Der Wahlkampf, wie die Politik generell, ist sehr personalisiert. Die einzige Partei, die überhaupt ein klares Profil hat, ist die Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores, PT. Bei allen anderen ist die Persönlichkeit des Politikers wichtiger als die Parteizugehörigkeit. Infolgedessen wechseln Politiker ihre Partei häufig: Noch eine Woche vor dem Datum, an dem man seine Kandidatur bekannt geben musste, wechselte ein Drittel aller Abgeordneten die Partei. Dazu Fernando Gabeira, ein bekannter Abgeordneter der PT:
Die Koalitionen in Brasilien folgen keiner inhaltlichen Logik. In Europa gibt es Mitte-Rechts-Koalitionen, oder rot-grün; es gibt eine gewisse Kohärenz. Hier jedoch nicht, weil die Parteien nicht wie beispielsweise europäische beschaffen sind, und sie oft auch kein Programm haben, deshalb sind alle Koalitionen nur auf den numerischen Sieg ausgerichtet. Oft genug ist so eine Koalition zwar ein Zahlensieg, aber politisch eine Niederlage. Zum Beispiel die Koalition der Arbeiterpartei mit den Liberalen, eben weil sie nicht liberal sind, sondern konservativ. Sie sind liberal höchstens im wirtschaftlichen Sinn, aber extrem konservativ in Bezug auf Freiheiten. Diese Koalition soll Stimmen bringen, aber dabei sind viele Inhalte verloren gegangen.
Nach dem ersten Wahlgang (vor drei Wochen) ist die Arbeiterpartei PT der große Favorit. Ihr Kandidat, Luiz Inácio da Silva, genannt Lula, bewirbt sich schon das vierte Mal um die Präsidentschaft. Diesmal sieht es so aus, als ob er gewinnen wird. Der Kandidat der Regierungspartei, José Serra, - Lulas Gegner in der Stichwahl - liegt weit abgeschlagen zurück. Alle anderen Oppositionsparteien haben ihre Anhänger aufgerufen, Lula zu wählen. Lula - der Spitzname bedeutet 'Tintenfisch' - wird Luiz Inácio da Silva seit jeher genannt, weil er immer alle Leute umarmte. Der 57jährige ist ein ungewöhnlicher Präsidentschaftskandidat: Sohn armer Bauern aus dem Nordosten des Landes, der nur fünf Jahre zur Schule ging, und schon als Kind hart arbeiten musste, um der Familie das Überleben zu sichern. Als Gewerkschaftsführer der Metallarbeiter leitete er Streiks, war während der Militärdiktatur inhaftiert, und gründete schließlich 1980 die Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores, PT. Nun hat er gute Chancen, zum nächsten Präsidenten gewählt zu werden. Dann erwarten ihn jedoch einige unangenehme Aufgaben, sagt der Ex-Wirtschaftsminister und jetzige Präsident der Dresdner Bank/Brasilien, Winston Fritsch:
Erstens, die internationale Kreditwürdigkeit wiederherstellen, und Brasiliens Teilnahme an der offenen, globalisierten Ökonomie bestätigen, also die allgemeinen Spielregeln einhalten . Nicht als Kopie von Cardoso – aber es gibt positive Dinge wie eine verantwortungsbewusste Steuerpolitik, die beibehalten werden sollten. Die Cardoso-Regierung hat viele wichtige Dinge unerledigt gelassen, zum Beispiel die Sozialversicherungs-Reform und die Steuer-Reform. Beide Präsidentschaftskandidaten wissen, dass diese Reformen notwendig sind, dass die Konkurrenzfähigkeit ausgebaut werden muss, damit der Staat nicht so sehr von internationaler Finanzierung abhängig ist. Die neue Regierung hat also viel vor sich, aber sie sollte als allererstes das, was in der Cardoso-Ära gut war, fortführen, als Basis für die Vertrauenswürdigkeit, die Brasilien auf dem Finanzmarkt und bei internationalen Institutionen genießt.
Auf der internationalen Bühne wird jedoch bereits die Angst vor Lula geschürt. In der Tat dürfte ein Sieg der linken Arbeiterpartei in Brasilien - dem größten Land Lateinamerikas - Auswirkungen auf den gesamten Kontinent haben. Auf dem Finanzmarkt herrscht schon jetzt Aufregung: Der Wert der brasilianischen Währung Real sank in diesem Jahr um 68 Prozent. Die US-amerikanische Zeitung New York Times erklärte bereits, ein Sieg Lulas würde 'der Administration Bush sehr missfallen'. Möglicherweise werden die Brasilianer trotzdem Lula wählen. Aber das ist kein Grund zur Aufregung, meint der Banker Winston Fritsch:
Erst mal sollte man nicht so ernst nehmen, was Präsidentschaftskandidaten während der Wahlkampagne sagen. Bush zum Beispiel, der eigentlich ein sehr liberales Land führt, macht eine furchtbare Steuerpolitik, - das sind Mängel der parlamentarischen Demokratien. Ich glaube nicht, dass Lula oder irgendein anderer Kandidat Brasiliens Verpflichtungen in der globalisierten Wirtschaft verletzen wird. Niemand plädiert für eine Schließung des brasilianischen Marktes; niemand schlägt vor, die Schulden nicht zu bezahlen.
