Potenzial der Wörter. James Joyce hat von sich gesagt, er habe keine Fantasie, überlasse sich aber einfach den Offerten der Sprache. So kam es mir auch beim Vater vor."

    Der Vater sagt: "Ich bin einer, der nichts zu melden hat. Da ist nichts mehr zu machen." Und der Sohn stellt fest:

    "Es waren Sätze wie dieser, die auch ein Held von Franz Kafka oder Thomas Bernhard gesagt haben könnte, ich dachte mir, da haben sich zwei gefunden, ein an Alzheimer erkrankter Mann und ein Schriftsteller. In "Frost" lässt Thomas Bernhard seinen Protagonisten sagen: 'Aber ich bin tief unfähig, ganz tief unfähig.'"

    Mag den Lesenden und Hörenden da vor Staunen die Luft wegbleiben, solche Vergleiche sind Ausdruck des Bedürfnisses nach Trost und Kompensation. Zugleich zeigen sie: Die Demenz der Hochbetagten hält Überraschungen bereit, die den Schmerz über ihre Situation lindern. Von solchen Überraschungen berichtet auch Jacques Derrida in dem ihm selbst gewidmeten Portrait. Am Krankenbett seiner hochbetagten Mutter, die ihn nicht mehr erkennt, wie er meint, jedenfalls seinen Namen nicht mehr weiß oder nicht mehr aussprechen kann, lauscht er ihren "letzten mehr oder weniger verständlichen Sätzen" – darunter ein Satz voller Kühnheit, der die Nacht "durchschlägt" und den Schmerz in dem Moment fast vergessen lässt, da er vielleicht am größten ist. Auf die Frage "Tut dir was weh?" sagt die Mutter: "Ich hab' Weh an meiner Mutter." Ein kurzer Satz, der – so der Philosoph – mehrere Deutungen zulässt:

    "Als ob sie an meiner Stelle spräche und zugleich doch auch zu mir hin."

    Die Doppeldeutigkeit und die Verdoppelung der Identität fasziniert den Philosophen, reißt ihn fast aus seiner Traurigkeit, zumal Liebe und Empathie in beiden Deutungen spürbar sind.

    Der Schriftsteller Pierre Pachet gewinnt der zerrütteten Sprache seiner fast hundertjährigen Mutter, der es unmöglich zu sein scheint, nicht zu sprechen, und aus deren Mund unablässig ein chaotischer Wortschwall quillt, zunächst freundliche, ja tröstliche Seiten ab. Sie ergreife, so stellt er fest, das, was zu ergreifen ihr noch möglich sei: Wörter – zunehmend aus ihrer russischen Muttersprache. Sie freue sich daran, noch etwas handhaben zu können, das der gemeinsamen Welt entspringe.

    Dabei versprechen die aus ihr hervorquellenden Wörter und Satzfetzen weder wechselseitige Aussprache noch einseitige Erleuchtung; sie sind zu Dingen geworden, die unabhängig von den Ereignissen der Welt existieren und Stimmungen oder Vorgänge aus dem Inneren des Körpers auszudrücken scheinen.

    Der Schriftsteller beschreibt, wie seine Mutter reale und fantasierte Ereignisse, Erinnerungen und Träume, Verwandte, Bekannte und Fremde, ja sich selbst und ihn, den Sohn, verwechselt. Er muss einsehen, dass sie den Vorgang des Wiedererkennens nicht mehr beherrscht, der die doppelte Einsicht impliziert: "Du bist es, und ich bin ein Anderer als du."

    "Sie war jetzt von der Realität radikal abgeschnitten, sie war von sich selbst als konkreter Person abgeschnitten (...) und zugleich wie besessen von den Überbleibseln einer Sprache, die ihr entglitt und sich auflöste."

    Alle hier genannten Autoren kennen die hirnorganischen Grundlagen der Demenz: Schlaganfälle, Tumoren, Ablagerungen in den Nervenzellen, neurofibrilläre Knäuel ... So führt auch Pierre Pachet das Syndrom seiner Mutter – die chaotische Übersteigerung des Sprechens – auf eine organische Grundlage zurück:

    "Mit Sicherheit sind im Laufe der Jahre Hirnfunktionen beschädigt worden, vielleicht bei zerebralen Infarkten, bei einem kleinen Schlaganfall."

