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Die alphabetische Ordnung

''Die alphabetische Ordnung'' hat aus verschiedenen Gründen etwas mit meiner Geschichte zu tun: Einerseits, weil ich ein leidenschaftlicher Leser von Wörterbüchern und Enzyklopädien bin. Meines Erachtens steckt hinter jeder Enzyklopädie ein Romanprojekt, ein im besten Sinn des Wortes verrücktes Vorhaben: eine ganze Welt in ein Buch zu stecken, was man auch den totalen Roman nennen könnte (...) Andererseits hat mich die alphabetische Ordnung wegen ihrer Unveränderlichkeit fasziniert. Bislang hat sie niemand in Frage gestellt und noch hat niemand gesagt, dass das B vor dem A stehen müsse. Dieser Konsens hinsichtlich der alphabetischen Ordnung ist schon kurios, wenn wir uns vor Augen halten, dass der Mensch sich ständig im Dissens zu allen möglichen Ordnungen befindet.

Margrit Klingler-Clavijo |
    ''Die alphabetische Ordnung'' hat aus verschiedenen Gründen etwas mit meiner Geschichte zu tun: Einerseits, weil ich ein leidenschaftlicher Leser von Wörterbüchern und Enzyklopädien bin. Meines Erachtens steckt hinter jeder Enzyklopädie ein Romanprojekt, ein im besten Sinn des Wortes verrücktes Vorhaben: eine ganze Welt in ein Buch zu stecken, was man auch den totalen Roman nennen könnte (...) Andererseits hat mich die alphabetische Ordnung wegen ihrer Unveränderlichkeit fasziniert. Bislang hat sie niemand in Frage gestellt und noch hat niemand gesagt, dass das B vor dem A stehen müsse. Dieser Konsens hinsichtlich der alphabetischen Ordnung ist schon kurios, wenn wir uns vor Augen halten, dass der Mensch sich ständig im Dissens zu allen möglichen Ordnungen befindet.

    Die alphabetische Ordnung nennt der spanische Journalist, Erzähler und Romancier Juan José Millás seinen 1999 zuerst in Spanien erschienen Roman, der ein virtuoses Spiel mit der Sprache und verschiedenen Realitätsebenen ist. Juan José Millás ist im deutschen Sprachraum bislang nur einer kleinen Schar von Insidern bekannt. Dagegen wird er in Spanien von einer breiten Leserschicht geschätzt, nicht zuletzt dank seiner Reportagen, hauptsächlich jedoch wegen seiner Freitagskolumne in der Tageszeitung EL PAIS. Bei deren Lektüre kann man sich das Lachen kaum verkneifen, weil Juan José Millás die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die Ungereimtheiten und Absurditäten des Großstadtalltags lenkt, stets von der Sprache ausgehend, Sitten und Gewohnheiten hinterfragt, wobei er sich als unbestechlicher Sprach- – und Zivilisationskritiker profiliert, mit einer ausgemachten Vorliebe für die Paradoxie.

    Die Paradoxie hat einen Nebeneffekt und zwar den Humor und das Lachen. Die Paradoxie ist ein offensichtlicher Widerspruch und legt deshalb die Widersprüche der Existenz bloß. In diesem Zusammenhang interessiere ich mich für Chesterton: Er ist der große Meister der Paradoxie.

    Der Roman Die alphabetische Ordnung ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil erschließen sich dem vierzehnjährigen Julio völlig neue Welten, als er im Fieberwahn im Bett liegt und höchst seltsame Erlebnisse mit Buchstaben, Wörtern und Büchern hat: die vertraute Welt der alphabetischen Ordnung wird auf den Kopf gestellt. Zuerst verschwinden Begriffe und Buchstaben, dann Sätze und Bücher und das Vertrauen in die gewohnte Ordnung der Dinge. Dann stirbt auch noch der Großvater, von dem Julio das Konversationslexikon geerbt hat. Seine Eltern sind traurig und niedergeschlagen, und Julio erinnert sich wieder an die

    Trauer seiner Eltern nach der Fehlgeburt seiner Schwester, von der er als Erinnerungsstück nur einen winzigen Schuh aus der vorzeitig gekauften Babyausstattung aufbewahrt hat. In seinem pubertären Fieberwahn sehnt sich Julio aber auch erstmals nach den Küssen und zärtlichen Umarmungen seiner gleichaltrigen Freundin Laura.

