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Die Angst vor dem Abstieg der Kinder

Eltern, die sich mit ihren Kindern in gebrochenem Englisch unterhalten ­oder mit ihnen bis tief in die Nacht Mathe pauken, damit der Notenschnitt fürs Gymnasium reicht: Solche Phänomene beschreibt der Soziologe Heinz Bude in seinem neuen Buch als "Bildungspanik" - und mahnt zu mehr Gelassenheit.

Heinz Bude im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Manfred Götzke: Wenn die Schüler nicht selbst permanent ihre Bio pimpen, dann machen die Eltern das für sie. Da gibt es Eltern, die sich mit ihren Vierjährigen in gebrochenem Englisch auf dem Spielplatz unterhalten, damit sie in der ersten Klasse auch ja gut abschneiden. Andere üben mit ihren Viertklässlern bis tief in die Nacht, damit der Notenschnitt für den Übergang zum Gymnasium reicht. Oder sie ziehen um, nur damit der Sohn bloß in eine gute Grundschule kommt - wobei gut heißt: möglichst keine Migrantenkinder in der Klasse. Der Soziologe Heinz Bude beschreibt all diese Phänomene in seinem neuen Buch und nennt sie "Bildungspanik". Herr Bude, wer hat denn in Deutschland Bildungspanik?

    Heinz Bude: Bildungspanik haben vor allem die Eltern, die zu den Gewinnern der Bildungsreformen der 70er- und 80er-Jahre gehören, also diejenigen, die oft einen Fachhochschulabschluss haben und dadurch eine ganz angenehme Berufskarriere hingekriegt haben, die jetzt für ihre Kinder wollen, dass die mindestens den gleichen Bildungsabschluss erreichen wie die Eltern.

    Götzke: Und die haben Angst vor dem Abstieg ihrer Kinder?

    Bude: Die haben zweierlei Ängste: Die haben einerseits Angst davor, dass sie eigentlich nicht so ganz genau wissen, was sie ihren Kindern für diese neue Welt mitgeben sollen. Was zählt eigentlich in 20 Jahren? Zählt wirklich der Abschluss eines normalen Gymnasiums in Deutschland? Zählt der Abschluss einer mittleren Universität in Deutschland? Reicht es vielleicht, mit einem mittleren Schulabschluss eine schöne Karriere hinzukriegen? Es ist relativ unklar, weil es eine Reihe von Turbulenzen gibt, wo die Leute nicht so ganz genau wissen, wo die Reise hingehen wird. Und das Zweite ist, und das ist sicherlich eine untergründige Stimmung in unserer Gesellschaft: Sie denken, sie müssen ihre Kinder so ein bisschen davor schützen, dass sie nicht mit Kindern in Kontakt kommen, wo die Eltern vielleicht es nicht so drauf anlegen, den Bildungsabschluss der eigenen Kinder höher zu schrauben.

    Götzke: Insofern äußert sich die Panik Ihrer Meinung nach also in der Kultivierung der feinen Unterschiede?

    Bude: Ich will es mal ein bisschen netter sagen, das ist so ein bisschen denunziatorisch diesen Eltern gegenüber: Die sind wirklich in Sorge, die haben wirklich schlaflose Nächte, wenn es darum geht, ob ihr Kind eine Gymnasialempfehlung kriegt oder nicht. Es ist der Versuch – und ich finde, er ist gar nicht mal illegitim –, der Versuch, dass das, was man in der Familie erreicht hat an Sozialstatus in der Generationenfolge weiterzugeben. Und das Erbe, das man weiterzugeben hat, ist nicht eine Firma, sind nicht fünf Mietshäuser, sondern das Erbe, das man weiterzugeben hat, sind Bildungspatente und Bildungsmotivationen.

    Götzke: Während also Mittelklasse-Eltern den Bildungsabstieg ihrer Kinder mit allen Mitteln verhindern wollen, ist es trotz der Bildungsexpansion, die Sie ja auch in Ihrem Buch beschreiben, immer schwieriger geworden für Kinder aus Familien mit einem nicht so hohen Bildungsabschluss, aufzusteigen? Das ist doch irgendwie paradox.

