Christoph Schmitz: "Er markiert die Grenze des Menschen", mutmaßt die spanische Zeitung "El País" über den neuen Sprintweltrekord über 100 Meter. Der Jamaikaner Usain Bolt brauchte gestern nur 9,58 Sekunden bei der Leichtathletik-WM in Berlin. Die Kommentatoren überschlagen sich in Huldigung. "Der Standard" aus Österreich spricht von Schallmauerdimensionen. Bevor sich Bolt in den Startblock hockte, zeigte der Sprinter in den Himmel. Auf den Sportseiten liest man himmlische und fast hagiografische Metaphern, wie einen "Blitzschlag aus heiterem Himmel" oder "übermenschlich" oder "ein Außerirdischer" oder "nicht mehr von dieser Welt". Gefragt habe ich den Sportphilosophen Franz Bockrath von der Universität Darmstadt: Warum greifen wir bei Höchstleistungen gerne zu himmlischen Bildern?
Franz Bockrath: Nun, ich vermute, weil in der Tat ja etwas vollbracht worden ist, was dem Normalbürger so erst mal nicht zur Verfügung steht, auch nicht bei größter Anstrengung. Das scheint schon eine Ausnahmeleistung zu sein, egal wie sie jetzt zustande gekommen ist.
Schmitz: Darüber können wir gleich noch spekulieren, aber zuerst einmal die grundsätzliche Frage: Warum wollen Menschen eigentlich so gerne schnell laufen oder den Schnellläufern zusehen?
Bockrath: Ich glaube, die Frage kann man einbinden, weshalb Menschen sich dazu eignen, als Held verehrt zu werden. Und da bietet eine 100-Meter-Disziplin natürlich einen geeigneten Anlass. Dieses Ereignis, was ja von vier Millionen Menschen beobachtet wird, ist ja so etwas wie ein Showdown. Das heißt, in relativ kurzer Zeit passiert eine ganze Menge, was direkt beobachtbar ist für alle Zuschauer. Anders als beispielsweise bei einer Mannschaftssportart, die über 90 Minuten stattfindet, da passiert vergleichsweise wenig oder es passiert etwas, was nicht so direkt miteinander vergleichbar ist und so zugespitzt ist auf einen Punkt, auf einen neuralgischen Punkt. Und der neuralgische Punkt ist natürlich der Zieleinlauf.
Schmitz: Also der Kick ist diese komprimierte Fassung und Ballung und Auslebung von Energie, die aber einer langen Vorbereitung bedarf, die man über sehr lange Zeit beobachten kann, ja dennoch in den Vorbereitungsschritten, es gibt ja Vorläufe, Vorrunden und so weiter, aber dann, innerhalb von zehn Sekunden, passiert die ganze Welt.
Bockrath: Ja, nicht mal zehn Sekunden, seit gestern Abend wissen wir ja, dass man annähernd fünf Zehntel sogar schneller ist als zehn Sekunden, das ist schon erstaunlich.
Schmitz: Was steckte hinter dem Wunsch, diese Extremleistungen noch einmal zu überbieten, also das, was sich schon an der Grenze des Menschenmöglichen bewegt, noch einmal, auch wenn es nur um Bruchteile von Sekunden oder Zehntel oder Hundertstel Sekunden geht, zu toppen?
Bockrath: Also Sie können beim olympischen Motto eigentlich ansetzen: citius altius fortius - also schneller, höher, stärker. Das ist eigentlich die Aufforderung zum Superlativ. Und diese Logik findet sich natürlich im Leistungssport wieder, aber auch im Extremsport und zum Teil auch im Freizeitsport. Also es geht darum, die Leistungsgrenzen immer weiter nach vorne zu verschieben. Mit den Aussagen des Philosophen Peter Sloterdijk, der hat das vor Kurzem mal in einem Buch niedergeschrieben, er spricht hier von kulturellen Vertikalspannungen, und er meint damit eigentlich, dass in unserer Kultur es so etwas gibt wie Askesetechniken, Artistiken und Exerzitien, die uns dazu anleiten - sowohl in der Antike, aber auch in der Moderne -, uns immer weiter zu verbessern. Und der Sport ist sicherlich ein populäres Anwendungsfeld und so etwas wie massive Steigerungsbemühungen oder, wie Sloterdijk das dann nennt, Anthropotechniken und Disziplinierungsformen herauszubilden.
