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Die abgebrochene Konzertreise

Die neue Platte folgt heute den Spuren einer wirklich ungewöhnlichen Konzertreise und erinnert an ein Ensemble und an eine Musikidee, die heute fast in Vergessenheit geraten sind. Obwohl kein Geringerer als Sergej Prokofjew dafür komponiert hat, und zwar seine populäre "Ouvertüre über hebräische Themen".

Von Ulrike Gondorf |
    " Musikbeispiel: Prokofjew, Ouvertüre über hebräische Themen "

    Im Herbst kam das jüdische Ensemble Zimro nach Amerika. Es bestand aus einem Streichquartett, einem Klarinettisten und einem Pianisten. Sie baten mich, für sie eine Ouvertüre für sechs Instrumente zu schreiben, und gaben mir ein Heft, in dem jüdische Melodien aufgezeichnet waren. Ich habe dieser Ouvertüre nicht viel Bedeutung beigemessen, sie hatte aber ziemlichen Erfolg.

    Das Ensemble Zimro und die Komponisten seines Umkreises portraitiert die CD, die als Co-Produktion mit dem SWR bei Hänssler Classic erschienen ist. Der findige Kopf dahinter ist wieder der Pianist Jascha Nemtsov, der das Repertoire und die Geschichten der Komponisten ausgegraben hat. Seinen unermüdlichen Recherchen verdanken wir schon fünf CDs - alle bei Hänssler Classic - die nicht nur nahezu unbekannte und sehr hörenswerte Kammermusik aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vorstellen, sondern auch ein wenig erforschtes Kapitel aus der Frühzeit der musikalischen Moderne für die Ohren erschließen: Sie dokumentieren nämlich das Wirken der Petersburger "Gesellschaft für jüdische Volksmusik", die 1908 von Studenten gegründet wurde. Die gerade erschienene CD "a broken concert tour - die abgebrochene Konzertreise" präsentiert Werke, die für das Ensemble Zimro geschrieben worden sind. Sein Name bedeutet "Gesang", und es hat sich 1918 unter dem Dach dieser Gesellschaft formiert. Initiator war der Klarinettist Simeon Bellison. Seinen Part übernimmt auf der CD der israelische Musiker Chen Halevi, in die musikalischen Rollen seiner Mitstreiter von damals schlüpfen heute das Vogler-Quartett und eben der Pianist Jascha Nemtsov.

    " Musikbeispiel: Bellison/Achron - aus: "Scher""Scher" - ein jüdischer Volkstanz, komponiert von Joseph Achron und für die Sextett-Besetzung von Zimro bearbeitet von dessen Begründer, dem Klarinettisten Simeon Bellison. Als die sechs Musiker 1918 - kurz nach der Revolution und mitten in den Wirren des russischen Bürgerkriegs - zu ihrer kühn geplanten Tournee aufbrachen, gab es erst wenig Repertoire für ihr Sextett, und so bestellten sie viele neue Stücke. Sie verstanden sich als Botschafter der russisch-jüdischen Musik und wollten sie auf einer monatelangen Reise bis nach Palästina tragen: Von Petersburg reisten sie durch den Norden Russlands über den Ural und durch Sibirien, fuhren mit der transsibirischen Eisenbahn bis nach China, gaben Konzerte in Singapur und in Indonesien, bis sie - über ein Jahr nach ihrer Abreise - schließlich die Überfahrt in die USA antraten.

    Höhepunkt der Tournee wurde ein triumphales Konzert in der Carnegie Hall - dort aber fand die Reise dann auch einen vorzeitigen Abschluss. Simeon Bellison wurde vom Fleck weg engagiert als Erster Soloklarinettist der New Yorker Philharmoniker, und auch seine Kollegen wurden von großen Orchestern abgeworben. Palästina musste warten, blieb aber ein Sehnsuchtsziel. "In Jerusalem" heißt der letzte Satz der "Palestinian Suite" von Julius Chajes. 1946 schrieb der Komponist, der aus Lemberg stammte und über Wien nach New York gekommen war, für Simeon Bellison und sein Ensemble. Den Satz "In Jerusalem" spielen jetzt Chen Halevi, das Vogler Quartett und Jascha Nemtsov.

