Der Roman hat vier Kapitel, die auf den ersten Blick auseinanderzufallen scheinen. Im ersten und vierten geht es jeweils um einen Aufbruch in die USA: eine etwa dreißigjährige Frau aus Ostberlin und ein sechzigjähriger Schriftsteller aus Westberlin. Es sind völlig unterschiedliche Geschichten. Gemeinsam ist ihnen das Thema der Emigration, der Duktus, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Zwischen diese beiden Kapitel sind zwei Monologe geschaltet, die dieselbe Person spricht: der ehemalige Mann der Frau aus dem ersten Kapitel, ein Schauspieler und Serienmörder. Dies ist eine völlig andere Sprachwelt, die Monologe dieser Personen ragen offenkundig aus einer anderen Zeit herein. )
"Pointillismus der Nacht": dies ist ein Leitmotiv, das im Monolog des Schauspielers und Serienmörders wiederkehrt, und es weist auch auf das Stilprinzip des Autors Jirgl. Und einmal, als der Schriftsteller des vierten Kapitels im Flugzeug nach New York seine Sitznachbarin beschreibt, verwischen sich die Ebenen, und der Autor tarnt sich lustvoll durch seinen Protagonisten:
"Gleich nach dem Start, noch vorm Verlöschen der Leuchtanzeige "Anschnallen", hatte sie die Ablage vor sich heruntergeklappt & sofort darüber eine Flut Papiere & Utensilien hingegossen: Notizzettel Kugelschreiber Markierstifte & Büroklammern, & noch mehr Papiere aus Schnellheftern gelöst so, als wolle sie vom 1. -Moment-an in ein großes Arbeitspensum sich stürzen, vielleicht indem sie ihre dafür von Daheim vertraute Atmosfäre, zumindest notdürftig, hier Drinnen sich wiedererschuf. Unwillkürlich erinnerte mich dies geschäftige Tun der Frau & der Anblick all ihrer verstreut umherliegenden Papiere an lange, in-sich verschachtelte Sätze, mit Parenthesen und Abbrüchen, Wiederaufnahmen der Hauptsätze nach langen, beschwerlichen Wegen über grammatische Hügel Berge & durch Täler, in deren Schatten u Tiefen Nebensätze u Partikel auch ohne je den Anschluß an einen Hauptsatz wiederzufinden, wie in den Gefilden der Unterwelt verlorengehen können."
Es gibt in diesem Roman ein Verweisungssystem zwischen den Personen, Verspiegelungen von Motiven, die eben genannte "Unterwelt" gehört dazu. Im Text selbst herrscht jedoch viel Theaterdonner. Jirgl hat schon früher Monologe, Quasi-Theatertexte geschrieben; in diesem Roman greift er auf dieses Prinzip zurück. Der rhetorische Gestus, der Charakter des Mündlichen führt auf der einen Seite zu subjektiver Eindringlichkeit, auf der anderen Seite kommt es zu Wiederholungen, zu einer Beliebigkeit in den Wortkaskaden. Die Sprache wirkt oft ratternd, oberflächlich räsonnierend, nicht mehr so recht durch die Typologie der jeweils sprechenden Figur gedeckt. Die Figuren hangeln sich in ihre Spiralen hinein, direkte Rede, Alltagssprache, Zoten, Wortmüll. Das verselbständigt sich oft, ist nicht mehr durch eine strenge Form begründet. Die Ästhetik rastet aus.
Die Frau, die in New York ein völlig neues Leben beginnen will, nehmen wir aus der Perspektive ihres Bruders wahr. Er erzählt, stakkatohaft, in immer neuen Anläufen, durchbrochen von der wörtlichen Rede seiner Schwester. Wir geraten in ein Dresdner Familiendrama, das lauter zerstörte einzelne hervorbringt: der Vater, der sich die letzten Jahre seines Lebens auf den Dachboden zurückzieht und Selbstmord verübt; die Mutter, die sich plötzlich von ihm lossagt und mit einer Frau aus dem Westen eine lesbische Beziehung eingeht; die Tochter, die einen Schauspieler heiratet, der zum Psychopathen und Mörder wird.