Der Schuldendienst Brasiliens beläuft sich allerdings auf rund 33 Milliarden US-Dollar pro Jahr. 55 Prozent des Staatshaushaltes gehen für die Bezahlung der Zinsen drauf, mehr als für den Gesundheits- und Ausbildungssektor zusammen.. Während der nächsten zwei Jahre muss der Staat jede Woche eine Milliarde Dollar an Zinsen bezahlen. Das wird schwierig werden, sagt der Soziologieprofessor Emir Sader:
Obwohl Lula für das Desaster in Brasilien nicht verantwortlich ist, muss er das Abenteuer eingehen, die jetzige Politik zu verändern. Er selbst sagt, es lohnt sich nur zu gewinnen, um diese Politik zu verändern, aber die Fallen sind schon gestellt. Er hat nur wenig Spielraum zum Manövrieren. Vor allem muss er einen Übergang ohne Instabilität versprechen und gewisse Garantien geben; aber ich bin nicht sicher, dass er das erfüllen kann. Meiner Meinung nach wird jeder Kandidat die Auslandsverschuldung neu verhandeln müssen. Es ist unmöglich, eine Milliarde Dollar pro Woche aufzutreiben – das war schon immer schwer, aber jetzt - mit der internationalen Rezession, mit der argentinischen Krise, dem Misstrauen gegenüber Brasilien, weil ein linker Kandidat gewinnen könnte – wird jeder neu verhandeln müssen. Aber es ist natürlich sicherer, wenn schon mal das Versprechen gegeben wurde, man werde zahlen; auf die Art hat man mehr Ruhe in den Verhandlungen. Lula ist auf Stabilität festgelegt, ohne die Möglichkeit, drastische Veränderungen in der Wirtschaftspolitik einzuleiten, obwohl er andererseits mehrheitlich für den Wandel gewählt wird.
Die Bevölkerung ist in den acht Jahren Cardoso-Regierung vielfach verarmt; Gründe sind die hohe Arbeitslosigkeit und die stark gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel. Die Menschen hoffen nun auf eine Richtungsänderung in der Wirtschaftspolitik. Der 33jährige Écio de Salles arbeitet als Sozialarbeiter in Elendsvierteln. Er will für Lula stimmen, aber hauptsächlich, weil er PT-Politiker auf jeder Ebene der Gesellschaft sehen will:
Lula ist kein wundertätiger Heiliger, Gott sei Dank, kein Messias. Er kann nicht regieren ohne den Privatsektor und die Unterstützung der Gesellschaft überhaupt. Ein substantieller Wechsel im Kongress bedeutet auch eine wichtige Veränderung bei Bürgermeistern usw., die normalerweise durch Korruption hochkommen. Privatleute investieren sehr wenig in soziale oder kulturelle Projekte. Es ist nicht einfach, die Probleme dieses Landes zu lösen.
Viele Menschen aber sind rundum enttäuscht von der Politik und den Politikern, wie etwa der 43jährige Hausmeister Antonio do Paiva Correa. Er kam vor Jahren aus dem armen Nordosten des Landes nach Rio de Janeiro, wo er heute mit seiner Familie in einer winzigkleinen Wohnung lebt:
Sehen Sie, Politiker verhalten sich folgendermaßen: Während des Wahlkampfes versprechen sie tausendundeine Sache. Dann gehen sie auf die Straße, küssen die Kinder, sagen, dass sich alles - zum besseren -ändern wird, und wenn sie dann gewinnen, ist alles vergessen und vorbei. Die Versprechungen sind vergessen, und sie machen, was sie tatsächlich vorhatten. Das Volk wird von den Politikern betrogen. Während des Wahlkampfes ist alles anders: Sie kommen zu uns, und versprechen, dass sich alles verändern wird, und wenn sie dann gewinnen, dann sieht man sie nie wieder. Deswegen sind Politiker für mich einfach Lügner.