    Doch Pachet geht weiter; er hat sich zum Ziel gesetzt, den weißen Fleck zu bearbeiten, den die wissenschaftliche Analysen gewöhnlich aussparen, nämlich die Frage nach den existenziellen und emotionalen Hintergründen der Demenz: Wie ist die "intellektuell wache und humorvolle Frau", die seine Mutter einst war, zu einer Person geworden, die unablässig Sätze und Satzfetzen hervorstößt? Um die Frage zu beantworten, stellt er sich vor, was sich während der vielen Jahre und Tage zugetragen hat, in denen die Mutter nach dem Tod ihres Mannes allein lebte; er formuliert die Hypothese:

    "Aufgrund ihrer Einsamkeit verlor sie den Sinn für die Realität der Anderen, für die Alterität. Dabei blieb aber ihr Bedürfnis nach Dialog und Gespräch erhalten: Sie begann, die verschiedenen Rollen der Gesprächsteilnehmer zu übernehmen."

    Es sieht wie ein Spiel aus, und ist doch kein Spiel, sondern eine ernste, ja eine philosophische Angelegenheit:

    "Als ob im Menschsein etwas läge, dessen Last zu schwer ist, um von einem Einzelnen getragen zu werden. Man ist bereit, die Hauptlast, ja fast das Ganze Gewicht, zu tragen; doch andere sollen sich beteiligen, so dumm oder grob sie auch sein mögen, und einen kleinen Teil dieser Last des Menschseins auf sich nehmen.
    Man wünscht sich ihre Anwesenheit und sei sie stumm, ihren Besuch. Oder die Anwesenheit eines Tieres, mit seiner Beweglichkeit, seiner Unvorhersehbarkeit, seinen Begierden, seiner besonderen Art, anders zu sein als man selbst."


    Der alten Mutter bleibt nichts übrig, als sich selbst Gesellschaft zu leisten und die Wörter, die sie in sich trägt, an sich selbst zu richten. Die Notlösungen verwandeln sich in Not und scheinen der Demenz Vorschub zu leisten:

    "Indem sie sich immer stärker diesem gefährlichen Spiel hingab, hat sie sich – so scheint mir – entpersönlicht oder aufgehört, ihre Sprache persönlich zu bewohnen. (...) Sie hat die Gewohnheit angenommen, jemandem zu antworten, der nicht sie ist, dessen Stelle sie aber einnimmt – und gleichzeitig hat sie aufgehört, diejenige zu sein, die sie war. Sie ist – von seltenen Augenblicken abgesehen – zu einem Raum geworden, in dem Wörter vorbeiziehen, die sie kennt und die sie an sich zieht. ( ... ) Bei ihr spricht die Sprache aus Einsamkeit und Verzweiflung zu sich selbst eine zerrüttete Sprache."

    Pachets Buch fand in Frankreich Anklang: als eine einfühlsam geschriebene, ergreifende Geschichte und als Beitrag zum Verständnis der Demenzkrankheit.
    Ein solches Verständnis strebt auch Jonathan Franzen an, dessen Erzählung "My father's brain" einige Jahre zuvor erschienen war. Er benennt ebenfalls zunächst die organischen "Grundlagen" der Krankheit, wie er sie der "Kopie des neuropathologischen Berichts der Gehirnautopsie" seines Vaters entnehmen kann, die seine Mutter ihm geschickt hat:

    "Teile der (...) Großhirnrinde wiesen vielerorts senile Plaques (...) auf, dazu eine minimale Anzahl neurofibrillärer Knäuel. (...) Wie Millionen anderer Amerikaner hatte mein Vater Alzheimer.

    Das war seine Krankheit. Es war, könnte man sagen, auch seine Geschichte."


    Um die Vorgeschichte der Demenz seines Vaters zu erhellen, wird der Schriftsteller einen Blick auf seine Lebensgeschichte werfen, und das heißt: sein Gefühls- und Geistesleben mit den persönlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Verbindung bringen. Die rein organische Sicht der Demenzkrankheit lehnt er aus zwei Gründen ab: Erstens widerstrebt es ihm, seinen leidenden Vater als "Bündel organischer Symptome" zu sehen und seine Persönlichkeit auf "eine endliche Reihe neurochemischer Koordinaten" zu reduzieren. Zweitens erkennt er, dass durch die rein organische Sicht gleichsam die Möglichkeit des Erzählens erstickt wird: "Wer will schon so eine Lebensgeschichte?", fragt er und deutet eine entscheidende Voraussetzung des Erzählens an:

    "Der Wunsch, unauslöschlich aufzuzeichnen, Geschichten in unvergänglichen Wörtern niederzulegen, scheint mir verwandt mit der Überzeugung, dass wir mehr sind als unsere biologischen Prozesse."