Die Darstellung eines ersten Ausbruchsversuchs dieser Frau, die keinen Namen hat und nur als >Schwester < fungiert, ist einer der Höhepunkte des Romans: in New York, kurz vorm Beginn einer neuen Identität, wird sie von der Einreisebehörde auf dem Flughafen gefilzt und festgehalten; sie hat in einer Verkettung von Zufällen unwissentlich gegen die Bestimmungen verstoßen. Sie wird wieder nach Europa abgeschoben, und geschildert wird dies an dem Zeitpunkt, an dem der Bruder sie aufgenommen hat und alles aus ihr herausbricht, was sie zu überwinden getrachtet hatte: ihre Familien- und Liebesgeschichte, ihre alten Fesseln - der Versuch einer Selbstzerstörung. In allen körperlichen Details wird dieser Vorgang minuziös dargestellt: vom Bruder, der das Zimmer nebenan bewohnt und sich totzustellen versucht, wenn sie nachts an den Kühlschrank geht, sich im Bad einschließt, zu wimmern und zu schreien beginnt.
Die Lebensgier, die die Figuren Jirgls ausstrahlen, rührt von einem grundlegenden Defizit her: jegliche Emotionalität stößt an gesellschaftliche Barrieren, richtet sich gegen sich selbst. Die Dresdner Familie, die in diesem Roman in ihre Einzelteile zersprengt wird, ist von vornherein zerrüttet; eine schwarze Utopie liegt einzig darin, daß die Tochter auszubrechen versucht. Jirgl hat in seinen DDR-Obsessionen selten die proletarische Welt beschrieben, die krude gesellschaftliche Basis - ganz im Gegensatz zu Wolfgang Hilbig, der der einzige ist, mit dem man ihn vergleichen kann. Jirgls Hölle ist die bürgerliche Familie. Und diese Hölle wird umso beredter, je mehr die Figuren zu künstlerischen Ausdrucksversuchen neigen, das bildet geradezu das Stigma des Scheiterns: der Vater, der in Bildender Kunst dilettiert und zu nichts weiter fähig ist, als endlos den Maler Matisse zu kopieren; die Tochter, die in die Theaterszene einsteigen möchte und sich in der Beziehung zu einem wild um sich schlagenden Schauspieler verliert. Die Tochter kommt immer wieder auf ihre Geschichten zurück, einmal wird das von einem Gesprächspartner so wiedergegeben:
"Und die Gestalten, von denen sie in ihrer immergleichen Manier erzählte, sie erinnerten mich an Zeichnungen von Kindern, darauf die Figuren ohne Schatten boden- hintergrund- & geschichtslos zu schweben scheinen oder: vielmehr als Schwebende hin1gestellt in einen schwerelosen glückhaften Raum, als krakelige Wegweiser in die helle Leere des Zeichenblattes deutend; Wegweiser, wie altvertraute, etwas grob=gleichförmig u unbeholfen gefertigte Masken, mit denen von diesen Kindern elterliche Freundlichkeit Zuwendung u Beschütztheit für die Dauer von Etwas beschworen werden, das diesen Kindern als Das-Leben erscheinen muß : die in Schalenform nach-oben geschwungenen derben Striche als Lachmünder in helle Gesichter gebannt; Gesichter jener Mutter-Vater-Geschwister-Figuren, von ebensolch derben aber friedvollen Strichen umrahmt. Diese Masken, 1 Mal geschaffen, kann niemand abnehmen, die Haut risse ab u das rohe Fleisch bliebe übrig von einem Gesicht-."
Schon im ersten Kapitel des Romans wird klar, daß die existenziellen Endsituationen nicht mehr nur auf den Osten bezogen werden: die "Schwesterfrau", mit der die Mutter der Dresdner Familie ausbricht, kommt aus Bochum und wählt als Exilland die DDR. Langsam bildet sich die Geschichte dieser Frau heraus: bürgerliches 68er-Milieu, irgendwie linksradikal, im Kampf gegen Kapitalismus und Patriarchat erstarrt - es klingen sogar Anspielungen auf die Geschichte der RAF durch, von der einige Mitglieder in der DDR untertauchten. Wildes unreflektiertes Räsonnieren scheint diese Satzperioden vor sich her zu treiben, und es ist nicht klar zu trennen, was den Figuren und was der Erzählhaltung des Textes selbst zuzuschreiben ist. Im nihilistischen Brennspiegel dieser Prosa bleibt nichts übrig. Die Frau wurde bereits als Fünfjährige von ihrem Vater mißbraucht, die gesamte Pubertät hindurch: die psychischen Zerrüttungen, die politischen Phantasien gehen atmosphärisch ineins mit dem sechswöchigen Lageraufenthalt vor der Einbürgerung in die DDR, mit dem Kaputten des Ost-Alltags. )
Der Westen wird inkorporiert in die apokalyptische Landschaft des Ostens; der Osten ist global. In den Visionen Jirgls ist der Mensch auf seinen Körper reduziert, auf die Ausdünstungen, die Exkremente, das Dahinsiechen; auch die Lust ist eine Qual. Das >Fleisch < ist in diesem Buch ein fortwährender Metaphernherd, und es erscheint immer ausgebrannt und ausgeweidet: "ein Körper alt & fett, eine wuchtige Masse Fleisch, zu Falten & Hautplacken geworfen" . Die Familie zieht zwangsläufig Motive dieser Bildwelt auf sich: "Sie & Die Verwandtschaft. Nabelschnur der Genealogie. Samenfäden. Ruhe. Lange Molekülketten. Verfaultes Eiweiß. Die Kapitel der 1zelnen & die Fortsetzungen im endlosen Text des Fleisches. Bottiche vergammelnder Eingeweide. Das reicht."