    " Musikbeispiel: Julius Chajes - ‚In Jerusalem' aus: "Palastinian Suite"

    Der israelische Klarinettist Chen Halevi startete seine Karriere ebenso Aufsehen erregend wie Zimro-Gründer Simeon Bellison. Der spielte 1890 schon als Neunjähriger Klarinette in der Militärkapelle seine Vaters in Smolensk, bis ein Musikprofessor vom Moskauer Konservatorium ihn auf einer Reise zufällig hörte und ihm spontan einen Studienplatz bot. Halevi war 15, als er mit dem Israel Philharmonic unter der Leitung von Zubin Mehta ein sensationelles Debüt gab. Er lebt heute in Paris, engagiert sich in besonderem Maße für zeitgenössische Musik und unterrichtet auch als Professor an der Musikhochschule in Trossingen. Fülle und Wärme und das freie Strömen seines Tons kommen in den sehnsüchtig-elegischen Klangbildern, die diese CD enthält, wunderbar zur Geltung. Aber er weiß auch andere Charakterzüge seines Instruments virtuos auszudrücken: das geschwinde Parlando, das lebhafte Temperament, den Humor, den die Komponisten oft der Klarinette beigelegt haben. Ein Mikrokosmos all dieser Stimmungen und Ausdrucksmöglichkeiten ist die "Children's Suite" - die "Kindersuite", die Joseph Achron 1925 komponiert hat. Ich möchte Ihnen eine kleine Satzfolge daraus vorstellen: Den Marsch der Spielzeuge, das Schlaflied für ein Hündchen, die Vögelchen, die Aufziehpuppen und das Klagelied über ein zerbrochenes Spielzeug.

    " Mube: Joseph Achron - 5 Sätze aus "Children's Suite" "

    Ein Ausschnitt aus der "Children's Suite" von Joseph Achron. Der Pianist Jascha Nemtsov hat sie in den Mittelpunkt der Musikauswahl aus dem Repertoire des Ensembles Zimro gestellt, die er mit dem Klarinettisten Chen Halevy und dem Vogler-Quartett zusammen eingespielt hat. Die Hörprobe dokumentiert, was Werke wie Interpretationen dieser CD auszeichnet: ein großer Reichtum an Kontrasten und Farben, Frische und musikantischer Elan, Spannung und Expressivität. Achron war wohl der bedeutendste Musiker, der die Ideen der Petersburger Gesellschaft für neue jüdische Volksmusik in die USA trug, jedenfalls war er der einflussreichste. Er war 1925 nach New York gekommen und prägte das Musiklebens in der bedeutendsten Synagoge der Stadt. Neben Prokofjew, Achron und Chajes stellt die CD noch Musik von Grigorij Krejn und Mitya Stillman vor. Hier noch ein kurzer Eindruck aus der Phantasie über ein chassidisches Thema, dem einzigen publizierten Werk des früh verstorbenen Mitya Stillman, der aus Kiew nach New York gekommen war.

    " Musikbeispiel: Mitya Stillman - Phantasie über ein chassidisches Thema (Ausschnitt) "

    Lauter Entdeckungen, auf die man sich freuen kann, bietet die CD "Zimro - a broken concert tour", erschienen bei Hänssler Classic. Denn Kammermusik in unkonventionellen Besetzungen wie diese Sextette für Klarinette, Klavier und Streichquartett ist selten anzutreffen auf den Konzertprogrammen. Mit spürbarem Engagement werben der Pianist Jascha Nemtsov, der die Auswahl getroffen hat, der Klarinettist Chen Halevy und das Vogler-Quartett für diese Raritäten, hinter denen man auch noch ein interessantes Kapitel Musikgeschichte entdecken kann. Einen angenehmen Pfingstfeiertag wünscht Ihnen Ulrike Gondorf.