    Schließlich entdeckt er eine Bedeutung der Krankheit, der kein neuropathologischer Bericht gerecht werden kann. Als der Vater nach einem kurzen Thanksgiving-Aufenthalt zu Hause in das Pflegeheim zurückgebracht wird, in dem er seit zehn Monaten lebt, verschlimmert sich sein Zustand deutlich:

    "Am Morgen nach Thanksgiving und für den Rest unseres Besuchs war er wieder so verwirrt, wie ich ihn zuvor erlebt hatte, was er sagte, ein Kuddelmuddel wahlloser Silben, sein Körper ein einziges Gefuchtel."

    Der Sohn deutet diesen Zusammenbruch als "Annehmen des Wahnsinns angesichts unerträglich werdender Gefühle" und als Beleg dafür, dass die Symptome der Demenz nicht unabhängig von Hoffnungslosigkeit, Enttäuschung und Demütigung verstanden werden können.

    Man ist an den Satz erinnert, den der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy seinem Buch "Die Hilfsverben des Herzens", das der letzten Lebenszeit der Mutter gewidmet ist, vorangestellt hat:

    "Sprechen kann, wer hoffen kann, und umgekehrt."

    Auch Émile M. Ciorans Feststellung, dass "allzu heftig beißender Schmerz" die Sinne lähme und zu Schwachsinn oder zu Heiligkeit führe, kommt einem in den Sinn.

    Wie sich Pierre Pachet das Ziel setzt, einen Beitrag zur Kenntnis des geistigen Verfalls und also des geistigen Lebens zu leisten, so bekennt Jonathan Franzen:

    "Uns was ich will – Geschichten über das Gehirn meines Vaters, die nicht von einem Klumpen Fleisch handeln –, ist ein integraler Bestandteil dessen, woran ich mich erinnern und was ich weitergeben möchte."

    Unter den Schriftstellern gibt es indessen einige, die sich mit einem ausschliesslich körperlich-physiologischen Zugang zur Demenzkrankheit zufriedengeben und allein auf die "Schnittbilder" des Gehirns und dessen organische "Zerstörung" setzen, um die Krankheit zu verstehen. Sie lehnen jedes andere "Erklärenwollen" ab und nehmen zu Begriffen wie Schicksal oder Katastrophe Zuflucht. So konstatiert Arno Geiger in einem Interview:

    "In der griechischen Tragödie gibt es den Begriff des Schicksals: Etwas kommt auf uns zu, und wir sind nicht stark genug, uns dem entgegenzustellen. Auf die einen kommt es zu und auf die anderen nicht. Mehr ist dazu nicht zu sagen."

    Pierre Pachet und Jonathan Franzen haben mehr dazu zu sagen, ebenso Tilman Jens, der mit seinem Buch "Demenz. Abschied von meinem Vater" den Horizont weit öffnet. Wie jene leugnet er keineswegs die hirnorganischen Grundlagen von Demenz, doch wie sie wendet er sich darüber hinaus der Lebensgeschichte zu, insbesondere bestimmten Vorfällen in der Biografie seines Vaters, des Schriftstellers Walter Jens.

    Im Jahre 2002 entdeckte ein Literaturwissenschaftler – im Zusammenhang mit Recherchen für ein Germanistenlexikon – in einem Berliner Aktenkeller eine Karteikarte, auf der die NSDAP-Mitgliedschaft von Walter Jens verzeichnet war. Dieser wurde kontaktiert und zu der Angelegenheit befragt; seiner Familie gegenüber schwieg er, bis die Sache über ein Jahr später publik wurde:

    "Er hat über ein Jahr im Bewusstsein gelebt, dass ihn alsbald dies für immer vergessen geglaubte Kapitel seiner Vergangenheit einholen werde."

    Tilman Jens versetzt sich in die Lage seines Vaters und beschreibt die Erschütterung, die das Geschehen in dessen Innerem hervorrufen musste; er erwähnt sein Versteckspiel, sein Manövrieren, sein Gehetztsein. Er stellt die legitime Frage, ob das beschämende, das schmerzliche Ereignis und die Krankheit verknüpft sein könnten, er richtet sie an ein "Du", das den Vater meint:

    "War es wirklich ein Zufall (...), dass Dich das große Vergessen, die Demenz, der heimtückische Nebel, so hat es John Bayley gesagt, just in dem Augenblick überkam, als ein philologisches Fachlexikon die Existenz der NSDAP-Mitgliedskarte 9265911 offenbarte?"