Trotz dieser Politikmüdigkeit gibt es einen Mann, dem der Hausmeister Antônio vertraut - dem Präsidentschaftskandidaten der Arbeiterpartei PT, Luiz Inácio 'Lula' da Silva:
Wenn die neue Regierung etwas ändern will, kann sie das auch. Aber es kommt auf den guten Willen an. Der einzige Politiker, für den man momentan stimmen kann, ist Lula. Lula ist der einzige. Er ist zwar auch nur ein Mensch, aber es gibt keinen anderen. Ich werde für Lula stimmen.
Die Einkommensverteilung in Brasilien ist äußerst ungerecht. Die Ärmsten - und das sind 20 Prozent der Bevölkerung - müssen sich mit rund 2,5 Prozent des Volkseinkommens begnügen, während 20 Prozent der Reichsten über Zweidrittel verfügen. 53 Millionen Menschen sind arm und davon haben 23 Millionen nicht einmal genug, um sich ausreichend zu ernähren. Die Menschen in den Favelas, den Elendsvierteln der Städte, und die Armen auf dem Land setzen ihre Hoffnung auf Lula, der eine Landreform und ein gerechteres Steuersystem versprochen hat. Wie zum Beispiel in São Domingues do Capim, einem Dorf in der Amazonasregion. Hier leben die Menschen von den Fischen, die sie im Fluss angeln, von Maniok-Wurzeln und Palmfrüchten.
Die 52jährige Bäuerin Lucia del Mar Batista Soares hat in ihrem Haus mitten im Urwald zehn Kinder und fünf Enkel großgezogen. Sie ist eine magere, sehnige Frau mit wettergegerbtem Gesicht. An der Wand ihres Holzhauses hängen Bilder von Lula :
Ja, mit der PT könnte sich schon was ändern. Mit all den anderen Kandidaten wie Serra, da wissen wir schon, wie die sind, die zu wählen, den Fehler machen wir nicht noch mal. Die Leute sind nicht mehr unwissend, also diesmal PT, echt PT.
Die Probleme der Landbevölkerung sind vielfältig. Zum einen gibt es sehr viele Landlose - rund 16 Millionen, meist ehemalige Kleinbauern, die aber nur noch als Tagelöhner auf den Äckern der Großgrundbesitzer arbeiten. Viele von ihnen sind in der Landlosen-Bewegung MST organisiert, schätzungsweise vier Millionen Familien, alles sichere Wählerstimmen für Lula. Ein weiteres Problem der Landbevölkerung ist die fehlende Infrastruktur. Es gibt zuwenig Straßen und Transportmittel, um die Ernte auf die Märkte zu schaffen. Viele Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser oder Elektrizität. Eine Stromleitung ins Dorf ist auch der große Traum der Bäuerin Lucia del Mar:
Seit vier Jahren haben wir einen kleinen Stromgenerator. Aber dieser Motor ist sehr teuer; es kostet viel, ihn laufen zu lassen. Das Geld dafür zusammenzukratzen, ist ein großes Opfer für uns. Wir brauchen Strom für den Kühlschrank, wenn wir kaltes Wasser trinken möchten. Wir haben auch einen Fernseher, und wir sehen gerne fern. Hier wohnen wir weitab von allem, es gibt keine Ortschaft in der Nähe, dann guckt man gerne in den Kasten. Damit man sich die Zeit ein bisschen vertreibt.
Cristiano Martines ist der Umweltsekretär des Ortes São Domingues. Der junge Afrobrasilianer tut alles, um den Bauern der Region die Tür zum Weltmarkt zu öffnen - unter anderem mit der Hilfe deutscher Entwicklungsprojekte.
In dieser Region bauen die Leute hauptsächlich Maniok an. Aber das Produkt, das die meisten Möglichkeiten bietet, ist die Frucht der Açaí-Palme, die hier überall wächst. Açaí wird hier sehr viel verwendet. Und sollte es eines Tages nicht mehr auf dem Markt angeboten werden, hätten wir ein ernsthaftes Problem. Wir haben also einen lokalen und einen externen Markt, auch einen internationalen, weil die Acaí eine Art Mode-Frucht geworden ist, in Europa zum Beispiel. Die Leute könnten hier noch mehr Acaí anbauen, im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung.
Das Land ist in den Händen weniger Großgrundbesitzer: Nur drei Prozent kontrollieren 60 Prozent des Bodens, der vielfach brach liegt. Wesentlich effektiver arbeiten die kleinen Familienbetriebe. Damit eine Agrarreform wirklich greift, ist eine doppelte Strategie notwendig: Erstens, die Enteignung brachliegender Flächen und ihre Verteilung an Landlose, und zweitens die technische und finanzielle Unterstützung der Familienbetriebe. Die afrobrasilianische Menschenrechtsaktivistin Ana Amélia Campos Mafra erklärt, um welch grundlegende Ungerechtigkeiten es auf dem Lande geht:
Die Frage der Agrarreform in der Provinz...hier ist noch von den 'Landherren' die Rede. Nach 500 Jahren Kolonisierung, heute, im 21.Jahrhundert, gibt es immer noch 'Landherren', die alles bestimmen. Man fragt zum Beispiel in einem Ort, warum gibt es in diesem Dorf keine Schule? Und die Leute antworten: Weil der Herr keine will. Die schwarze und entrechtete Bevölkerung auf dem Land kann nicht frei über sich selbst bestimmten. Da ist immer ein Herr, der vorschreibt, was man darf und was man nicht darf, und der die Leute bestraft.
