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Die Aufklärung und ihre Wissenslücken

Der entscheidende Wahlspruch der Aufklärung, so meinte Immanuel Kant, sei die Forderung: "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Noch heute gilt die Aufklärung als das Zeitalter des Wissens und des Verstandes. Aber wird dieses Bild der damaligen Epoche gerecht? Was ist mit dem Nichtwissen, dass es damals fraglos auch gab? Diese Fragen haben internationale Wissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg diskutiert.

Von Barbara Leitner | 28.08.2008
    "Es gibt immer noch eine Menge von Klischees über die Aufklärungszeit. Die heißen übertriebener Rationalismus, Positivismus, falscher Universalismus, Zentrismus."

    Claudia Brodsky ist Professorin für vergleichende Literatur an der Universität Princeton und eine der Wissenschaftlerinnen, die sich in besonderer Breite mit der europäischen Literatur und Philosophie des 18. Jahrhunderts auseinandersetzt.

    "Wir sind jetzt so weit, dass wir die Aufklärung als die Epoche des Fragenstellens und auch des ehrlichen Fragenstellens sehen. Ich möchte wohl wissen und ich werde Versuche machen, ganz empirisch oder Hypothesen vorlegen. Im Moment der großen Informatik hilft es auch nicht, weil wir müssen alles so schnell wie möglich wissen. Aber das Reflektieren über das, was man nicht weiß und deshalb wissen wollen soll, stammt meiner Meinung nach aus dieser Zeit."

    Mit diesem Ansatz nähern sich die Wissenschaftler einer Neubestimmung der Zeit des geistigen Aufbruchs im 17. und 18. Jahrhundert. Vor allem nach Horkheimers und Adornos "Dialektik der Aufklärung" schien die Epoche ein für alle mal beschrieben. Durch die Beschränkung auf die instrumentelle Vernunft - so die beiden Frankfurter - sei die Aufklärung gescheitet. Doch da bis heute diese Philosophie als eine entscheidende Berufungsinstanz modernen Wissens gilt, lohnt es sich erneut zu fragen: Was wusste die Aufklärung und was wusste sie nicht.

    Zunächst fällt dabei das große Unwissen in der Bevölkerung vor 200 Jahren auf. Es hemmte die Entwicklung des Staates und musste überwunden werden.

    "Zum Beispiel im Ackerbau bestimmte Techniken, Straßenbau, Ofenbau, Hausbau und dergleichen. Das ist Wissen im praktischen Bereich, das schlicht und einfach hilft, das Leben, den Lebensstandard zu verbessern. Das wäre ein qualitatives Problem. Ich muss ein System aufbauen, in dem ich dem größten Teil der Bevölkerung Wissen vermitteln kann - was wir heute als Schulsystem kennen."

    Hans Adler, Professor für deutsche und vergleichende Literatur an der Universität Wisconsin-Madison, Herder-Spezialist und heute vor allem zu Fragen der politischen Aufklärung tätig. Er erwähnt die Gründung von Universitäten und Akademie in dieser Zeit. Durch beide sollte Wissen verbreitert und zugleich ein aufgeklärter Bürger erzogen werden, der in der Lage ist, die komplexen Gesellschaftszusammenhänge zu durchschauen und verantwortlich zu handeln. In Abgrenzung zum Glauben wurde ein Wissensbegriff definiert. Zwar enthielt der bereits die Erkenntnis, dass das Nichtwissen nicht restlos beseitigt werden kann, das Nichtwissen immer ein Element des Wissenspotenzials eines Menschen sein wird. Dennoch wünschte man sich die Welt überschaubar und vorhersehbar.

    "Und es ist nicht zufällig, dass im 18. Jahrhundert die Wahrscheinlichkeitstheorie mit ihren Anwendungen eine Blüte erlebt hat und an Ende diese Überlegungen steht der überragende Mathematiker und Philosoph Laplace, der die Wahrscheinlichkeitsrechnung definiert hat als Rechnung des gesunden Menschenverstandes. Das finde ich eine sehr hübsche Formulierung. Wir alle habe ein Gefühl dafür, was vernünftig ist, wenn man etwas nicht weiß, aber ahnt und was nicht. Man geht also nicht beliebige Risiken ein."
    Eberhard Knobloch, Professor für Wissenschafts- und Technikgeschichte an der Technischen Universität Berlin. Mit der Aufklärung gewannen mathematische Verfahren einen Aufwind und bis heute gilt mathematisches Wissen als sicheres Wissen. Damit - so die Definition - können Risiken in einem vernünftigen Sinne abgewogen werden. Das war notwendig, um die komplexen Staatsgebilde in den sich formierenden Nationalstaaten Europas zu lenken und zu leiten.
    "Die versteckte Seite von all diesem war natürlich die Scheidung von Europa als die zivilisierte Gegend der Welt und das Andere als ganz unterdrückt. Und das ist heute weniger und weniger denkbar. In gewissen Sinne: Die Aufklärung kommt aus China, Indien und so weiter. Aber die selbstkritische Umkehr der europäischen Aufklärung auf seine eigene Geschichte und Entstehung ist absolut entscheidend für die kommenden Zeiten."