Schmitz: Sie sprachen Doping vorhin schon an - dass Menschen ihre natürlichen Fähigkeiten, also auch die physiologischen, versuchen auszuloten, ist ethisch wohl kaum bedenklich. Wie aber ist es dann zu bewerten, wenn er natürliche oder synthetische Substanzen einsetzt, um seinen Körper zu optimieren? Man könnte ja auch sagen, weil Sie schon Sloterdijk ansprachen, dass auch gentechnische Veränderungen vorstellbar sind, die den Läufer noch schneller machen. Also der freie Mensch züchtet sich nach eigenem Maßstab zu höheren Leistungen selbst?
Bockrath: Ja, also hier sind natürlich Ähnlichkeiten mit der Maschinisierung des Körpers nicht nur vorstellbar, sondern sie finden tatsächlich statt. Und Doping, also die Dopinglisten sind ja eigentlich nur ein Merkmal von diesen Steigerungsbemühungen des Menschen. Sie können die Dopingproblematik natürlich erweitern, indem Sie fragen, inwieweit physiologische Techniken, Trainingstechniken, psychologische Selbststeigerungstechniken, aber auch technologische Unterstützung wie die Erfindung von neuen Sportgeräten, die technologische Unterstützung von Trainingsmaßnahmen, inwieweit solche Maßnahmen nicht auch eigentlich unter den Begriff des Dopings zu fassen wären. Wenn man einen solch weiten Begriff des Dopings ansetzt, dann fallen sozusagen diese ganze moderne Maschinerie der Bearbeitung des Körpers mittels technologischer Möglichkeiten in dieses Feld.
Schmitz: Es gab andere Phasen der Sportkultur. Wo war denn der Wettbewerb mal weniger im Vordergrund, oder stand er nie so im Vordergrund, sondern immer das Gemeinschaftserlebnis, die Faszination?
Bockrath: Nun, in der Antike ist ja der Olympiasieger nicht Herr seiner eigenen Leistung gewesen, sondern man ging davon aus, dass die Olympiasieger immer von den Göttern begünstigt waren. Das haben wir heute natürlich nicht mehr, heute ist der Sport vollständig säkularisiert. Bei Pierre de Coubertin finden Sie so etwas noch, wenn er von seiner Muskelreligion beispielsweise spricht, aber heute spielt das keine Rolle mehr. Sport, Sportevent, das ist sozusagen Teil einer großen Maschinerie und hat überhaupt keine sakralen Bezüge mehr.
Schmitz: Der Philosoph Franz Bockrath über Geschwindigkeitssport und die Weltmeisterschaft in Berlin.
Franz Bockrath: Nun, ich vermute, weil in der Tat ja etwas vollbracht worden ist, was dem Normalbürger so erst mal nicht zur Verfügung steht, auch nicht bei größter Anstrengung. Das scheint schon eine Ausnahmeleistung zu sein, egal wie sie jetzt zustande gekommen ist.
Schmitz: Darüber können wir gleich noch spekulieren, aber zuerst einmal die grundsätzliche Frage: Warum wollen Menschen eigentlich so gerne schnell laufen oder den Schnellläufern zusehen?
Bockrath: Ich glaube, die Frage kann man einbinden, weshalb Menschen sich dazu eignen, als Held verehrt zu werden. Und da bietet eine 100-Meter-Disziplin natürlich einen geeigneten Anlass. Dieses Ereignis, was ja von vier Millionen Menschen beobachtet wird, ist ja so etwas wie ein Showdown. Das heißt, in relativ kurzer Zeit passiert eine ganze Menge, was direkt beobachtbar ist für alle Zuschauer. Anders als beispielsweise bei einer Mannschaftssportart, die über 90 Minuten stattfindet, da passiert vergleichsweise wenig oder es passiert etwas, was nicht so direkt miteinander vergleichbar ist und so zugespitzt ist auf einen Punkt, auf einen neuralgischen Punkt. Und der neuralgische Punkt ist natürlich der Zieleinlauf.
Schmitz: Also der Kick ist diese komprimierte Fassung und Ballung und Auslebung von Energie, die aber einer langen Vorbereitung bedarf, die man über sehr lange Zeit beobachten kann, ja dennoch in den Vorbereitungsschritten, es gibt ja Vorläufe, Vorrunden und so weiter, aber dann, innerhalb von zehn Sekunden, passiert die ganze Welt.