Die Wirtschaftspolitik, Arbeitsplätze und die Agrarreform waren zentrale Themen in diesem Wahlkampf. Und eine geostrategische Frage gab Lula Aufwind - nämlich der Streit um zwei militärische Projekte, bei denen die PT um mehr Transparenz kämpft: Einmal das Satelliten-Programm Sivam, und zweitens die Raketenbasis Alcântara. Beides betrifft das Amazonasgebiet, das die Hälfte des Landes ausmacht. Sivam ist ein Satelliten-Überwachungsprogramm, das Anfang nächsten Jahres in Betrieb genommen wird, und womit der unzugängliche Amazonas kontrolliert werden kann. Brasilien bezahlt den Satelliten, aber gestellt und überwacht werden die Computerprogramme von den USA, die mit an dem Projekt beteiligt sind. Wie es dazu kam, ist sehr umstritten, sagt der Herausgeber des Verlages Contrapunto, César Benjamin, der dieses Thema recherchiert hat:
Es war eine sehr geheime Entscheidung, die unter großem Druck zustande kam. Wirtschaftlich betrachtet ist Sivam beachtlich - in der ersten Etappe zwei Milliarden Dollar -, und vom strategischen Standpunkt ebenfalls sehr wichtig. Was uns am meisten Sorgen macht, ist die Tatsache, dass hier eine klare Absicht der USA deutlich wird, ihre Präsenz in Lateinamerika überhaupt zu verstärken, wie auch militärisch präsent in Amazonien zu sein. Die USA haben schon eine große Militärbase in Ecuador, sie haben eine in Guyana; und sie mieten die Basis in Alcântara in Brasilien, die den Kreis schließt. Mit Hilfe des Plan Colombia haben sie die Möglichkeit eines direkten militärischen Eingriffs in einer Region, die im Herzen von Amazonien liegt.
Die Raketenbasis Alcântara existiert bereits seit den 80er Jahren. Sie liegt an der Nordküste Brasiliens und gilt als die beste Raketen-Startbasis der Welt. Denn eine Rakete, die von dort gestartet wird, braucht 40 Prozent weniger Treibstoff als üblich, weil diese Basis fast genau auf dem Äquator liegt und die Rakete somit in einem günstigen Winkel in die Umlaufbahn geschossen werden kann. Hier wurde bisher das brasilianische Raketenprogramm entwickelt, aber vom kommenden Jahr an wollen die USA die Basis mieten. Die Bedingungen sind jedoch fragwürdig: In dem Mietvertrag mit dem Amerikanern steht beispielsweise, dass in Zukunft Alcântara ausschließlich von den USA kontrolliert wird, und die brasilianischen Wissenschaftler, Techniker und Militärs nur noch mit ausdrücklicher Erlaubnis der USA auf das Gelände dürfen. Die einheimische Raketenentwicklung wird damit quasi gestoppt.
All das ärgert die sehr nationalistisch eingestellten Brasilianer. Es herrscht das Gefühl, der amtierende Präsident Cardoso habe die Unabhängigkeit des Landes verkauft, und davon profitiert natürlich der Oppositionskandidat Lula. Brasilien, und vor allem das Amazonasgebiet, ist geostrategisch sehr begehrt, sagt César Benjamin:
Das ist eine Region, die von großem strategischen Wert im 21 Jahrhundert ist, aber eine schwache Region, was die Besiedlung betrifft, oder auch die militärische Kontrolle. Brasilien hat zigtausend Kilometer Grenze in der Amazonas-Region, die nicht kontrolliert werden. Zwischen einem Grenzposten und dem nächsten verlaufen im Schnitt 2000 Kilometer. Und es ist eine Region, die sehr reich ist an Biodiversität, sie hat große Süßwasserreserven und strategisch wichtige Mineralien. Vieles ist nicht einmal entdeckt worden - jedenfalls noch nicht von uns. Es existieren auch große Energiereserven am Amazonas. Zum Beispiel Stromerzeugung durch Wasserkraft, Erdgas -und Erdölreserven, auch Schweröl, das alles wird noch gar nicht gewonnen. Wir sind überzeugt, dass diese Region im 21.Jahrhundert zunehmend wichtiger wird.