    Bude: Es ist gar nicht unbedingt schwieriger geworden. Es ist so, dass wir glaube ich konstatieren müssen, dass viele Kinder mit dem berühmten Migrationshintergrund verglichen mit der Bildungskarriere ihrer Eltern und ihrer Großeltern einen hohen Bildungserfolg im Augenblick in Deutschland erzielen. Das Problem ist: Wir haben eine Art Split in der Migrationspopulation selber, der scheinbar nicht mehr zu kitten ist. Das heißt, wir haben welche, die wirklich abstürzen, und wir haben sehr viele bildungsbestrebte Eltern, gerade mit Migrationshintergrund, die mit sehr optimistischen Vorstellungen in unser Bildungssystem hineinkommen und dann ...

    Götzke: ... und dann enttäuscht werden.

    Bude: ... und dann enttäuscht werden. Das heißt, die Bildungspanik als Disposition finden wir auch unter Eltern mit Migrationshintergrund, die für ihre Kinder was Besseres haben wollen.

    Götzke: Sie beschreiben das Ganze ja als Bildungspanik, aber ist diese Panik nicht in gewisser Weise angebracht? Heute ist es für einen Schüler problematisch, mit einem Abischnitt von 2,0 überhaupt einen Studienplatz zu bekommen.

    Bude: Das ist im Augenblick in der Tat ein bisschen problematisch, da haben Sie recht, weil wir eine Überlastung der Universitäten zurzeit haben. In mittlerer Sicht allerdings wird die Sache sich ein bisschen auspendeln, in mittlerer Sicht, das ist im Augenblick überall klar: Auf allen Ebenen des Beschäftigungssystems gehen uns die Menschen aus – bei den Facharbeitermärkten genauso wie im Segment der Chefärzte. Das heißt, die Situation ist eigentlich für die Generation der Kinder, die jetzt in unserem Bildungssystem sich befinden, relativ günstig, und es ist auch insofern eine gar nicht so problematische Lage, als wir sagen können, dass auch Bildungsabschlüsse, die nicht besonders hoch sind, durchaus Karrierechancen bieten in unserer Gesellschaft. Das Problem ist, dass wir da hohe, die Soziologen sagen, Disparitätseffekte haben, das heißt, ein Hauptschulabschluss – so es überhaupt noch eine Hauptschule gibt – in Bremen ist sehr viel weniger wert als ein Hauptschulabschluss in München. In München kriegen Sie nämlich mit einem Hauptschulabschluss noch eine Facharbeiterkarriere hin, und zwar relativ unproblematisch. In Bremen ist das sehr viel schwieriger.

    Götzke: Und in den meisten anderen Bundesländern ja auch. Also inwieweit fördert es die Bildungspanik, wenn Schüler schon nach der vierten Klasse in unterschiedliche Schulsysteme, in unterschiedliche Schulformen einsortiert werden?

    Bude: Ich glaube, dass wir im Augenblick eigentlich mit der Fixierung auf die Systemdebatte die eigentliche Problematik des Bildungssystems verfehlen. Sie können es etwa daran sehen, dass relativ gut nachgewiesen ist, dass ein Drittel der Realschüler, beispielsweise in Berlin, zur Gruppe der funktionalen Analphabeten gehören. Das heißt, der Schultyp alleine macht es nicht.

    Götzke: Was wäre denn dann die Lösung?

    Bude: Ich glaube, wir machen etwas falsch im Augenblick in Deutschland, wenn wir überall die Botschaft ausgeben: Der mittlere Schulabschluss – also was man früher den Realabschluss nannte – ist das Bildungsminimum, das man braucht, um in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft unserer Art überleben zu können. Wenn man hingegen sagen würde, die berufliche Erstausbildung ist das Bildungsminimum, wäre schon außerordentlich viel gewonnen, und da können auch Leute Talente entfalten, die möglicherweise nicht mal einen Hauptschulabschluss haben.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.