Samstag, 20. April 2024

Archiv


Die Armen leiden am meisten

Ein Bündnis aus Kirche, Wissenschaft und Finanzwelt analysiert in einem Report mit dem Titel "Global aber Gerecht" die wechselseitigen Verknüpfungen von Klimawandel und Armut. Nach diesem Konzept sind die Bekämpfung der Erderwärmung und die Bekämpfung der Armut zwei Seiten einer Medaille.

Von Georg Ehring | 29.11.2010
    Die großen Industrie- und Schwellenländer stehen im Mittelpunkt der Debatte um den Klimaschutz: Sie sind für den Klimawandel verantwortlich, sie sorgen für den Löwenanteil des Ausstoßes von Treibhausgasen. Und sie halten mit der Möglichkeit, ihn zu verringern, den Schlüssel für die Lösung in der Hand - was ihnen auch auf Klimakonferenzen eine große Machtposition gibt. "Global aber gerecht" hält mit einem Lösungsvorschlag konsequent aus der Perspektive der Armen dagegen. Denn die müssten, so die Autoren, eigentlich im Mittelpunkt der Debatte stehen.

    "Arme sind durch den globalen Klimawandel besonders stark bedroht, obwohl sie kaum zu ihm beigetragen haben. Der anthropogene Klimawandel ist ein Problem, das überwiegend von den reichen Ländern verursacht wurde, dessen Folgen aber überwiegend von den armen Ländern und dort besonders den Armen zu tragen sind. Solche Ungleichheiten zu berücksichtigen, ist eine zentrale Herausforderung für die internationale Klimapolitik. Insbesondere haben arme Länder einen moralischen und rechtlichen Anspruch auf Unterstützung bei der Anpassung an den Klimawandel und bei der Bewältigung von dessen Folgen."

    Formuliert werden diese Ansprüche in einer Gemeinschaftsarbeit von Kultur- und Naturwissenschaftlern vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und vom Institut für Gesellschaftspolitik an der Hochschule für Philosophie München - in einer Auftragsarbeit für die katholische Hilfsorganisation Misereor und die Münchener Rück Stiftung. Um nicht nur über, sondern auch mit den Betroffenen zu arbeiten, gab es Dialogforen mit Partnern in Entwicklungsländern, deren Sichtweise die authentische Wirkung des Werks verstärken.

    Wie sehr gerade die Armen durch den Klimawandel betroffen sind, belegen die Autoren überzeugend mit einer detaillierten Analyse dessen, was die Erderwärmung voraussichtlich anrichten wird und zum Teil bereits anrichtet: Ernten verschlechtern sich oder fallen aus, wenn Hitzewellen das Land austrocknen und der Regen gar nicht oder zu heftig kommt. Die Verfügbarkeit von Wasser wird verschlechtert, wenn Gletscher abschmelzen, Inseln gehen durch den steigenden Meeresspiegel unter und Küstenregionen leiden unter häufigeren und heftigeren Überschwemmungen. Reiche Länder können hier vorsorgen oder Abhilfe schaffen, zum Beispiel mit dem Bau höherer Deiche, arme können es kaum. Das gilt besonders, wenn der Klimaschutz erfolglos bleibt und die Erde sich in diesem Jahrhundert stärker erwärmt - etwa um dreieinhalb bis über vier Grad, eine Größenordnung, auf die der Planet derzeit nach Ansicht auch der Autoren zusteuert.

    "Die Folgen einer Erwärmung um mehr als zwei Grad wären mit großer Wahrscheinlichkeit so erheblich, dass die Forderungen der Gerechtigkeit für viele heute und zukünftig lebende Menschen nicht mehr einzuhalten wären. Besonders in den ärmeren Weltregionen wäre erfolgreiche Anpassung oft nicht mehr möglich."

    Die Suche nach Gerechtigkeit im Klimaschutz ist ein zentrales Anliegen des Buches. Ein ganzes Kapitel widmet sich ausschließlich dieser ethischen Dimension, ausgehend von den Menschenrechten auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Der Klimawandel beeinträchtige diese Menschenrechte, indem er Lebenschancen nimmt. Aus Sicht der Armen in Entwicklungs- und Schwellenländern heißt dies:

    "Gerechter Klimaschutz ist deshalb in ihren Augen eine Aufgabe der Industrieländer, die in den letzten zwei Jahrhunderten mit Abstand am meisten CO2 in die Atmosphäre ausgestoßen haben. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die intergenerationelle Gerechtigkeit. Viele Menschen bezeichnen es als ungerecht, dass die Interessen kommender Generationen viel zu wenig berücksichtigt werden. Weil auch zukünftig lebende Menschen eine Welt vorfinden sollen, die ihnen gute Lebenschancen ermöglicht, sei Klimaschutz ein Gebot der Gerechtigkeit."

