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Die Angst ist ein Vogel

In tagebuchartiger Sprache schildert die Autorin die Zustände der manisch-depressiven Bäuerin Pálina. Sie wird Ende des 19. Jahrhunderts in Island geboren. Im Laufe ihres Lebens wird ihre Furcht größer und droht schließlich ihre Familie zu zerreißen.

Von Sabine Peters | 20.10.2011
    Das Mädchen Pálina wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Osten Islands geboren; der Vater ist neben seiner bäuerlichen Arbeit Gemeindevorsteher. Wie die Mutter und die Geschwister liebt und fürchtet auch Pálina ihren Vater. Etwas Größeres als Furcht, etwas kaum Fassbares - Angst nämlich - ist von klein auf häufig bei ihr; für diese Angst hat sie das Bild eines Vogels, der ihr im Hals sitzt und sie ersticken will.

    Die Isländerin Kristin Steinsdóttir, Jahrgang 1946, hat nach zahlreichen Kinder- und Jugendbüchern jetzt ihren dritten Roman vorgelegt. In einem Interview nach dem Unterschied zwischen dem Schreiben von Kinder- bzw Erwachsenenliteratur befragt, sagte sie: Beim Schreiben für Erwachsene sei man freier, man könne ihnen mehr zumuten. Der jetzt auch hierzuland erschienene Roman über einen großen Zeitraum von Pálinas Lebensgeschichte – sein Titel: "Im Schatten des Vogels" – dieser Roman mutet dem Leser Einiges zu.
    Zunächst verlangt er Geduld. Denn die tagebuchartige Sprache der Ich-Erzählerin Pálina ist völlig ungebrochen und naiv; sie wird anfangs auch nicht durch eine anders gefärbte Handlung konterkariert - und so kann man fürchten, hier einen Lore-Roman vor sich zu haben. Das heranwachsende Mädchen verliebt sich in den schwindsüchtigen Lehrer Sveinn; der Vater unterbindet den Kontakt und schickt Pálina mit einer ihrer Schwestern auf eine Schule in Reykjavik.

    Während die Schwester das Stadtleben genießt – sie kann sich an dem ungewohnten Licht der Laternen nicht sattsehen – ist Pálina ein labiles Geschöpf, das nach dem Verlust von Sveinn in eine Krise gerät; sie wird schwer krank. Zu Hause fügt sie sich dem Vater, heiratet den Tischler Vigfús, ohne Sveinn zu vergessen. Sie bekommt Kinder und leidet zunehmend an seelischen Spannungen, für die es allerdings nicht die heute gebräuchlichen Namen gibt. Ihre Gefühle lesen sich etwa so:

    "Wohin war ich gelaufen? Ich weiß es selbst kaum... Erinnere mich nur an Hoffnungslosigkeit. Alles andere ist Nebel. Zähle die Astlöcher an der gestrichenen Dachschräge und versuche, bei Verstand zu bleiben."

    Oder:

    "Ich schaue aus dem Westfenster. Sehe wenig durch die Tränen. Drücke Katrin an mich. Habe Vigfús gegenüber nichts gesagt, weiß aber ziemlich sicher, dass es wieder so weit ist und ich das dritte Kind in mir trage."

    Solche irritierend schlichte Sprache verlangt Geduld – wenn man diesen Roman nicht nach 50 Seiten in die Ecke wirft. Aber spätestens dann ist man hineingezogen in die bäuerliche Welt um die Wende zum 20. Jahrhundert, in tausend kleine Details aus dem Alltag – und man möchte man verstehen, was mit Pálina los ist. Man wird es so wenig begreifen wie die Erzählerin selbst, wie ihr Mann und ihre heranwachsenden Kinder.

    Kristin Steinsdóttir erzählt in diesem Roman Elemente aus der Geschichte ihrer eigenen Großmutter. Der Begriff "manisch-depressiv" war in dem hier geschilderten Milieu unbekannt, und die Autorin sagte einmal, dass es schwierig war, bei ihren Recherchen mit Zeitzeugen überhaupt von der "verrückten" Großmutter zu sprechen: Denn die alten Leute hätten immer noch Angst gehabt, sich schon beim bloßen Reden über eine "Geisteskranke" anzustecken.