    Etienne Balibar, emeritierter Professor für Philosophie der Universität Paris Nanterre. Er beschäftigt sich mit Fragen des europäischen Selbstverständnisses. Das wurde maßgeblich durch die Aufklärung geprägt. Allerdings erlebte es mit dem 11. September 2001 eine entscheidende Zäsur. Das, was bisher als vernünftig oder unvernünftig, als rational oder irrational galt, geriet durch die Selbstmordanschläge der islamischen Terroristen ins Wanken.

    "Und wir haben schlecht festgestellt, dass in anderen Kulturen Dinge als Wissen gelten, als gewiss gelten, als Grundlagen für gesellschaftliches Handeln, die im europäischen Kontext nicht akzeptiert sind. Und um da Kommunikation in Gang zu bringen, ist eine Selbstreflexion - ich halte diese Tagung für eine Form von Selbstreflexion auf unseren Wissensbegriff. Das ist eine Selbstvergewisserung des Wissens und der Grenzen des eigenen Wissens und gleichzeitig der Versuch, die Kommunikation mit anderen Denkmodellen herzustellen."

    Wie können auch heute Aufklärung, Religion und Wissen einander in rationaler Weise ergänzen, statt irrational miteinander zu streiten, fragen sich die Wissenschaftler der verschiedenen Disziplinen - und lesen die Texte großer Aufklärer wie Kant, Rousseau oder Diderot neu.

    Dabei zeigt sich, dass deren Suche nach der Wahrheit oft missverständlich interpretiert wurde. Sie kannten durchaus die inneren Grenzen der Rationalität, und das Nichtwissen half, das Profil der Aufklärung zu bestimmen. Hans Adler.

    "Ideal aufklärerischen Wissens ist, ich weiß etwas, indem ich klar und deutlich die Beschreibung eines Sachverhaltes geben kann. Nun Leibnitz hat eine Hierarchie aufgestellt der verschiedenen Grade der Erkenntnis. Und die Vorgabe, die Leibnitz macht, ist, das zwei Drittel oder drei Viertel die nicht klar und deutlich sind, das heißt also, mit Elementen des Nichtwissen behaftet sind. Und es gibt dann Disziplinen, die sich genau diesen Bereich des undeutlichen Wissens annehmen."

    Das sind beispielsweise die Ästhetik, die sich in der Aufklärung noch als die Wissenschaft des undeutlichen Erkennens definiert, oder die Anthropologie, die sich dem menschlichen Vermögen unter verschiedenen kulturellen Bedingungen zuwendet. Auch die Psychologie beginnt, ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das menschliche Wesen zu beobachten und sein Unbewusstes zu entdecken.

    All das sind Formen des Nichtwissens - mit dem es seine Bedrohung verlor. Ähnlich neu muss - trotz der Säkularisierung - das Verhältnis der Aufklärung zu Glauben und Religion gesehen werden. Claudia Brodsky.

    "Die Idee, dass Religion vielleicht nicht angeboren sei, aber vielleicht ein Teil des angelernten menschlichen Bewusstseins sei, und dass man irgendwie das, mit dem politischen Zustand des Bürgers vermitteln muss, das kommt mit der Aufklärungszeit. Weil man den Staat denken muss, muss man auch den Nichtstaat, wie es war - Religion war Staat und kann immer noch Staat werden, wie wir jetzt sehen, diese Scheidung Staat und Glauben, wegen des modernen Staates. Es gab verschiedene Art, den modernen Staat zu denken in der Aufklärungszeit - und deshalb auch die Beziehungen und Theorie von Beziehungen zwischen Kreativität, Literatur, Ästhetik, Epistomologie und Religion und den sozialen Zustand des Menschen. Das alles kam in Frage und musste theoretisiert sein. Man konnte nicht einfach sagen, wir werden sehen, wie das alles ausfällt. Wie heutzutage. Es war eine dringende Zeit."

    In Auseinandersetzung mit der Religion entwickelten sich im 18. Jahrhundert neue Aushandlungsformen mit dem Glauben. Glauben wurde nicht nur als Teil des Nichtwissens identifiziert und bekämpft. Beim genauen Lesen alter Texte bemerken die Forscher: Die Aufklärung wertete die Vernunft auf, ohne die Religiosität abzuwerten. Das zu erkennen, kann helfen, Antworten auf die gegenwärtigen weltweiten Spannungen zwischen Aufklärung, Religion und Wissenschaft zu finden. Denn eines lehrte die Tagung. Eberhard Knobloch:

    "Wenn wir von Wissensgesellschaft sprechen, müssen wir auch den Gegenbegriff thematisieren, die Lücken. Das tun wir jetzt: das Nichtwissen - und wie man damit umgeht."