Um so entscheidender ist diese Wahl. Wenn Lula gewinnt, wird ein Linker das größte und reichste Land Lateinamerikas regieren, und damit ein Zeichen für die gesamte Region setzen.
Die Koalitionen in Brasilien folgen keiner inhaltlichen Logik. In Europa gibt es Mitte-Rechts-Koalitionen, oder rot-grün; es gibt eine gewisse Kohärenz. Hier jedoch nicht, weil die Parteien nicht wie beispielsweise europäische beschaffen sind, und sie oft auch kein Programm haben, deshalb sind alle Koalitionen nur auf den numerischen Sieg ausgerichtet. Oft genug ist so eine Koalition zwar ein Zahlensieg, aber politisch eine Niederlage. Zum Beispiel die Koalition der Arbeiterpartei mit den Liberalen, eben weil sie nicht liberal sind, sondern konservativ. Sie sind liberal höchstens im wirtschaftlichen Sinn, aber extrem konservativ in Bezug auf Freiheiten. Diese Koalition soll Stimmen bringen, aber dabei sind viele Inhalte verloren gegangen.
Nach dem ersten Wahlgang (vor drei Wochen) ist die Arbeiterpartei PT der große Favorit. Ihr Kandidat, Luiz Inácio da Silva, genannt Lula, bewirbt sich schon das vierte Mal um die Präsidentschaft. Diesmal sieht es so aus, als ob er gewinnen wird. Der Kandidat der Regierungspartei, José Serra, - Lulas Gegner in der Stichwahl - liegt weit abgeschlagen zurück. Alle anderen Oppositionsparteien haben ihre Anhänger aufgerufen, Lula zu wählen. Lula - der Spitzname bedeutet 'Tintenfisch' - wird Luiz Inácio da Silva seit jeher genannt, weil er immer alle Leute umarmte. Der 57jährige ist ein ungewöhnlicher Präsidentschaftskandidat: Sohn armer Bauern aus dem Nordosten des Landes, der nur fünf Jahre zur Schule ging, und schon als Kind hart arbeiten musste, um der Familie das Überleben zu sichern. Als Gewerkschaftsführer der Metallarbeiter leitete er Streiks, war während der Militärdiktatur inhaftiert, und gründete schließlich 1980 die Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores, PT. Nun hat er gute Chancen, zum nächsten Präsidenten gewählt zu werden. Dann erwarten ihn jedoch einige unangenehme Aufgaben, sagt der Ex-Wirtschaftsminister und jetzige Präsident der Dresdner Bank/Brasilien, Winston Fritsch:
Erstens, die internationale Kreditwürdigkeit wiederherstellen, und Brasiliens Teilnahme an der offenen, globalisierten Ökonomie bestätigen, also die allgemeinen Spielregeln einhalten . Nicht als Kopie von Cardoso – aber es gibt positive Dinge wie eine verantwortungsbewusste Steuerpolitik, die beibehalten werden sollten. Die Cardoso-Regierung hat viele wichtige Dinge unerledigt gelassen, zum Beispiel die Sozialversicherungs-Reform und die Steuer-Reform. Beide Präsidentschaftskandidaten wissen, dass diese Reformen notwendig sind, dass die Konkurrenzfähigkeit ausgebaut werden muss, damit der Staat nicht so sehr von internationaler Finanzierung abhängig ist. Die neue Regierung hat also viel vor sich, aber sie sollte als allererstes das, was in der Cardoso-Ära gut war, fortführen, als Basis für die Vertrauenswürdigkeit, die Brasilien auf dem Finanzmarkt und bei internationalen Institutionen genießt.
Auf der internationalen Bühne wird jedoch bereits die Angst vor Lula geschürt. In der Tat dürfte ein Sieg der linken Arbeiterpartei in Brasilien - dem größten Land Lateinamerikas - Auswirkungen auf den gesamten Kontinent haben. Auf dem Finanzmarkt herrscht schon jetzt Aufregung: Der Wert der brasilianischen Währung Real sank in diesem Jahr um 68 Prozent. Die US-amerikanische Zeitung New York Times erklärte bereits, ein Sieg Lulas würde 'der Administration Bush sehr missfallen'. Möglicherweise werden die Brasilianer trotzdem Lula wählen. Aber das ist kein Grund zur Aufregung, meint der Banker Winston Fritsch:
Erst mal sollte man nicht so ernst nehmen, was Präsidentschaftskandidaten während der Wahlkampagne sagen. Bush zum Beispiel, der eigentlich ein sehr liberales Land führt, macht eine furchtbare Steuerpolitik, - das sind Mängel der parlamentarischen Demokratien. Ich glaube nicht, dass Lula oder irgendein anderer Kandidat Brasiliens Verpflichtungen in der globalisierten Wirtschaft verletzen wird. Niemand plädiert für eine Schließung des brasilianischen Marktes; niemand schlägt vor, die Schulden nicht zu bezahlen.