    Wesentlich schlimmer muss es Anfang des 20. Jahrhunderts in der entlegenen Gegend Ostislands gewesen sein: Pálina, permanent schwanger, ist hin- und hergerissen zwischen Phasen, in denen sie voller Energie ist – und dann kommt der Vogel, die Angst und das Gefühl von Ausweglosigkeit. Viele Nachbarn brechen den Kontakt zu der Familie ab. Die medizinische Versorgung ist mangelhaft bzw teuer, und ein Tischler wie Vigfús will seine Frau auch nicht in eines der überbelegten Sanatorien in Rejkjavik abschieben.

    Daher werden phasenweise die jüngsten Kinder "in Pflege" auf fremde Höfe geschickt, zur Verzweiflung von Pálina, die sich fragt, warum sie so eine schlechte Mutter ist. Die Reizbarkeit auf dem Hof nimmt zu. Was macht ein Ehemann, was machen halbwüchsige Kinder mit einer Mutter, die nachts oft laut singt oder auf obszöne Weise herumpöbelt, die beißt und tobt und in ihrer Verwirrung mehrere Schafe im Stall schlachtet, um endlich Fleisch zu essen? Man sperrt sie in einen Verschlag ein, wenn sie ihre Anfälle hat und sich selbst und anderen gefährlich wird. "Narrenkiste" hieß diese Vorrichtung, und eine heimkehrende erwachsene Tochter, die ihre Geschwister entlasten will, findet, die Mutter wirkt wie ein Tier in einem Käfig. Die Tochter sieht ihre überforderten Angehörigen – in dieser Familie hat man das Lachen verlernt.

    Die Autorin ist mit ihrer distanzlosen, bewusst naiven Sprache ein großes Risiko eingegangen. Denn Empathie, also die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen, misslingt nur zu oft; wirkt unglaubhaft, aufgesetzt, verniedlichend, kitschig. Das inszenierte Selbstgemurmel von Pálina dagegen nimmt einen gegen alle anfänglichen Widerstände zunehmend in Bann; es wird zu einer Zumutung im produktiven Sinn.

    Pálina hat nur einen kleinen Wortschatz voller Floskeln und Förmlichkeiten. Die inneren Monologe dieser Frau werden monströser, je weniger sie mit der Realtität zu tun haben. Das Monströse dieses Romans besteht gerade in der Divergenz, dem Auseinandergehen von unsinnigen Handlungen und einem Sprechen, das sich normal, konventionell und vernünftig gibt. Einer der berühmtesten psychisch Kranken, der an Schizophrenie leidende Daniel Paul Schreber, dessen "Fall" Autoren wie Siegmund Freud oder Elias Canetti untersuchten, schrieb einmal: Aller Unsinn wird zum Sinn. Pálina ist zwar manisch-depressiv. Aber auch hier geht es um Sinnverlust und Sinnsuche. Darüber hinaus erzählt der Roman, welche verheerenden Folgen die nachbarschaftliche, gesellschaftliche Ausgrenzung einer einzelnen Kranken und ihrer Familie für die Betroffenen hat.

    "Im Schatten eines Vogels" ist der gelungene Versuch, einer stigmatisierten Außenseiterin eine Stimme zu geben und sie aus großer zeitlicher Distanz und trotz ihrer Erkrankung dem heutigen "normalen" Leser näher zu bringen. Ohne dass hier "normalisiert" wird im Sinne von Verharmlosung und Abschwächung, zeigt sich doch: Auch ein kranker Mensch wird nicht verstanden, wenn man ihm nur noch eine einzige verbliebene, armselige Gemütsverfassung zugesteht. Die Hauptgestalt des Buchs ist vieles. Sie ist wütend, ängstlich, traurig, sarkastisch, liebe- und hoffnungsvoll, wehleidig, stolz, sentimental und spöttisch, kurz: Sie ist ein ganzer Mensch.

    Kristin Steinsdóttir: "Im Schatten des Vogels"
    Aus dem Isländischen von Anika Lüders.
    Beck-Verlag, München 2011, 256 Seiten, 19,95 Euro