    Etwa zur gleichen Zeit tauchte der Text einer von völkischem Gedankengut durchdrungenen Rede auf, die der Student Walter Jens im Jahre 1942 vor der studentischen Hamburger Kameradschaft über die deutsche Literatur gehalten hatte. Rückblickend fragt der Sohn:

    "Wie müssen diese Kampfparolen aus eigenem Mund meinen alten, friedliebenden Vater treffen. Hat er den Text wirklich vergessen? Er könne sich dunkel erinnern, sagt er. Und er sagt auch, dass es schrecklich wäre, wenn dies Fundstück aus einem Hamburger Privatarchiv publik würde. (...) Für einen wie ihn, dem Literatur zum Leben diente und der die Bücher zeitlebens zumindest ebenso ernst nahm wie die Menschen, war dieser Zusammenprall mit der eigenen Vergangenheit, die Kollision auf ureigenem Terrain vermutlich schmerzhafter noch als die Geschichte mit dem elenden Wisch."

    In der Wochenzeitung "Die Zeit" wurde diese gedankliche Verknüpfung zwischen dem "Zusammenprall mit der eigenen Vergangenheit" und der Entwicklung der Demenzkrankheit folgendermaßen kommentiert:

    "Dieser Gedanke ist so abwegig, so weit entfernt von jeder medizinischen Vernunft, dass man ihn – lässt man seinen verleumderischen Kern für einen Augenblick außer Acht – fast schon literarisch nennen kann."

    Andere Rezensenten wiesen Tilman Jens behutsames Fragen empört, ja höhnisch zurück. Sie verdrehten und verstümmelten seine Aussagen, die als belanglose Kulturkritik oder als "pseudopolitisches Geplänkel" abgetan wurden. Sie beschuldigten ihn, seinen Vater zu "denunzieren" und indirekt sogar alle Demenzkranken für die eigene Krankheit schuldig zu sprechen; von "Abrechnung mit dem Vater" war die Rede – und dies, obwohl amerikanische, britische und französische Autoren längst entdeckt hatten, dass mentale und emotionale Erschütterungen Einfluss auf den Verlauf – ja auf das Entstehen – der Demenzkrankheit nehmen, dass das Gehirn kein "Klumpen Fleisch", keine "computerartige Maschine" und der Mensch kein "Bündel organischer Symptome" (Franzen) ist.

    Der mediale Aufschrei bei Erscheinen des Buches von Tilman Jens offenbarte ein erstaunliches Phänomen: Für andere Lebensalter als das hohe Alter gehen Wissenschaft, Dichtung und Alltagsverstand wie selbstverständlich davon aus, dass einschneidende Lebenserfahrungen – Enttäuschung und Einsamkeit, Gewissensqual und Reue, Schock und Scham, Verfolgung und Vernichtung – auf Psyche und Geist wirken, ja sie zerrütten können. Die Weltliteratur erzählt von diesen Zusammenhängen: Man denke nur an die Dramen von Shakespeare, an Romane von Dostojewski und Tolstoi, an Erzählungen von Maupassant und Flaubert, und – uns näher – an den Roman "Eine Reise" von H.G. Adler oder an die Autobiografie von Amos Oz.

    Etliche Kulturschaffende scheinen jedoch von der seltsamen Annahme auszugehen, dass qualvolle existenzielle und emotionale Erfahrungen im hohen Alter keine mentalen und psychischen Auswirkungen und diese wiederum keine organisch-physiologischen Implikationen – Voraussetzungen und Folgen – haben, als seien im hohen Alter nicht nur Geist und Körper voneinander, sondern beide auch von den Ereignissen und Begleitumständen des Lebens getrennt.

    Man scheint vielfach nicht einmal zur Kenntnis genommen zu haben, dass Neurologen inzwischen von der sogenannten "negativen Plastizität" des Gehirns überzeugt sind: Demnach kann ein Hirn-Abbau durch mangelnden oder mangelhaften Gebrauch der Nervenzellen und ihrer Vernetzungen verursacht werden.

    Die Schriftsteller sind noch einen Schritt weiter gegangen. Sie haben – und sei es indirekt – die "positive Plastizität" des Gehirns der Hochbetagten dargestellt, welche bewirkt, dass Schocks, Traumata, Enttäuschungen und Trauer Spuren hinterlassen.

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