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Die Angst der Regenwürmer

Biologie. - Am Osterwochenende hat in dem Städtchen Sopchoppy im Wakulla County in Florida das große Wurmbeschwörer-Festival stattgefunden. Mit Holzpflock und Reibeisen lassen die Teilnehmer das Erdreich erzittern und locken die Köder fürs Angeln aus dem Erdreich. Warum diese Vibrationen die Würmer aus ihren Löchern locken, untersuchte jetzt ein Wissenschaftler aus Nashville.

Von Arndt Reuning | 14.04.2009
    Eine Waldlichtung irgendwo im Norden von Florida. Gary Revell kniet auf dem Boden und treibt mit einem langen, flachen Metallstück einen Holzpflock in den Grund. Dann reibt er mit der breiten Seite des Eisens über das Holz, so dass ein brummendes Geräusch entsteht. Kurz darauf kann seine Frau Audrey einen ganzen Eimer voller langer, rosa Regenwürmer sammeln. Die beiden sind Profis, sie verkaufen die Kriechtiere als Köder fürs Angeln. Deshalb hat der Neurowissenschaftler Kenneth Catania von der Vanderbilt University zu den beiden Wurmbeschwörern Kontakt aufgenommen. Er wollte herausfinden, warum die Vibrationen die Würmer aus dem Boden treiben.

    "Darüber haben sich Menschen schon seit über hundert Jahren den Kopf zerbrochen. Einer der ersten von ihnen war Charles Darwin. Er hat kurz vor seinem Tod noch ein Buch über die Ökologie der Regenwürmer geschrieben. Und darin beschrieb er auch, dass sie wegen Vibrationen im Boden an die Oberfläche kriechen. Und er glaubte, dass sie vor Maulwürfen fliehen. Aber er hat niemals ein Experiment durchgeführt, um diese These zu beweisen."

    Das wollte Kenneth Catania nun aber nachholen. Eine Reihe von Versuchen sollte klären, ob die Würmer tatsächlich auf die Grabgeräusche von Maulwürfen reagieren oder auf die Vibrationen im Boden, die von einem Regenschauer verursacht werden. Denn besonders viele Würmer kriechen bei starkem Niederschlag aus ihren Löchern, vermutlich um nicht im Wasser zu ersticken. Und so machte sich der Forscher auf den Weg von Nashville in Tennesse ins ländliche Florida zu den Revells.

    "Bevor wir unser sorgsam kontrolliertes Experiment aufbauten, haben wir uns einen Eistee in ihrem Haus genehmigt. Und da Gary Angelköder verkauft, war es nicht überraschend, dass er einen Eimer mit Erde und Würmern da hatte. Und ich hatte gerade im Wald einen Maulwurf gefangen. Er die Würmer, ich den Maulwurf – da haben wir uns gefragt, was wohl geschehen würde, wenn wir beide zusammen bringen. Wir haben uns angeschaut und gesagt: Probier’n wir’s doch aus. Und sobald der Maulwurf zu graben begann, strömten die Regenwürmer förmlich an die Oberfläche."

    Und auch die folgenden Experimente vor Ort und im Labor, mit echten Maulwürfen und künstlichem Regen unter verschiedenen Bedingungen zeigten: Nicht wenn Wassertropfen auf den Boden trommeln, kriechen die Würmer aus den Löchern, sondern wenn Maulwürfe ihre Gänge graben. Sie wollen so ihrem Fressfeind entkommen. Die Strategie geht allerdings nur deshalb auf, weil die Maulwürfe ihnen nicht an die Oberfläche folgen.

    "Der Maulwurf jagt bloß seinem Mittagessen hinterher. Über der Erde warten aber auch viele mögliche Fressfeinde auf ihn. Würde er also jedes Mal nach oben kommen, wenn er seinem Mittagessen auf der Spur ist, würde er wahrscheinlich selbst am Ende gefressen werden. Für den Wurm hingegen geht es um sein Leben. Für ihn ist es also sinnvoll, an die Oberfläche zu kommen, um dem Maulwurf zu entgehen. Deshalb funktioniert das – weil der Maulwurf eben nicht das Erdreich verlässt."

    Dieses Jäger-Opfer-Schema machen sich die Wurmbeschwörer aus dem Südosten der USA zunutze, indem sie die Geräusche der Maulwürfe imitieren. Die Würmer landen also ironischerweise deshalb am Angelhaken, weil sie ihrem vorzeitigen Ende entgehen wollen.