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Die andere Seite des Mondes

Der kanadische Theaterregisseur Robert Lepage mag Portraits: Seine Inszenierungen galten Frida Kahlo, dem Architekten Frank Lloyd Wright, dem französischen Filmemacher Jean Cocteau oder dem Jazztrompeter Miles Davis. Auch der erste Film des Theatermachers aus dem Jahr 1995 bannte ein Portrait auf Celluloid, eines von Alfred Hitchcock. Für seinen neuen Film "Die andere Seite des Mondes" ging Lepage ein Doppelporträt zweier grundverschiedener Zwillingsbrüder an.

Von Josef Schnelle | 15.06.2006
    Wenn Sie in das Bullauge ihrer Waschmaschine schauen, denken Sie nicht manchmal auch, dass dahinter sich doch mehr verbergen muss, als nur ein paar Wäschestücke, die im Kreis rotieren? Oder wenn man jetzt drin stecken würde in der Waschmaschine. Wäre der Blick hinaus nicht ein bisschen so, wie derjenige, den russische Astronauten aus der Sojuskapsel in den Weltraum werfen konnten? Wenn sie das zweimal mit ja beantworten können, dann ist dieser Film genau der richtige für Sie. Derartige Fragen stellt man sich nämlich bald im fünften Spielfilm des Theaterautors und Regisseurs Robert Lepage nach seinem Theaterstück, das die andere Seite des Mondes erkunden soll. Diese nämlich galt lange als die Unbekannte und ist - weil zuerst von einer russischen Kamera fotografiert - mittlerweile gepflastert mit dem Namen weitgehend unbekannter russischer Wissenschaftler, Schriftsteller und Astronauten und natürlich ist mit der anderen Seite des Mondes auch das Unbekannte gemeint, das wir in uns selbst suchen. Der Filmheld Philippe, in die Jahre gekommener ewiger Student in Quebec, tut sich damit gerade schwer. Viel leichter fällt ihm der Umgang mit kosmischen Generalfragen wie: Sind wir allein im All oder warum leben wir ausgerechnet auf dem dritten Planeten? Und so ist Phillip auch bei seinen Werbeanrufen vom Call-Center, in dem er arbeitet, sehr zum Verdruss seiner Chefin, ein Meister der längeren Abschweifung. Und als er von einem Wettbewerb erfährt, bei dem die besten autobiografischen Videos über den Lebensalltag auf der Erde für die Ausstrahlung ins Weltall eingereicht werden können, ist er Feuer und Flamme. Er kramt sein altes Videogerät heraus und macht sich an die Arbeit. Ganz anders ist André, sein jüngerer Bruder, ein erfolgreicher und selbstverliebter Clown im Wetterfernsehen. Bei Figuren spielt Robert Lepage selbst und deutet mit dieser Doppelrolle das Motiv der Spiegelung an. Bevor Galilei sein Teleskop auf den Mond richtete galt auch der Mond als Spiegel der Erdoberfläche und dementsprechend dessen Rückseite als die Entsprechung der dunklen, verborgenen Seite der menschlichen Seele. Der Film spielt virtuos und visuell aufregend mit dem Mythen der Kosmologie und der modernen Kosmonautik. Zugleich führt er uns auf eine Reise in die Ich- und Identitätskrise der Hauptfigur, die sich in der widersprüchlichen Beziehung zu ihrem jüngeren alter-Ego- André schärft. Das wirken auch die Rückblenden in die Jungend beider in den 50er Jahren wie Ausflüge in eine fremde Galaxis. Eingelagert in eine Art filmischen inneren Monolog Philippes wirken die häufigen Exkurse in Raum und Zeit jedoch niemals wie Fremdkörper. Und so erstaunt es auch nicht, wenn Philippe nach dem Besuch eines Raumfahrtkongresses in der Moskauer U-Bahn vollkommen schwerelos wird. Erst fliegt die Brille davon. Dann schwebt er selbst vor den Portraits seiner Raumfahrtidole davon, bis er aus dem Bild verschwindet. So schwere- und mühelos von der Melancholie eines nicht zu Ende geborenen Einzelgängers zu erzählen und darin die Poesie der Suche nach Identität aufscheinen zu lassen, das bringt zur Zeit niemand so perfekt auf die Leinwand wie der Kanadier Robert Lepage. Vielleicht weil er zuletzt häufig mit dem Cirque du Soleil zusammen gearbeitet hatte. Übrigens gibt es in diesem Film gar keine Liebesgeschichte. Aber sie fehlt auch nicht, denn Philippes amüsant verzweifelte Suche nach den Resten von intelligentem Leben im Universum ist schon romantisch genug. Die Außerirdischen werden also staunen, denn Philippes im Film verfertigtes Video ist natürlich ausgewählt worden, um - in seine digitalen Bestandteile aufgelöst - ins Weltall geschickt zu werden. Humorlose böse Aliens wird es eher abschrecken. Nette Alien-Nachbarn allerdings mehr anlocken, als uns lieb sein könnte.