Der Schuldendienst Brasiliens beläuft sich allerdings auf rund 33 Milliarden US-Dollar pro Jahr. 55 Prozent des Staatshaushaltes gehen für die Bezahlung der Zinsen drauf, mehr als für den Gesundheits- und Ausbildungssektor zusammen.. Während der nächsten zwei Jahre muss der Staat jede Woche eine Milliarde Dollar an Zinsen bezahlen. Das wird schwierig werden, sagt der Soziologieprofessor Emir Sader:
Obwohl Lula für das Desaster in Brasilien nicht verantwortlich ist, muss er das Abenteuer eingehen, die jetzige Politik zu verändern. Er selbst sagt, es lohnt sich nur zu gewinnen, um diese Politik zu verändern, aber die Fallen sind schon gestellt. Er hat nur wenig Spielraum zum Manövrieren. Vor allem muss er einen Übergang ohne Instabilität versprechen und gewisse Garantien geben; aber ich bin nicht sicher, dass er das erfüllen kann. Meiner Meinung nach wird jeder Kandidat die Auslandsverschuldung neu verhandeln müssen. Es ist unmöglich, eine Milliarde Dollar pro Woche aufzutreiben – das war schon immer schwer, aber jetzt - mit der internationalen Rezession, mit der argentinischen Krise, dem Misstrauen gegenüber Brasilien, weil ein linker Kandidat gewinnen könnte – wird jeder neu verhandeln müssen. Aber es ist natürlich sicherer, wenn schon mal das Versprechen gegeben wurde, man werde zahlen; auf die Art hat man mehr Ruhe in den Verhandlungen. Lula ist auf Stabilität festgelegt, ohne die Möglichkeit, drastische Veränderungen in der Wirtschaftspolitik einzuleiten, obwohl er andererseits mehrheitlich für den Wandel gewählt wird.
Die Bevölkerung ist in den acht Jahren Cardoso-Regierung vielfach verarmt; Gründe sind die hohe Arbeitslosigkeit und die stark gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel. Die Menschen hoffen nun auf eine Richtungsänderung in der Wirtschaftspolitik. Der 33jährige Écio de Salles arbeitet als Sozialarbeiter in Elendsvierteln. Er will für Lula stimmen, aber hauptsächlich, weil er PT-Politiker auf jeder Ebene der Gesellschaft sehen will:
Lula ist kein wundertätiger Heiliger, Gott sei Dank, kein Messias. Er kann nicht regieren ohne den Privatsektor und die Unterstützung der Gesellschaft überhaupt. Ein substantieller Wechsel im Kongress bedeutet auch eine wichtige Veränderung bei Bürgermeistern usw., die normalerweise durch Korruption hochkommen. Privatleute investieren sehr wenig in soziale oder kulturelle Projekte. Es ist nicht einfach, die Probleme dieses Landes zu lösen.
Viele Menschen aber sind rundum enttäuscht von der Politik und den Politikern, wie etwa der 43jährige Hausmeister Antonio do Paiva Correa. Er kam vor Jahren aus dem armen Nordosten des Landes nach Rio de Janeiro, wo er heute mit seiner Familie in einer winzigkleinen Wohnung lebt:
Sehen Sie, Politiker verhalten sich folgendermaßen: Während des Wahlkampfes versprechen sie tausendundeine Sache. Dann gehen sie auf die Straße, küssen die Kinder, sagen, dass sich alles - zum besseren -ändern wird, und wenn sie dann gewinnen, ist alles vergessen und vorbei. Die Versprechungen sind vergessen, und sie machen, was sie tatsächlich vorhatten. Das Volk wird von den Politikern betrogen. Während des Wahlkampfes ist alles anders: Sie kommen zu uns, und versprechen, dass sich alles verändern wird, und wenn sie dann gewinnen, dann sieht man sie nie wieder. Deswegen sind Politiker für mich einfach Lügner.
Trotz dieser Politikmüdigkeit gibt es einen Mann, dem der Hausmeister Antônio vertraut - dem Präsidentschaftskandidaten der Arbeiterpartei PT, Luiz Inácio 'Lula' da Silva:
Wenn die neue Regierung etwas ändern will, kann sie das auch. Aber es kommt auf den guten Willen an. Der einzige Politiker, für den man momentan stimmen kann, ist Lula. Lula ist der einzige. Er ist zwar auch nur ein Mensch, aber es gibt keinen anderen. Ich werde für Lula stimmen.
