Sonntag, 19. Mai 2024

Archiv


Die andere Leipziger Schule

Die unabhängige Fotografie der DDR war staats- und marktfern. Gerade deshalb eignet sie sich auch so gut dafür, ein Bild von der DDR jenseits der offiziellen Propagandabilder zu zeigen. In der Kunsthalle Erfurt passiert das gerade.

Von Carsten Probst | 13.12.2009
    Zwei Merkmale charakterisieren die unabhängige Fotografie der DDR: Sie war staatsfern, und sie war marktfern. Sie widerstand sowohl der Zensur in der DDR als auch den Verlockungen des westlichen Kunstmarktes, denn sie wurde nicht für den Verkauf in westlichen Galerien produziert. Ihre Waffe war die Tradition, eine Tradition der sozial engagierten Kunst, wie sie die Institution der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst bot. Damit standen die Fotokünstlerinnen und Fotokünstler, die an der HGB ausgebildet wurden und mitunter selber lehrten, ähnlich wie die engagierten Maler Heisig, Tübke oder Mattheuer gewissermaßen immer ein Stück außerhalb ihrer Zeit. Und das ist auch der Grund, weshalb sich diese Fotografie heute so gut eignet, um und ein wahrhaftiges Bild vom DDR-Alltag jenseits der offiziellen Propagandabilder (Ost und West) zu zeigen.

    So lautet – leicht zugespitzt – die Arbeitshypothese dieser groß angelegten Erfurter Ausstellung. Sie zelebriert nicht mehr und nicht weniger als ein Ideal, eine Art Gegenmoderne, in der die Künstler ihre Autonomie nicht durch Abstraktion, nicht durch l'art pour l'art oder durch wildes Herumfuchteln mit erweiterten Kunstbegriffen behaupteten, wie im Westen, sondern in dem sie das, was sie fotografierten in den Straßen und auf den Dörfern, einfach nicht veröffentlichten und, wie Evelyn Richter es einmal ausdrückte, "für die Kiste" produzierten. Insofern ist es auch folgerichtig, die Leipziger Hochschule selbst in dieser Ausstellung nicht weiter zu thematisieren, sondern sie einfach wirken zu lassen durch die Bilder und deren historisches Gewicht.

    Vielleicht hat die Bundeskulturstiftung bei ihrer Unterstützung des Projektes auch daran gedacht, dass man in Ostdeutschland sicherheitshalber nie genug Ausstellungen darüber stattfinden lassen kann, wie der Alltag in der DDR wirklich war. Denn zweifellos hat diese Schau auch etwas von einem Triumph des Guten, das sich irgendwann durchsetzt. Diese Fotografie zeigt städtische und menschliche Verhältnisse der DDR-Zeit, die für postmortale Verklärung insgesamt wenig Raum und die die heutigen Verhältnisse nach dem "Aufbau Ost" für manche dann vielleicht in einem milderen Licht erscheinen lassen.

    Manches Bekannte, in letzter Zeit oft Gesehene findet sich unter den Exponaten. Arno Fischers Straßenfotografien aus dem noch kriegszerstörten Berlin in den 50er-Jahren, Thomas Steinerts skurril anmutende Straßenfotografien aus dem Leipzig der 80er oder die kühle und zugleich teilnahmsvolle Alltagsfotografie von Evelyn Richter aus den 70er-Jahren. Das sind neben Werner Mahler, Wolfgang C. Schröter, Helfried Strauß oder Gundula Schulze Eldowy die großen Namen, zweifellos herausragende, mitunter anrührende Gesellschaftsfotografie, die sich betont an westlichen Vorbildern wie Robert Frank oder den unvermeidlichen Henri Cartier-Bresson orientiert und nach den Worten von Kunsthallendirektor Kai Uwe Schierz für diese Schau "Pflicht" war.

    Dazu gesellen sich die Arbeiten der nachfolgenden Generation wie die einer Tina Bara, Ute Mahler, Maria Sewcz, von Matthias Hoch oder Floria Merkel, die als neue Vertreter einer bis in die Wendezeit fortgesetzten Tradition präsentiert werden. Ihre Stile mögen individuell differieren, doch sie alle eint, so legt es die Ausstellung nahe, der unbefangene und unbestechliche Blick auf Menschen in ihren Lebensverhältnissen, mitunter auch auf "das Menschliche" an und für sich.

    Der eigentliche Balanceakt dieser fragilen und komplizierten Karrieren wird allerdings nur im Katalog thematisiert, und auch dort nur in Andeutungen. Dass es notwendigerweise zu Formen der Anpassung kommen musste, dass von vielen der unabhängigen Fotografen ein doppeltes Leben und doppeltes Werk, ein offizielles und ein inoffizielles existierte, wird hier, obwohl es bekannt ist, nahezu ausgeblendet und auch keiner eingehenden Darstellung für wert befunden, als sei dies der Wirkung der Bilder abträglich. Manche, wie Arno Fischer oder Evelyn Richter, die in Berlin ihre stasiüberwachten Privatschulen pflegten, hatten zu dieser "anderen Leipziger Schule" aus Konformitätsgründen lange Zeit überhaupt keinen Zutritt und durften erst spät, in den 80er-Jahren, an der HGB lehren. Dass auch dann die direkte Nachbarschaft von Sozialistischem Realismus und sozialer Fotografie diese Lehre nicht gerade vereinfacht haben dürfte, bleibt in dieser Ausstellung nicht mehr als eine vage Vermutung. Von Fischer und Richter sind beispielsweise keine Aufnahmen aus der Zeit ihrer HGB-Tätigkeit zu sehen, dabei wäre doch gerade die Auseinandersetzung mit den "traditionellen" Gestaltungsdoktrinen dieser Leipziger Schule eine besondere und im übrigen historisch und ästhetisch durchaus spannende Untersuchung wert. Nicht, um irgendjemanden zu entlarven, sondern weil auch dies eben unvermeidlicher Teil des Alltags in der DDR war. Traditionalismus und Sozialismus, Engagement und Zensur waren gerüchteweise auch in Leipzig nicht nur Gegner.

    Stattdessen hat man noch eine Sonderschau mit Postkartenfotografie aus der DDR in diese Ausstellung integriert. Der dadurch heraufbeschworene krasse Gegensatz, der heute wohl eher belustigen soll, soll zugleich vor Augen führen: Die offizielle Propaganda in der DDR hatte nichts mit der Tradition der HGB zu tun. Die Postkarten zeigen dagegen die klinisch gesäuberte DDR-Moderne, das kalte, funktionale Gesicht des Regimes, das aufgehübscht sich selbst feiert. Doch ganz so einfach lassen sich Schwarz und Weiß in der Kunstgeschichte höchst selten trennen. In der Moderne nicht. Und auch nicht in der DDR.