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Die Angst fährt immer mit

Die Fahrt mit der Londoner "Tube", also durch die Röhre, wie die Londoner ihre U-Bahn nennen, die ist auch im Normalfall schon für manchen eine klaustrophobische Erfahrung. Schmale alte Tunnel, tiefe Schächte, eine warme und schlechte Durchlüftung und ständig Pannen. Drei Millionen Fahrgäste sind täglich in der Tube unterwegs. Seit den Anschlägen der letzten Wochen wird aber vielen Londonern allein beim Gedanken ans U-Bahnfahren mulmig. Ruth Rach ist mit der U-Bahn von Hampstead im Norden bis nach Tottenham Court Road gefahren, mitten im Zentrum – und sie hat jene Menschen in London beobachtet, die trotz aller Befürchtungen weiter die Tube nehmen müssen.

    Der Aufzug ist eng, alt und beklemmend leer. Er schlingert im Zeitlupentempo in die Tiefe. Auf dem langen Bahnsteig stehen drei Fahrgäste, in Riesenabständen voneinander entfernt. Es ist totenstill. Aus der Ferne das verzerrte Echo automatischer Ansagen.

    Dann ein stickig-heißer Luftschwall. Eine U-Bahn donnert aus dem Tunnel. In der Fahrerkabine ist es dunkel. Die Menschen warten wie verlorene Seelen. Sie stehen im Bannkreis eines ungeschriebene Gesetzes: "no talking on the tube". In der U-Bahn wird nicht miteinander gesprochen. Auch jetzt nicht, wo man sich einiges zu sagen hätte.

    Im Abteil geht das Schweigen weiter. Die Mitfahrenden bewahren maximalen Abstand. Normalerweise verstecken sie sich hinter ihren Zeitungen. Heute lesen sie Bücher. Vielleicht liegt es an den aktuellen Schlagzeilen – Terror, Bomben, Attentäter, Angst.

    Camden. Jeder der einsteigt wird aus dem Augenwinkel gemustert. Ein Mann mit einem roten Rucksack. Die Mitreisenden inspizieren sein Gesicht: blond, blauäugig. Also nicht suspekt. Die Blicke schweifen weiter. Über eine Gruppe japanischer Touristen. Bleiben an einer schwarz verschleierten Frau hängen, gleiten zu ihren zwei kleinen Kindern, die munter vor sich hin plappern. Im Abteil macht sich leichte Entspannung breit. Dann aber noch ein Rucksack, diesmal gehört er einem jungen Mann mit arabischem Einschlag. Alle erstarren. Der junge Mann vertieft sich in ein Wirtschaftsblatt.. Der Platz neben ihm bleibt leer.

    Plötzlich stoppt der Zug, mitten im Tunnel. Die Herzen stocken ebenfalls. Jeder blickt auf. Nimmt seinen Gegenüber ins Visier. Ein scharfer, genauer Blick. Dann senken sich die Lider. Mehrere Menschen schließen die Augen. "CASINO ONLINE, DAS GANZE LEBEN IST EIN SPIEL", steht auf der Reklame beim Ausgang. Und: "GOT A BAD POKER FACE", wie schlecht kannst du bluffen?

    Warren Street, hier versuchte ein Mann letzte Woche, eine Bombe zu zünden. Dann Goodge Street. Gleich um die Ecke ist der Bus explodiert. Das U-Bahn Abteil ist fast voll. Jeder Kontinent ist vertreten. Ein paar Touristen wagen ein Schwätzchen. Die Mehrheit schweigt.

    Tottenham Court Road, endlich raus aus der Röhre. Erst nach der Fahrt sind manche Passagiere gesprächsbereit.

    "Heute bin ich erstmals wieder U-Bahn gefahren, ich war schon etwas nervoes, sagt ein junger Pendler. Er strebt mit grossen Schritten dem Ausgang zu. "

    Im Herzen des U-Bahnlabyrinths, an seinem Stammplatz direkt unter Sicherheitskamera, Nino, ein Straßensänger aus Spanien.

    "Nein, ich habe keine Angst. Wenn ich sterbe, sterbe ich. Gott wird mich schützen - das hoffe ich jedenfalls."

    Wenn die Leute weiterhin U-Bahn fahren, heisst das nicht, dass sie besonders tapfer oder abgestumpft sind. sagt der Kontrolleur an der Sperre. Die haben schlichtweg keine andere Wahl

    Sein Tipp: in schwach besetzte Züge einsteigen. Weil sich Terroristen möglichst volle Abteile aussuchten. "Take care", sagt er zum Abschied, "pass auf". Selbst Höflichkeitsfloskeln haben dieser Tage in London eine tiefere Bedeutung.