Der Monolog des Schauspielers / Serienmörders ist durchzogen von der Spur dieses Fleisches, bis hin zu weltanschaulichen Raffungen: "Die Verheißung die Verwesung" und der Imagination des Jüngsten Gerichts: "Dort steht er dann, der Mensch, Körper & Gehirn markiert wie beim Fleischer auf der Schautafel das Rindviech".
Und eine Beschreibung des Molochs Berlin kulminiert nicht von ungefähr im Bild des Fleisches: "Mit dem nassen Pappschnee spritzten Autoreifen bunte Reklamewände grau. In der Stadt Gerüchte & Gerüche. Immobilienschwindel Transferrubel Geheimekonten. Moschus Patschuli wie welker Gräberduft. Als läge gestunkenes, vergammeltes Fleisch ausgestreut. Hier in dieser Stadt..... Und MAN habe das Gestunkene, Vergammelte rasch noch überparfümiert. Damit niemand nichts weiß..... Berlin. Eine Fleischbucht. 1 winziges Europa in den Fleischerbuchten von Europa."
Das letzte Kapitel entwickelt eine ungeahnte neue Dynamik. Es geht um einen Schriftsteller, der aus dem Westen Berlins in die USA übersiedelt, zu seinem Sohn, den er seit langem nicht mehr gesehen hat. Der Schriftsteller ist in seinem Beruf erfolgreich gewesen, hat seinem Sohn das Studium in Boston finanziert und durch seine Beziehungen sogar dafür gesorgt, daß der Sohn von Anfang an mit einer Amerikanerin aus gutem Hause liiert ist. Im Haus dieser Familie, zwei Fahrstunden von New York entfernt in den wüsten Wäldern der Catskill Mountains, kommt es nach einer Woche, eines Nachts zum Showdown der beiden: jeder hat auf seine Weise abgewirtschaftet, ist isoliert; eine Einsamkeit, die man sich nur noch durch ein unendlich geflochtenes Band des Erzählens fernhalten kann. Die Frau des Sohnes ist schon längst ihre eigenen Wege gegangen und dabei, die endgültige Trennung zu vollziehen. Und für den Schriftsteller war das Haus des unbekannten Sohnes der letzte Fluchtpunkt.
Im Dialog, beziehungsweise in den sich verschränkenden Monologen der beiden gelingen Jirgl aufregende, neue Bilder: Straßenzüge in Brooklyn, das Grand Central Terminal, Streiflichter in die Kunstszene, in der die Frau des Sohnes sich selbst verwirklichen will. Und im gegenseitigen Auffädeln der Lebensgeschichte von Vater und Sohn, die gleichermaßen an ein Ende gekommen sind, ergeben sich ungeahnte Bezüge. Es geht um das Phantasma der Frau, für beide das Bild ihres Scheiterns: beim Sohn ist es seine Frau Helen, beim Schriftsteller die Frau, neben der er im Flugzeug gesessen ist und die ihm ihrerseits ihre Lebensgeschichte erzählt hat. Die Verhaltensweisen der Frauen ähneln sich, die Befreiungsbewegungen der Frauen gehen in dieselbe Richtung, und in einem imaginären Raum werden diese beiden konkreten Frauen zu ein und derselben literarischen Person - ein Assoziationsfeld, das Jirgl raffiniert aufbaut.