Die Einkommensverteilung in Brasilien ist äußerst ungerecht. Die Ärmsten - und das sind 20 Prozent der Bevölkerung - müssen sich mit rund 2,5 Prozent des Volkseinkommens begnügen, während 20 Prozent der Reichsten über Zweidrittel verfügen. 53 Millionen Menschen sind arm und davon haben 23 Millionen nicht einmal genug, um sich ausreichend zu ernähren. Die Menschen in den Favelas, den Elendsvierteln der Städte, und die Armen auf dem Land setzen ihre Hoffnung auf Lula, der eine Landreform und ein gerechteres Steuersystem versprochen hat. Wie zum Beispiel in São Domingues do Capim, einem Dorf in der Amazonasregion. Hier leben die Menschen von den Fischen, die sie im Fluss angeln, von Maniok-Wurzeln und Palmfrüchten.
Die 52jährige Bäuerin Lucia del Mar Batista Soares hat in ihrem Haus mitten im Urwald zehn Kinder und fünf Enkel großgezogen. Sie ist eine magere, sehnige Frau mit wettergegerbtem Gesicht. An der Wand ihres Holzhauses hängen Bilder von Lula :
Ja, mit der PT könnte sich schon was ändern. Mit all den anderen Kandidaten wie Serra, da wissen wir schon, wie die sind, die zu wählen, den Fehler machen wir nicht noch mal. Die Leute sind nicht mehr unwissend, also diesmal PT, echt PT.
Die Probleme der Landbevölkerung sind vielfältig. Zum einen gibt es sehr viele Landlose - rund 16 Millionen, meist ehemalige Kleinbauern, die aber nur noch als Tagelöhner auf den Äckern der Großgrundbesitzer arbeiten. Viele von ihnen sind in der Landlosen-Bewegung MST organisiert, schätzungsweise vier Millionen Familien, alles sichere Wählerstimmen für Lula. Ein weiteres Problem der Landbevölkerung ist die fehlende Infrastruktur. Es gibt zuwenig Straßen und Transportmittel, um die Ernte auf die Märkte zu schaffen. Viele Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser oder Elektrizität. Eine Stromleitung ins Dorf ist auch der große Traum der Bäuerin Lucia del Mar:
Seit vier Jahren haben wir einen kleinen Stromgenerator. Aber dieser Motor ist sehr teuer; es kostet viel, ihn laufen zu lassen. Das Geld dafür zusammenzukratzen, ist ein großes Opfer für uns. Wir brauchen Strom für den Kühlschrank, wenn wir kaltes Wasser trinken möchten. Wir haben auch einen Fernseher, und wir sehen gerne fern. Hier wohnen wir weitab von allem, es gibt keine Ortschaft in der Nähe, dann guckt man gerne in den Kasten. Damit man sich die Zeit ein bisschen vertreibt.
Cristiano Martines ist der Umweltsekretär des Ortes São Domingues. Der junge Afrobrasilianer tut alles, um den Bauern der Region die Tür zum Weltmarkt zu öffnen - unter anderem mit der Hilfe deutscher Entwicklungsprojekte.
In dieser Region bauen die Leute hauptsächlich Maniok an. Aber das Produkt, das die meisten Möglichkeiten bietet, ist die Frucht der Açaí-Palme, die hier überall wächst. Açaí wird hier sehr viel verwendet. Und sollte es eines Tages nicht mehr auf dem Markt angeboten werden, hätten wir ein ernsthaftes Problem. Wir haben also einen lokalen und einen externen Markt, auch einen internationalen, weil die Acaí eine Art Mode-Frucht geworden ist, in Europa zum Beispiel. Die Leute könnten hier noch mehr Acaí anbauen, im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung.
Das Land ist in den Händen weniger Großgrundbesitzer: Nur drei Prozent kontrollieren 60 Prozent des Bodens, der vielfach brach liegt. Wesentlich effektiver arbeiten die kleinen Familienbetriebe. Damit eine Agrarreform wirklich greift, ist eine doppelte Strategie notwendig: Erstens, die Enteignung brachliegender Flächen und ihre Verteilung an Landlose, und zweitens die technische und finanzielle Unterstützung der Familienbetriebe. Die afrobrasilianische Menschenrechtsaktivistin Ana Amélia Campos Mafra erklärt, um welch grundlegende Ungerechtigkeiten es auf dem Lande geht:
Die Frage der Agrarreform in der Provinz...hier ist noch von den 'Landherren' die Rede. Nach 500 Jahren Kolonisierung, heute, im 21.Jahrhundert, gibt es immer noch 'Landherren', die alles bestimmen. Man fragt zum Beispiel in einem Ort, warum gibt es in diesem Dorf keine Schule? Und die Leute antworten: Weil der Herr keine will. Die schwarze und entrechtete Bevölkerung auf dem Land kann nicht frei über sich selbst bestimmten. Da ist immer ein Herr, der vorschreibt, was man darf und was man nicht darf, und der die Leute bestraft.
