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Die Ausbeutung Südamerikas

In den 80er-Jahren war Bürgerkrieg in Mittelamerika. Zigtausende Menschen starben, "verschwanden" spurlos, verließen ihre Heimat. Was das für Kinder bedeutete, erzählt der US-Regisseur John Sayle in seinem Film "Casa de los Babys - Haus der verlorenen Kinder" von 2003, der jetzt auch in Deutschland angelaufen ist.

Von Josef Schnelle | 02.01.2010
    Es handelt sich wohl um Mexiko, doch das offensichtlich lateinamerikanische Land, in das sechs kinderlose US-Frauen - weiß und wahrscheinlich mehr oder weniger wohlhabend reisen - wird nicht näher benannt. Im Casa de los Babys, so heißt das Hotel von Senora Munez, warten sie auf die Adoption eines Babys aus dem örtlichen Waisenhaus. Das Warten zieht sich in die Länge, eine zähe Bürokratie will bewältigt werden und gibt Regisseur John Sayles die Gelegenheit, die Psychogramme der Adoptionstouristinnen auszubreiten, die ihre häuslichen Probleme natürlich mitgebracht haben. Ein typischer Streit unter den klatschenden und tratschenden Frauen, die zwischen dem oberflächlichen Gerede dann doch nach und nach ihre wahren Geheimnisse preisgeben, dreht sich um die Außenseiterin Leslie. Sie hat ein Intimtattoo.
    "Sie ist erst 30 - wie kann sie die Männer schon satthaben?" - In Wahrheit ist sie 'ne Lesbe." - Ist sie nicht. - "Sie verhält sich aber so." - Hast du ihr Tattoo gesehen?" "Man kann doch gar nichts sehen. Sie trägt ja nicht mal einen Badeanzug wie jede andere normale Frau."

    Regisseur John Sayles repräsentiert das politische Gewissen der amerikanischen von Hollywood unabhängigen Filmemacher und ist mit seinen schonungslosen Gesellschaftsporträts mit Themen wie Bodenspekulation, alltäglicher Rassismus und sozialer Wurzellosigkeit in der Großstadt bekannt geworden. Diesmal beschäftigt er sich mit der Adoptionsindustrie, die durch prominente Fälle wie denen von Madonna und von Angelina Jolie in die Schlagzeilen geraten ist. Das Phänomen ist weltweit verbreitet: Wohlhabende Mütter aus reichen Metropolen adoptieren zum Teil illegal Kinder aus den armen Ländern der Dritten Welt. Für die US-Amerikanerinnen steht Mexiko als Reservoir des "Rohstoffs Baby" im Mittelpunkt. Der Film macht es sich aber nicht so einfach, die Adoptionstourismus schlicht als besonders scheußliche Variante von Ausbeutung und Imperialismus zu schildern. Er zeigt auch die andere Seite: Mütter, die sich nicht in der Lage fühlen, für ihre Babys zu sorgen und ihnen durch die Adoptionsfreigabe ein besseres Leben ermöglichen wollen; Straßenkinder, die von ihren Eltern verlassen wurden und ein elendes Leben fristen; örtliche Polit-Aktivisten, die ihr ideologisches Süppchen auf dem Problem kochen. Und natürlich die skrupellosen Profiteure des Systems wie Hotelbesitzerin und Vermittlerin Senora Munoz, die schon Hunderte solcher Frauen aus Amerika mit einem brennenden Kinderwunsch hat kommen und gehen sehen. Das Babygeschrei aus dem Kinderheim ist zugleich berührend wie lockend.

    Jede der Frauen hat ihre Geschichte, in der Abtreibungen, Fehlgeburten, Unfruchtbarkeit und Fehler in der Lebensplanung eine Rolle spielen. Sie sind - aus verschiedenen Lebensumständen kommend - auch ein Miniaturmodell der US-amerikanischen Gesellschaft. John Sayles hat es geschafft, für diese Geschichte ein ganz besonderes Schauspielerinnenensemble zu gewinnen, das jeden roten Teppich der Welt schmücken würde und für einen kleinen unabhängigen Film eigentlich unbezahlbar ist. Neben Daryl Hannah, Mary Steenburgen, Lili Tayler und Maggie Gyllenhaal ist auch Rita Moreno als Hotelbesitzerin Senora Munoz zu sehen. 1961 gewann die Puerto-Ricanerin mit ihrem Auftritt in "West Side Story" als erste Frau aus Lateinamerika einen Oskar. Mit souveräner Meisterschaft, die man so sonst nur noch von Robert Altman, dem anderen großen unabhängigen US-Regisseur kannte, führt uns John Sayles durch die Zickenkriege am Pool und das Meer der Tränen, das diese Frauen durchwatet haben, um an diesen Punkt ihres Lebens zu gelangen. Doch auch die Arroganz der Menschen aus den mächtigen Metropolen und deren sorglose Ignoranz gegenüber fremden Kulturen blitzen immer wieder auf. Ein Film, der die Vielschichtigkeit einer soziografischen Studie mit der emotionalen Dichte eines engagierten Melodrams vereint.