Die Frau im Flugzeug, das wird durch das Bezugssystem dieser Prosa klar, ist identisch mit der Schwester, die im ersten Teil des Buches spricht. Daß sie nun zu einem zweiten Anlauf in der Neuen Welt ansetzt, daß ihr dies glückt und sie, wie am Schluß erkennbar wird, in der New Yorker Galerieszene Fuß zu fassen beginnt: dies zeigt, daß dieser neue Roman Jirgls eine Grenze überschreitet. Die Frau, die Hauptfigur des Romans, spricht nie selbst. Es wird von anderen, eher unbeteiligten männlichen Figuren, höchstens wiedergegeben, was sie erzählt hat - in diesem Modell wird, im Subtext, theoretisch auch verhandelt, wie man eine Frauengestalt als Mann überhaupt sprechen lassen kann.
Die Frau erzählt bereits im ersten Kapitel, nach der Katastrophe durch die Zurückweisung der US-Grenzbehörden am Flughafen, wie um ihr Leben: durch dieses Erzählen vollzieht sich ein Prozeß, eine Produktion von Erfahrung, durch die sie ihrem Leben eine Wende geben kann. Diese Form des Erzählens entspricht dem, was im eigentlichen Sinn Literatur ausmachen kann.
"Die atlantische Mauer" greift an einigen zentralen Stellen den Orpheus-Eurydike-Mythos auf: Orpheus, der große Sänger, der in die Unter-und Totenwelt hinabsteigt, um seine Geliebte Eurydike zurückzuholen. Fast scheint ihm das durch seine Kunst zu gelingen: aber er verstößt gegen die Bedingung, sich auf dem Weg in die Oberwelt nicht nach ihr umzuschauen.
Orpheus ist in Jirgls Roman doppelt präsent: der Schriftsteller des letzten Kapitels hat einmal einen Orpheus-Roman geschrieben, und der Schauspieler/Mörder spielt den Orpheus in einer zeitgenössischen Filmadaption; das dritte Kapitel der >Atlantischen Mauer <, der zweite Monolog der Schauspieler-Figur, handelt davon. Der Schauplatz des Romans ist in gewisser Weise immer jene Unterwelt, die wir von Orpheus her kennen. Der Roman stellt sich aber auf ungeahnte Weise der Frage, wie man Eurydike, die nie selbst gesprochen hat, eine Stimme geben kann. Daß der Mythos dadurch in Richtung Eurydike verschoben wird, ist ein Teil der Grenzüberschreitung, die dieser Roman versucht.
In der Entwicklung des Autors Jirgl ist dies offenkundig ein Roman des Übergangs. Daß man aus seiner Vergangenheit nicht herauskommt, war immer ein Grundimpuls seines Schreibens: hier wird dies aber immerhin mit konkreten Ausbruchsversuchen bewiesen. Was der Frau glückt, die im ersten Kapitel als Schwester und im letzten als begehrtes Wesen, als Phantom erscheint, glückt in gewisser Weise auch dem Schriftsteller: im Verdämmern, allein in den Catskill Mountains, gelingt es ihm, sein Buch zuende zu schreiben. Und selbst sein Sohn, der am Schluß ins Unbekannte aufbricht, ist dadurch als eine jener neuen Existenzen gezeichnet, die virtuell überall leben können.
Die Welt scheint zwar nicht zu retten, aber sie ist größer geworden. Natürlich gebe es auch in New York ein Spießertum, heißt es einmal: "Nur, dieses Spießertum hier wird ununterbrochen von wildfreien Energien bis ins Fundament erschüttert -: ein Spießertum, dem von wirbelnden Kräften in dieser-STADT immerfort die Tüllgardine von den seelischen Fenstern weggerissen wird-."
Auch in der "Atlantischen Mauer" geht es um das, was einmal kurz und präzise "das Un-Glück-Geschichte" genannt wird. Daß es verblüffend viele Gemeinsamkeiten zwischen der DDR und den USA gibt, zwischen dem entindividualisierten Osten und den leeren weiten Feldern des Kapitals, kommt Jirgls Wahrnehmungskunst augenscheinlich zugute. Doch sein >Pointillismus der Nacht< ist noch lange nicht erschöpft. Das Nichts, das sich Jirgl wegschreibt, auf das er scheinbar zuschreibt, bringt immer neue glühende Farben hervor. Dem endgültigen Aus könnten noch etliche literarische Bollwerke im Wege stehen.