Die Wirtschaftspolitik, Arbeitsplätze und die Agrarreform waren zentrale Themen in diesem Wahlkampf. Und eine geostrategische Frage gab Lula Aufwind - nämlich der Streit um zwei militärische Projekte, bei denen die PT um mehr Transparenz kämpft: Einmal das Satelliten-Programm Sivam, und zweitens die Raketenbasis Alcântara. Beides betrifft das Amazonasgebiet, das die Hälfte des Landes ausmacht. Sivam ist ein Satelliten-Überwachungsprogramm, das Anfang nächsten Jahres in Betrieb genommen wird, und womit der unzugängliche Amazonas kontrolliert werden kann. Brasilien bezahlt den Satelliten, aber gestellt und überwacht werden die Computerprogramme von den USA, die mit an dem Projekt beteiligt sind. Wie es dazu kam, ist sehr umstritten, sagt der Herausgeber des Verlages Contrapunto, César Benjamin, der dieses Thema recherchiert hat:
Es war eine sehr geheime Entscheidung, die unter großem Druck zustande kam. Wirtschaftlich betrachtet ist Sivam beachtlich - in der ersten Etappe zwei Milliarden Dollar -, und vom strategischen Standpunkt ebenfalls sehr wichtig. Was uns am meisten Sorgen macht, ist die Tatsache, dass hier eine klare Absicht der USA deutlich wird, ihre Präsenz in Lateinamerika überhaupt zu verstärken, wie auch militärisch präsent in Amazonien zu sein. Die USA haben schon eine große Militärbase in Ecuador, sie haben eine in Guyana; und sie mieten die Basis in Alcântara in Brasilien, die den Kreis schließt. Mit Hilfe des Plan Colombia haben sie die Möglichkeit eines direkten militärischen Eingriffs in einer Region, die im Herzen von Amazonien liegt.
Die Raketenbasis Alcântara existiert bereits seit den 80er Jahren. Sie liegt an der Nordküste Brasiliens und gilt als die beste Raketen-Startbasis der Welt. Denn eine Rakete, die von dort gestartet wird, braucht 40 Prozent weniger Treibstoff als üblich, weil diese Basis fast genau auf dem Äquator liegt und die Rakete somit in einem günstigen Winkel in die Umlaufbahn geschossen werden kann. Hier wurde bisher das brasilianische Raketenprogramm entwickelt, aber vom kommenden Jahr an wollen die USA die Basis mieten. Die Bedingungen sind jedoch fragwürdig: In dem Mietvertrag mit dem Amerikanern steht beispielsweise, dass in Zukunft Alcântara ausschließlich von den USA kontrolliert wird, und die brasilianischen Wissenschaftler, Techniker und Militärs nur noch mit ausdrücklicher Erlaubnis der USA auf das Gelände dürfen. Die einheimische Raketenentwicklung wird damit quasi gestoppt.
All das ärgert die sehr nationalistisch eingestellten Brasilianer. Es herrscht das Gefühl, der amtierende Präsident Cardoso habe die Unabhängigkeit des Landes verkauft, und davon profitiert natürlich der Oppositionskandidat Lula. Brasilien, und vor allem das Amazonasgebiet, ist geostrategisch sehr begehrt, sagt César Benjamin:
Das ist eine Region, die von großem strategischen Wert im 21 Jahrhundert ist, aber eine schwache Region, was die Besiedlung betrifft, oder auch die militärische Kontrolle. Brasilien hat zigtausend Kilometer Grenze in der Amazonas-Region, die nicht kontrolliert werden. Zwischen einem Grenzposten und dem nächsten verlaufen im Schnitt 2000 Kilometer. Und es ist eine Region, die sehr reich ist an Biodiversität, sie hat große Süßwasserreserven und strategisch wichtige Mineralien. Vieles ist nicht einmal entdeckt worden - jedenfalls noch nicht von uns. Es existieren auch große Energiereserven am Amazonas. Zum Beispiel Stromerzeugung durch Wasserkraft, Erdgas -und Erdölreserven, auch Schweröl, das alles wird noch gar nicht gewonnen. Wir sind überzeugt, dass diese Region im 21.Jahrhundert zunehmend wichtiger wird.
Um so entscheidender ist diese Wahl. Wenn Lula gewinnt, wird ein Linker das größte und reichste Land Lateinamerikas regieren, und damit ein Zeichen für die gesamte Region setzen.