    Bei der Suche nach einer Lösung gehen die Autoren vom Konzept des CO2-Budgets aus. Um die weltweite Erwärmung mit 75-prozentiger Wahrscheinlichkeit bei zwei Grad oder niedriger zu halten, dürfen bis zur Mitte des Jahrhunderts nur noch insgesamt etwa 830 Gigatonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre entweichen. Ein Budget, das in 30 Jahren erschöpft wäre, wenn die Menschheit weiter so viel CO2 ausstoßen würde wie im ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends. Doch die Emissionen wachsen sogar noch, eine schnellere Erschöpfung des Budgets ist vorgezeichnet. Jeder Mensch habe im Prinzip das gleiche Emissionsrecht - und wenn die Industrieländer auch künftig pro Kopf mehr ausstoßen wollen als die Entwicklungsländer, müssten sie ihnen die Emissionsrechte dafür abkaufen. Die Autoren schlagen also einen globalen Emissionshandel vor. Er erlaube es, große Summen für eine klimaverträgliche Entwicklung armer Länder zu mobilisieren. Eine solche Synthese von Klimaschutz und Entwicklungspolitik ist das Kernanliegen der Autoren. Dazu sei ein weltweit gültiges Abkommen erforderlich. Sie nennen es einen neuen "Global Deal", diesen Begriff hat der Klimaökonom Nicholas Stern in die Debatte eingeführt. Der Begriff "Global Deal" stehe seit Franklin D. Roosevelt für die Notwendigkeit, "die Karten neu zu mischen und zu verteilen".

    "Dies gilt durchaus auch für den hier vorgeschlagenen Deal, allerdings mit dem großen Unterschied, dass es sich hier um einen Global Deal für Klimaschutz und Entwicklung handelt. Weil beide Ziele Herausforderungen sind, die nur weltweit zu lösen sein werden, wird der Gedanke des Deals auf die Ebene globaler Zusammenarbeit übertragen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, Klimaschutz und Entwicklung aufgrund ihrer vielfältigen Wechselwirkungen systematisch miteinander zu verbinden. Dabei spielt die zwischenstaatliche Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen eine Schlüsselrolle."

    Begrenzung des CO2-Ausstoßes und Handel mit Verschmutzungsrechten, nachhaltige Nutzung von Wäldern, Transfer klimafreundlicher Technologien, Anpassung an unvermeidliche Klimaschäden und Entwicklungspolitik, das sind die fünf Säulen, auf denen der "Global Deal" ruhen soll. Insgesamt ein schlüssiges und durchdachtes Konzept, das den Kampf gegen den Klimawandel sinnvoll in die Entwicklungspolitik integriert: Eine klimafreundliche Entwicklung erleichtert fast als Nebeneffekt auch die Linderung gefährlicher Folgen des Klimawandels. Im Fokus des Buchs auf Armut und Gerechtigkeit liegt freilich auch ein Problem: In der realen Klimapolitik spielen solche Erwägungen praktisch keine Rolle. Auf dem Klimagipfel in Cancun wird es wie in Kopenhagen kaum um Gerechtigkeit gehen, sondern um Interessen und zwar vor allem um die der reichen Länder.

    Die Forderung nach Gerechtigkeit ist dadurch nicht weniger aktuell, doch eine Auseinandersetzung mit dieser Diskrepanz fehlt in dem Buch. Trotzdem bietet "Global aber gerecht" eine lohnende Lektüre. Die Einsichten in globale Zusammenhänge muss sich der Leser stellenweise allerdings auch mühsam erarbeiten. Vor allem wenn es um ethische Dimensionen wie Gerechtigkeit und Lebenschancen geht, wird einiges Mitdenken abverlangt. Wer dies auf sich nimmt, weiß nach der Lektüre, warum es beim Klimaschutz um mehr geht als die Begrenzung des Ausstoßes von Treibhausgasen.

    Ottmar Edenhofer, Hermann Lotze-Campen, Johannes Wallacher und Michael Reder (Hrsg.): Global aber gerecht. Klimawandel bekämpfen, Entwicklung ermöglichen. C.H. Beck-Verlag, 240 Seiten, 19,95 Euro