    Im zweiten Teil des Romans erleben wir einen erwachsenen Julio, der lustlos einen öden, weitgehend verplanten Großstadtalltag durchsteht.. Als Journalist ist er gerade dabei, die Einschaltquoten für einen Fernsehsender aufzupeppen und die ehe schon fragwürdige Qualität des Programms noch mehr zu senken. Für seinen Sohn und seinen an Alzheimer leidenden Vater kann er nur wenig Zeit erübrigen. Der Vater stirbt und Julio sucht in einer völlig durchkommerzialisierten Gesellschaft nach dem entsprechenden Angebot, "das der Gefühlsmarkt in solchen Situationen bereit hielt." Was für den pubertierenden Julio die Beschäftigung mit dem Konversationslexikon war, ist für den erwachsenen Julio die Auseinandersetzung mit den Euphemismen der Medien- und Konsumwelt. Hier spielt Juan José Millás virtuos mit Begriffen und Zusammenhängen und setzt die Leser einem ständigen Wechselbad zwischen blankem Entsetzen und zwerchfellerschütterndem Lachen aus.

    Das Buch hat zwei Seiten, wobei Schrecken und Lachen einander ergänzen. Ich bin immer davon ausgegangen, dass das Lachen die andere Seite des Schreckens ist. Und so ist das auch in diesem Roman: An manchen Stellen packt einem das Entsetzen, dann wiederum hat es den Anschein, dass wir es hier mit einem komischen Roman zu tun haben. Das habe ich so beabsichtigt, weil Tod und Leben zusammengehen. Wir alle hatten in unserer Kindheit angst vorm Clown. Und warum hat er uns Angst eingeflösst? Weil wir die Kehrseite der Münze, die Traurigkeit fürchten. In der Tat gibt es viele Horrorgeschichten, deren Held ein Clown ist.

    Juan José Millás befriedigt mit seiner Sprachkritik keineswegs nur seine kindliche Lust am Spiel: Sprachspiele sind subversiv, hinterfragen sie doch die gewohnte Wahrnehmung, vor allem die hierarchischen Diskurse der Macht.

    Das Spiel mit der Sprache fasziniert mich, weil die Sprache tatsächlich ein Geheimnis, die komplexeste Erfindung des Menschen ist. Die Sprache hat eine widersprüchliche Eigenschaft, einerseits nähern wir uns dank der Sprache der Realität, andererseits führt sie uns von ihr weg: Der Mensch wird durch die Sprache zwar Herr der Realität, wird aber auch durch sie von ihr getrennt. Die Realität, so wie wir sie verstehen, ist ein sprachliches Konstrukt. All dies zeigt, dass die Sprache ein wunderbares, widersprüchliches, fürchterliches Werkzeug , das beste Spielzeug des Menschen ist. Da die Realität ein verbales Konstrukt ist, impliziert eine Misshandlung der Sprache eine Misshandlung der Realität: Man kann nicht gut denken und schlecht schreiben, das ist unmöglich und so kann eine Gesellschaft, die nicht gut schreibt, auch nicht gut denken. Gegenstand des Romans ist die Misshandlung der Sprache und folglich der Realität: Einer armen Sprache entspricht eine arme Realität. Selbstverständlich kann man über die Sprache das menschliche Bewusstsein manipulieren, daher sind die Gesellschaften, die ihre Sprache nicht beherrschen, dazu verurteilt, kontrolliert zu werden und sind daher auch unterwürfiger. Tatsächlich hat dies viel mit dem Einheitsdiskurs zu tun und einer Gesellschaft, die keine Alternativen zu den herkömmlichen Marktbeziehungen kennt. Aufgabe der Kulturschaffenden ist es, alternative Realitäten zu schaffen und die Widersprüche und Unwahrheiten des Systems aufzudecken.