Bockrath: Ja, nicht mal zehn Sekunden, seit gestern Abend wissen wir ja, dass man annähernd fünf Zehntel sogar schneller ist als zehn Sekunden, das ist schon erstaunlich.
Schmitz: Was steckte hinter dem Wunsch, diese Extremleistungen noch einmal zu überbieten, also das, was sich schon an der Grenze des Menschenmöglichen bewegt, noch einmal, auch wenn es nur um Bruchteile von Sekunden oder Zehntel oder Hundertstel Sekunden geht, zu toppen?
Bockrath: Also Sie können beim olympischen Motto eigentlich ansetzen: citius altius fortius - also schneller, höher, stärker. Das ist eigentlich die Aufforderung zum Superlativ. Und diese Logik findet sich natürlich im Leistungssport wieder, aber auch im Extremsport und zum Teil auch im Freizeitsport. Also es geht darum, die Leistungsgrenzen immer weiter nach vorne zu verschieben. Mit den Aussagen des Philosophen Peter Sloterdijk, der hat das vor Kurzem mal in einem Buch niedergeschrieben, er spricht hier von kulturellen Vertikalspannungen, und er meint damit eigentlich, dass in unserer Kultur es so etwas gibt wie Askesetechniken, Artistiken und Exerzitien, die uns dazu anleiten - sowohl in der Antike, aber auch in der Moderne -, uns immer weiter zu verbessern. Und der Sport ist sicherlich ein populäres Anwendungsfeld und so etwas wie massive Steigerungsbemühungen oder, wie Sloterdijk das dann nennt, Anthropotechniken und Disziplinierungsformen herauszubilden.
Schmitz: Sie sprachen Doping vorhin schon an - dass Menschen ihre natürlichen Fähigkeiten, also auch die physiologischen, versuchen auszuloten, ist ethisch wohl kaum bedenklich. Wie aber ist es dann zu bewerten, wenn er natürliche oder synthetische Substanzen einsetzt, um seinen Körper zu optimieren? Man könnte ja auch sagen, weil Sie schon Sloterdijk ansprachen, dass auch gentechnische Veränderungen vorstellbar sind, die den Läufer noch schneller machen. Also der freie Mensch züchtet sich nach eigenem Maßstab zu höheren Leistungen selbst?
Bockrath: Ja, also hier sind natürlich Ähnlichkeiten mit der Maschinisierung des Körpers nicht nur vorstellbar, sondern sie finden tatsächlich statt. Und Doping, also die Dopinglisten sind ja eigentlich nur ein Merkmal von diesen Steigerungsbemühungen des Menschen. Sie können die Dopingproblematik natürlich erweitern, indem Sie fragen, inwieweit physiologische Techniken, Trainingstechniken, psychologische Selbststeigerungstechniken, aber auch technologische Unterstützung wie die Erfindung von neuen Sportgeräten, die technologische Unterstützung von Trainingsmaßnahmen, inwieweit solche Maßnahmen nicht auch eigentlich unter den Begriff des Dopings zu fassen wären. Wenn man einen solch weiten Begriff des Dopings ansetzt, dann fallen sozusagen diese ganze moderne Maschinerie der Bearbeitung des Körpers mittels technologischer Möglichkeiten in dieses Feld.
Schmitz: Es gab andere Phasen der Sportkultur. Wo war denn der Wettbewerb mal weniger im Vordergrund, oder stand er nie so im Vordergrund, sondern immer das Gemeinschaftserlebnis, die Faszination?
Bockrath: Nun, in der Antike ist ja der Olympiasieger nicht Herr seiner eigenen Leistung gewesen, sondern man ging davon aus, dass die Olympiasieger immer von den Göttern begünstigt waren. Das haben wir heute natürlich nicht mehr, heute ist der Sport vollständig säkularisiert. Bei Pierre de Coubertin finden Sie so etwas noch, wenn er von seiner Muskelreligion beispielsweise spricht, aber heute spielt das keine Rolle mehr. Sport, Sportevent, das ist sozusagen Teil einer großen Maschinerie und hat überhaupt keine sakralen Bezüge mehr.
Schmitz: Der Philosoph Franz Bockrath über Geschwindigkeitssport und die Weltmeisterschaft in Berlin.